Ist der Liberalismus eine materialistische Philosophie?
Beim Begriff Sozialismus denken viele an zwischenmenschliche Wärme, Solidarität und Zusammenhalt. Sozialismus ist das warme Lagerfeuer, um das sich die Gemeinschaft versammelt. Jenen, die es am meisten nötig haben, wird geholfen.
Beim Konservativismus wiederum stehen traditionelle Werte, Familie, Hierarchien und Religion im Vordergrund, die ein geordnetes Miteinander ermöglichen.
Im Gegensatz dazu halten viele den Liberalismus für eine materialistische Philosophie. Die Forderung nach gesichertem Privateigentum ziele letztlich nur auf die egoistische Verteidigung der eigenen materiellen Besitztümer ab, während Solidarität und Allgemeinwohl hintanstehen müssten.
Was entgegnen Liberale auf diese Vorwürfe?
Den meisten Liberalen ist klar, dass der Liberalismus zwar keine hinreichende, aber eine notwendige Bedingung für ein glückliches Leben aller darstellt. Ohne individuelle Freiheit in Form von Abwehrrechten wäre es unmöglich, alle Menschen zufriedenzustellen. Warum? Weil Menschen zwar alle miteinander verbunden sind, sich aber dennoch charakterlich stark voneinander unterscheiden. Menschen haben nun einmal unterschiedliche Präferenzen, Bedürfnisse und Lebensziele. Gestehen wir den Einzelnen keine Freiräume zu und bevormunden wir sie stattdessen durch eine kollektive Gewalt, sind Unglück, gesellschaftliche Konflikte und Spaltung vorprogrammiert.
Wenn Liberale aus diesen Gründen das Privateigentum als wichtigstes Abwehrrecht verteidigen, denken sie nicht nur an materielle Besitztümer wie Geld, Autos und Uhren, sondern an die Achtung der Menschenwürde, Gewaltverzicht und Frieden. Am Ursprung des Privateigentumgedankens stehen der eigene Körper und die Seele. Liberale glauben, dass der Körper im materiellen Diesseits demjenigen gehört, der ihn direkt steuert, also jedem Einzelnen.
Natürlich kann man darüber philosophieren, ob wir tatsächlich die Eigentümer unserer Körper sind oder ob diese uns nur von einer höheren Macht verliehen wurden. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass andere Menschen kein Recht haben, mit Gewalt und Drohung auf andere einzuwirken, um sie zu einem Verhalten zu zwingen, zu dem sie sich ohne solche Übel nicht freiwillig entschieden hätten.
Freiheit als Grundbedingung
Der Liberalismus ist, wie erwähnt, keine hinreichende, aber eine notwendige Bedingung für ein glückliches Leben aller. Natürlich braucht es für Glück nicht nur individuelle Freiheit, aber ohne Freiheit ist keine Verwirklichung der ureigenen Träume möglich – unabhängig davon, ob diese materieller oder immaterieller Natur sind. Hinzu kommen verschiedenste Werte und Lebensprinzipien (z.B. dass man andere nicht manipuliert), die Auswirkungen auf die Reinheit unseres Gewissens und unser Glück haben, auch Liebe und Spiritualität, wobei es hier Unterschiede von Person zu Person geben mag.
Nur weil der Liberalismus sich nicht in diese Angelegenheiten einmischt und es jedem selbst überlässt, was er mit seiner Freiheit anstellen will – solange er die Freiheit der anderen respektiert –, bedeutet das nicht, dass er eine materialistische Philosophie ist. In einer freiheitlichen Gesellschaft kann man zwar einem plumpen Materialismus frönen. Aber man kann sich geradeso gut auch anders entscheiden. ♦
von Olivier Kessler
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Olivier Kessler ist Direktor des Liberalen Instituts. Er ist Co-Autor von «64 Klischees der Politik: Klarsicht ohne rosarote Brille» sowie Autor und Mitherausgeber u.a. der Bücher «Wissenschaft und Politik: Zuverlässige oder unheilige Allianz?» und «Verlockung der Macht: Die Kunst, die offene Gesellschaft zu verteidigen».
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