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Monat: Dezember 2022

Betrachtungen im Dom zu Arlesheim

Im Baselbiet in Arlesheim steht ein wunderschöner Dom. 1679 bis 1681 erbaut, erhielt sein Innenraum 1759 bis 1761 ein neues, von Tessiner und Venezianischen Künstlern gestaltetes Gesicht. Das von ihnen geschaffene Ensemble wurde vor wenigen Jahren sorgfältig renoviert. Der erhebende Anblick dieses Gesamtkunstwerks – das man sich von Musik erfüllt vorstellen darf –, regt mich an, einige seiner Qualitäten näher anzuschauen.

Die hier verwirklichte Stileinheit von Architektur, Malerei und Plastik stammt aus jener Epoche, in der monarchische Gesellschaftsstrukturen – die sich wenig später aufzulösen begannen – noch bestanden. Die von der Kirche vermittelte Lehre wurde von den Gläubigen noch als ein tiefsinniges Bild des Universums verstanden und weitgehend mitgetragen. Die im Dom gemalten oder in Stuck (einem Gemisch aus Gips und Marmorpulver) modellierten Gestalten aus Bibel und Mythos können uns heute, wo nur noch Zahlen «modelliert» werden, erfreuen und berühren.

Gleichzeitig stellen sich mir angesichts eines solchen Bauwerks Fragen: Kann das Lebensgefühl, das diesen Innenraum durchdringt, sich mir mitteilen, oder bleibt es mir fremd? Bin ich nicht vielleicht «gegen» eine solche Prachtentfaltung, die mancher als theatralische Inszenierung eines vereinnahmenden Katholizismus bezeichnen würde? Auch ich kann für Momente diesen Rokoko-Stil in kritischer Weise sehen – frage mich aber, was mich daran trotzdem so sehr anzieht?

Ich wohne in der nahe gelegenen Stadt. Dort wurden in letzter Zeit grosse und riesengrosse Bauten hochgezogen. Es sind Häuser oder Türme in Form von Quadern (allenfalls schräg angeschnitten oder abgetreppt), deren Fassaden mit gleichmässigen Gittern gerastert sind. Die Masseinheit, die diesen Gitterstrukturen zugrunde liegt, ist ebenfalls so gross, dass – mit ihr verglichen – das Mass der Menschen (ca. 170 cm Höhe), die sich im Bereich dieser Immobilien bewegen, als winzig erlebt wird. Auch wenn ich das eine oder andere dieser Bauwerke gelungen, dessen Design im Einzelfall schön finden kann, stelle ich doch fest, dass sie, aufgrund dieser wenig differenzierten Massstäblichkeit, in ihrem jeweiligen Stadtquartier stehen, ohne mit ihm verbunden, ohne in ihm verankert zu sein. Die im Stadtgefüge übrig gebliebenen älteren Häuser nähern sich – mit den bei ihrer Gestaltung angewandten Skalen verschiedener Gross- und Kleinformen – dem menschlichen Mass an, während sie neben den grossgerasterten Neubauten nun wie «geschrumpft» – und die Passanten sogar «verzwergt» – wirken.

Was bei einem Neubau meistens fehlt, sind Formelemente, die ausreichend klein sind, um Grund-Mass zu sein, um mit dessen Hilfe das Gesamtmass des Baus ermessen zu können – und um dessen Grösse in Beziehung zur eigenen Körpergrösse sehen zu können (Beispiel einer diesbezüglich geglückten Gestaltung ist die Fassade des 2016 eingeweihten Basler Kunstmuseums).

Der Arlesheimer Dom hingegen lebt von der Spannung zwischen der real gegebenen Höhe und Breite des Kirchenraums und den bei den Wandornamenten wie auch innerhalb der Malereien verwendeten sehr kleinen Form-Teilen. Somit bieten all diese architektonischen, skulpturalen und malerischen Gestaltungen ein äusserst reiches Spektrum verschiedenster Form-Grössen an. …

von Manfred E. Cuny


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Ich verurteile niemanden – ich stelle vor allem Fragen

Er spielt auf dem Bundesplatz genauso wie in Gartenbeizen oder auf Campingplätzen: Der Berner Liedermacher Boris Bittel. Sein Motto: Alles anders als alle andern.

Eigentlich hätte sein erstes Album Anfang 2020 erscheinen sollen, gemeinsam mit der Premiere des Schweizer Dokumentarfilms «Verdinger». Aber wir wissen alle, was dann geschah. Corona hat alles blockiert: «Du sitzt zu Hause auf deiner Debüt-CD rum, willst die schon lange rausgeben, und es klappt nicht.» Das sei schon frustrierend gewesen, erzählt Boris Bittel. Bremsen liess sich der Musiker dadurch nicht. Aktuell hat er viele Auftritte mit seinem Programm «Gschichte us em Lääbe». Daneben arbeitet der Berner zu 100 Prozent als Immobilienbewirtschafter.

Bittel geht nicht den klassischen Weg. Normal nehme man ja eine CD auf und gehe damit auf Tour. Er hingegen bringt die neuen Lieder lieber live unter die Leute. Ein Booking, Plattenlabel oder Management hat er nicht: «Ich bin unabhängig unterwegs und möchte unabhängig bleiben», sagt Bittel. «Mein Motto sind die 5A’s: Alles anders als alle andern.» Auch das macht ihn so sympathisch.

Boris Bittel will dort spielen, wo es für ihn stimmt: Zum Beispiel bei Martin Haslers Buchpräsentation von «Im Hexenkessel der Bundeshaus-Medien». Bei einem Graswurzle-Anlass. In Kirchgemeinden, an Altersnachmittagen. Es seien Leute von querbeet, die ihn buchen würden. Ob er nicht in eine bestimmte Schublade gesteckt wird? «Wenn ich kritische Lieder bringe, werde ich automatisch in eine Schublade gesteckt. Ich habe aber nicht nur kritische, sondern auch lustige Lieder.» Bittel singt über alles, was ihn beschäftigt. Über den bekannten Treffpunkt «Loebegge» in Bern genauso wie über unser Verhältnis zum Mobiltelefon («Händy»). Dabei stellt der autodidaktische Musiker vor allem Fragen – das sei ein gutes Werkzeug, um die Leute zum Denken anzuregen …

von Nadine Meier


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Liebe ist Heilung

Geistiges Heilen und Handauflegen gehören zu den ältesten und natürlichsten Heilmethoden. Jeder trägt das Potenzial dazu in sich, sagt Matthias A. Weiss. Der ehemalige evangelisch-reformierte Pfarrer hat sich ganz dem Mysterium des Heilens verschrieben und zeigt, wie man diese Kunst selbst erlernen kann.

«DIE FREIEN»: Matthias A. Weiss, wie sind Sie als Theologe zum Heilen gekommen?

Matthias A. Weiss: Das ist eine gute Frage! Wenn man mir das vor 20 Jahren angeboten hätte, hätte ich gesagt, dir piepts wohl! Habe ich mir das ausgesucht? Ja und nein. Schliesslich glaube ich, dass es nicht ein Entscheid gegen das Pfarramt war, sondern ein Entscheid für etwas, das mich noch mehr fesseln konnte und mich noch fester und stärker zu begeistern vermag.

Schon als Kind wollten Sie mit den Händen arbeiten?

MW: Ja, von daher wurde mir das geistige Heilen in die Wiege gelegt. Nur hatte ich als junger Mensch keine Ahnung, wie ich meine Begabung einst einsetzen könnte. Am ehesten sah ich mich nach dem Studium bei der Arbeit mit Holz. Ich arbeitete dann als Pfarrer für Gehörlose und Hörbehinderte. Bei ihnen durfte ich lernen, dass es viel mehr an Kommunikation zwischen Himmel und Erde gibt als nur diejenige des gesprochenen Wortes. Doch ich war unzufrieden, weil es nicht das war, was mir wirklich entsprach. Die akademische und kirchliche Welt wurde mir zunehmend fremder.

Dann stiessen Sie auf die renommierte Heilerin Renée Bonanomi.

MW: Ja, sie war meine beste Lehrerin. Bei ihr durfte ich diese wunderbar einfache und natürliche Art des Heilens kennenlernen. Und mit der Entdeckung meiner geistheilerischen Fähigkeiten war ich auch an den Punkt gelangt, wo ich endlich meine Berufung gefunden hatte.

Wie sind Sie denn zu Renée Bonanomi gekommen?

MW: Die kürzeste Antwort darauf lautet: Es musste so sein. Denn wenn man nicht das tut, was einem entspricht, ist man unzufrieden. Wenn du in den Schuhen von jemand anderem läufst, kannst du nicht zufrieden werden und sein. Und meine Schuhe sind halt diejenigen des Heilens.

2005 machten Sie sich dann selbstständig als Heiler und verliessen das Pfarramt.

MW: Ja, und dies mit dem Gefühl: Endlich lebst du das, wonach du fast 30 Jahre lang gesucht hast! Seither arbeite ich als freischaffender Theologe, der den Menschen durch Handauflegen hilft.

Sie bieten einen Lehrgang «Heilen» an, in dem Sie zeigen, wie man selbst heilerische Fähigkeiten entwickeln kann.

MW: Ja. Und was wir dort erleben dürfen, ist einfach jenseits jeglicher Erfahrungen, welche ich je in einer Kirche machen konnte. …


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Als sich die Welt an einer roten Badehose entzündete

Rückblickend ist es mir etwas peinlich, dass ich so viel Aufsehen erregte, an jenem windigen Ferientag am Strand von Jávea in Spanien. Und dass mich ausgerechnet der von mir oft kritisierte Bundesrat aus meiner misslichen Lage befreite, macht es auch nicht gerade besser.

Es waren höhere Wellen als üblich und die Strömung kann ja durchaus tückisch sein. Bei gleichen Bedingungen weht am Atlantik die grüne Fahne, aber hier am Mittelmeer spricht man von einem Orkan, sobald die Wellen höher als 30 Zentimeter werden und ein Schaumkrönchen tragen. Folgerichtig wehte an diesem Tag am Strand die rote Fahne. Badeverbot. Im Meer. Wie soll das gehen? Ich habe keinen Vertrag mit dem Bademeister abgeschlossen, gehöre mir selbst, und das Rote Kreuz hat zwar einen jungen Mann als Bademeister angestellt, ist aber nicht Eigentümerin des Mittelmeers.


So tollte ich der roten Fahne zum Trotz als Einziger durch die Wellen, die etwas energischer als üblich an den Strand schlugen. Das machte Spass, aber nicht lange. Der Bademeister war recht freundlich, obwohl er von seinem hohen Ausguck heruntersteigen musste. Er erklärte mir, dass die Wellen zu hoch und die Strömung zu stark seien und ich deshalb nicht im Meer baden dürfe. Er war es offensichtlich gewohnt, dümmlichen Touristen die Bedeutung der roten Flagge erklären zu müssen. Ich bedankte mich für den Hinweis, und erklärte meinerseits, dass ich keinen Vertrag mit ihm oder seinem Arbeitgeber hätte und ich es bevorzuge, selbst zu entscheiden, wann ich im Meer bade und auch keinerlei Erwartung an ihn hätte, mich zu retten, so ich denn aufgrund meiner eigenen Entscheidung in Nöte geraten sollte. Das war offensichtlich eine Antwort, die der Bademeister von anderen Touristen normalerweise nicht erhält. Verdutzt schaute er mich an und erklärte, dass die rote Flagge nicht etwa eine Bitte oder eine Empfehlung sei und ich seiner Aufforderung nachkommen müsse.


Nun ist ja mit dem Roten Kreuz nicht zu spassen, wie wir aus der Geschichte wissen. Diese fragwürdige Organisation hat ja schon einiges auf dem Kerbholz – nicht nur in der jüngeren Geschichte, als das spendenfinanzierte Rote Kreuz eine experimentelle Gentherapie förderte! Nein, selbst beim Nationalsozialismus hat sich das Rote Kreuz höchst verdient gemacht, als ranghohe Nazis am Ende des Krieges das Weite nicht nur suchten, sondern – dank der Fluchthilfe des Roten Kreuzes – auch fanden. Nun, solche Grundsatzdiskussionen wollten weder der Bademeister Jáveas noch ich führen. Schliesslich wollte ich zurück ins Wasser und der Bademeister zurück auf seinen Thron. Ich fragte den Strandaufseher also, worauf seine Autorität denn stütze, aufgrund derer er mich des Meeres verweisen könne. Die rote Badehose, teilte ich ihm mit, reiche mir als Legitimität zu seiner Machtausübung irgendwie nicht aus.


Die Unterhaltung blieb bis hierhin beidseitig freundlich. Der Bademeister erklärte mir, dass seine Weisungsbefugnis nicht etwa an der Farbe seiner Badehose festzumachen sei. Es sei das Gesetz, welches ihm diese Autorität verleihe. Sollte ich seiner Aufforderung, dem Meer zu entsteigen, nicht nachkommen, so müsse er die Polizei rufen. So kurz ist der Weg zwischen einer roten Badehose und dem Gewaltmonopol des Staates. …

von Michael Bubendorf


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Don’t Panic

Es hat ganz offensichtlich niemanden psychisch gerettet, besser Bescheid zu wissen als die Mehrheit der Gesellschaft. Aus dem Beschaffen von Informationen zur Orientierung in einer täglich bizarrer werdenden Welt, wurde Sucht: Die Sucht nach Angst und Ärger, gleich einer Sucht nach dem nächsten Schuss.

Es hat uns süchtig gemacht, uns mit immer neuen Hiobsbotschaften zu beschäftigen. Der nächste Angst- und Ärgerkick, die nächste Dosis Empörung. Durchaus verständlich: Das Corona-Regime hat Menschen auf einer ganz elementaren Ebene bedroht. Es hat ein System der Ausgrenzung manifestiert und legitimiert, das die meisten von uns sich vor 2020 nicht hätten vorstellen können, auch wenn bereits seit 2001 ein spürbarer Abbau bürgerlicher Freiheitsrechte stattgefunden hat. War dieser Prozess vor 2020 jedoch noch subtil und schleichend, im Alltag nur unterschwellig wahrnehmbar, so glich er seit März 2020 einer medialen Dampfwalze – einem Mahlstrom, der alles und jeden in sich hineinsog. Es ist eine Sucht, die wir uns nicht ausgesucht haben.

Besonders die wachen, denkenden und mitfühlenden Menschen haben die letzten zweieinhalb Jahre in einem permanenten Überlebensmodus verbracht. Die Beschäftigung mit dem Schrecken hat in unser aller Psychen Spuren hinterlassen. Besonders diejenigen, die sich entgegen aller Widerstände der Mehrheitsgesellschaft, ohne jede Selbstschonung, dem Kampf um die Deutungshoheit an der Informationsfront ausgesetzt haben, sind betroffen.

Ich spreche, wenn ich all dies schreibe, auch zu mir selbst. Mir selbst ging es oft nicht gut in den letzten zweieinhalb Jahren. Das wohl totalitärste Regime in der Geschichte der BRD hat seine Opfer gefordert: So mancher meiner Freunde hat in dieser Zeit eine handfeste Psychose entwickelt. Doch inzwischen hat sich etwas in mir selbst verändert: Ich bin so oft an diesem Land verzweifelt – an seinem strukturellen Sadismus, seiner menschenverachtenden Borniertheit und seinem kleingeistigen Hinterwäldlertum-, dass inzwischen keine Ressourcen für Angst und Verzweiflung mehr übrig sind. Ich hatte so viel Angst, dass jetzt schlichtweg keine Angst mehr da ist. Wann immer ich heute spüre, dass jemand mir Angst machen möchte, so schalte ich innerlich auf Durchzug …

Jene neu gefundene, innere Abgeklärtheit hat ihre Vorteile: Zwar fühle ich weiterhin mit den Opfern dieses Regimes – mit all jenen, die sich nicht wehren können, die nicht auswandern können. Mit den Kindern, den Familien, den älteren Menschen, den Angestellten in Pflegeberufen und Berufen, in denen sie sich der Maskenpflicht und Impfmandaten nicht entziehen können.

Doch in punkto Mehrheitsgesellschaft, die all dies noch überzeugt mitträgt, ist mein Bedürfnis, mit Sachargumenten zu überzeugen, nun einem entspannten Zynismus gewichen. Und angesichts dessen, was noch alles auf dieses Land zukommen mag – sogar durchaus einer gewissen Schadenfreude. Auch wenn mir sehr wohl bewusst ist, dass dies Gefühle sind, mit denen man nicht unbedingt auf spirituelle Erleuchtung hoffen kann, so schaffen sie in der derzeitigen Situation dennoch eine wohltuende Distanz zum Weltgeschehen.

Mir ist klar geworden, dass man die hiesige Gesellschaft nicht daran hindern kann, in ihr eigenes Unglück zu rennen. Ich kann montags spazieren gehen, mich aber gleichzeitig auch innerlich entspannt zurücklehnen.

Ich weiss, dass viele gute, reflektierte Menschen in diesen Tagen einsam und verzweifelt sind. Ich habe für diese Verzweiflung keine Patentlösung parat, zumal es sich immer leicht sagt, wenn man selbst nicht existenzgefährdet und sozial gut eingebettet ist. Ich kann daher nur weitergeben, was mir selbst hilft und gut tut. Wie etwa: Sich so oft wie irgend möglich mit guten Menschen treffen. Es gibt definitiv eine grosse und stabile Gegenkultur in diesem Land. Man kann erbauliche Vorträge besuchen, sich im realen Leben mit Gleichgesinnten austauschen. Man kann Stammtische gründen. Man kann «Banden bilden». Man kann gute Bücher lesen. Die Info-Häppchen aus den Online-Medien informieren zwar, befördern aber auch die eigene Angst, den permanenten inneren Alarmzustand. Bücher hingegen entspannen die Seele.

Man kann, sooft es geht, wandern oder spazieren gehen. Für die Psyche ist es enorm wichtig zu erleben, dass die manifeste Wirklichkeit – die Natur, die Bäume, die Berge, die Tiere, die Strassenzüge, die greifbaren Aspekte dieser Welt – immer noch da sind – gänzlich unbeeindruckt vom menschlichen Treiben und Tun. Ganz so, als wäre in den letzten zweieinhalb Jahren überhaupt nichts Weltbewegendes geschehen.

Unser täglich Angst und unsere damit verbundene Bewusstseinsversklavung geschieht durch die Medien: Schaltet man diese ab, so ist die Schönheit der Welt wieder oder besser gesagt immer noch da.

Diesen Sommer war ich in Italien. Neapel, Rom, Perugia, Florenz, Venedig. Ich durfte neu entdecken, wie wundervoll es ist, sich mit völlig anderen Dingen als der Tagespolitik zu beschäftigen: Geschichte, Kunst, Aquädukte, Stadien, Imperien, die entstehen und vergehen. Steine und Gemälde, die von jenen vergangenen Imperien grosse Geschichten erzählen.

Italien ist ein wunderbares Land, um sich klein und demütig zu fühlen – angesichts einer Geschichte, die so viel grösser und würdevoller ist, als dass der totalitäre Gesellschaftsentwurf der letzten zweieinhalb Jahre sie auch nur annähernd auslöschen könnte. Von Italien aus wirkte alles, was ich am Rande aus Deutschland mitbekam, nur noch weit entfernt, bizarr und surreal.

Statt Twitter und Telegram, öffentliches Leben auf Strassen und Plätzen. Kinder, die noch spätabends mit ihren Familien zum Eis essen auf den Strassen unterwegs waren. Herausgeputzte Touristen aus aller Welt, die ihre schönsten Outfits spazieren führten. Der wohl bleibendste Eindruck dieser Reise war, wie hartnäckig gewisse Aspekte der Welt sich in ihrer zeitlosen Schönheit dem gegenwärtigen Totalitarismus entziehen: Auf dem Markusplatz in Venedig waren gefühlt noch immer so viele Tauben wie vor 20 Jahren, als ich das letzte Mal dort war.

Die Musiker auf dem Markusplatz spielten sich die Seele aus dem Leib beim «Americano». Das Publikum applaudierte begeistert. Am Ende des Freiluftkonzerts gab es ein Gewitter, und die Menge, die unter den Kolonnaden des Platzes Schutz vor dem Regen suchte, klatschte und jubelte bei jedem Blitz, der den venezianischen Himmel durchzog.

Die wohl wichtigste und von uns am häufigsten vernachlässigte Ressource in diesen Zeiten ist unser eigenes Bewusstsein. Die Gesundheit des eigenen Bewusstseins zu erhalten ist angesichts des auf unser Bewusstsein abzielenden Informationskrieges weder einfach noch banal, aber essenziell.

Dieser kleine Essay ist mein ganz persönliches Plädoyer dafür, das eigene Bewusstsein, auch angesichts aller Widrigkeiten im politischen Geschehen, angesichts tiefster Gesellschaftsspaltung, Krieg und persönlichen Entbehrungen, immer wieder neu anzueignen. Die Schönheit der Welt, die so viel grösser ist als die Tyrannei der letzten zweieinhalb Jahre, mit den Augen eines Kindes neu zu entdecken.

Denn wenn wir das nicht tun, entgleitet uns am Ende der Sinn, wofür wir diesen Kampf überhaupt führen: für das Schöne, Wahre und Gute, für ein Leben in Frieden mit unseren Mitmenschen hier auf Erden. Wenn wir das Leben nicht leben, für das wir diesen Kampf führen, werden wir am Ende nur noch ausgebrannt sein, von uns selbst entfremdet und süchtig nach dem nächsten Schuss – dem nächsten «Unser täglich Angst gib uns heute».

Die Welt ist so viel grösser und würdevoller, als dass sie von einem menschenverachtenden Regime wie dem derzeitigen jemals gecancelt werden könnte. Die Magie und Schönheit der Welt, sie ist immer noch da – und wir alle haben sie uns redlich verdient.

In diesem Sinne: Was auch immer uns in diesen verrückten Zeiten noch geschehen mag – Don’t panic! ♦

von Aya Velázquez


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Warm durch den Winter

Thomas Rudolf hat sein altes Mehrfamilienhaus zum PlusEnergieHaus umbauen lassen. Dank der optimalen Nutzung der Sonneneinstrahlung kommt es weitestgehend ohne Fremdenergie aus.

Das Mehrfamilienhaus im Seefeldquartier in Thun wurde 1947 gebaut und 2012 zum PlusEnergieHaus umgebaut – zu einem Gebäude, das mehr Energie produziert, als es verbraucht. Bei der Sanierung liess Hausbesitzer Thomas Rudolf die Aussendämmung und den Schallschutz zwischen den Wohnungen optimal an die heutigen Anforderungen anpassen. Auf die Berücksichtigung der Baubiologie und Bauökologie legte er grossen Wert. Es wurde darauf geachtet, dass die verwendeten Materialien auch bei der Herstellung möglichst wenig Energie verbrauchten und eines Tages einfach zu entsorgen sein würden. So wurde aus einem alten Haus mit hohem Energieverbrauch (Ölheizung) ein neues, energieeffizientes Haus mit gesunden Räumen, welches weitestgehend durch die direkte Sonneneinstrahlung passiv geheizt wird (keine Radiatoren, keine Bodenheizung). Bei allen Geräten wurde auf einen sparsamen Verbrauch geachtet.


Insgesamt wurde der Energieverbrauch des Gebäudes um sage und schreibe 80 Prozent reduziert. Für diese aussergewöhnliche Energiebilanz wurde das Haus 2013 mit dem zweiten Norman Foster Solar Award ausgezeichnet.

Ein geniales Energiekonzept

Das Mehrfamilienhaus funktioniert als solares Direktgewinnhaus – das heisst, es wird mit direkter Sonneneinstrahlung passiv geheizt. Eine gedämmte und luftdichte Gebäudehülle (Minergie-P oder besser) ist Voraussetzung dafür. Die eingefangene Sonnenwärme wird in den massiven Bauteilen (Böden, Wände, Decken) gespeichert und wieder abgegeben, wenn die Sonne nicht scheint. Dadurch bleiben die Räume auch an den Tagen mit wenig Sonneneinstrahlung und tiefer Aussentemperatur angenehm warm.

Die heimeligen Stückholzöfen (Schweden-öfeli) verfügen über eine Herdfunktion, sodass auch bei Stromausfall gekocht werden kann. Das Warmwasser wird zu einem grossen Teil mit Röhrenkollektoren auf der Terrasse vom obersten Stockwerk produziert. Durch die optimale Ausrichtung kann auch im Winter Warmwasser produziert werden. Auch hier gibt es als Ergänzung im Keller einen Stückholzofen (mit Backofen), um die Restwärme für das Warmwasser bereitzustellen.

Strom im Überfluss im PlusEnergieHaus

Wie ist es möglich, dass ein Gebäude über das Jahr mehr Energie produziert, als in den drei Wohnungen verbraucht wird? Die Sonnenwärme, die durch die grossen Fenster eingefangen wird, kann gespeichert, aber nicht verkauft werden. Auf dem gesamten Dach sind Photovoltaikmodule montiert. Statt der passiven Ziegel verfügt ein PlusEnergieHaus über eine aktive Dachabdeckung, welche regendicht ist und zusätzlich Strom liefert, der verkauft werden kann. Die 34-kWp-Photovoltaikanlage auf dem Dach produziert fünf Mal mehr elektrische Energie, als im Haus verwendet wird. Ein Teil dieser Energie wird in einer Batterie im Keller gespeichert, der Rest in das öffentliche Netz abgegeben. Wenn die Sonne scheint, animiert der Gratisstrom die Hausbewohner, diesen auch zu nutzen. So beträgt ihre Eigenenergieversorgung über das Jahr gerechnet 187 Prozent.
Die Erfahrung der letzten zehn Jahre hat Thomas Rudolf gezeigt, dass der Ertrag vom Photovoltaikdach auch in den Wintermonaten Dezember und Januar den Energiebedarf der drei Wohnungen abdecken kann. Dank dem Batteriespeicher können auch im Falle eines Blackouts Kühlschränke und Tiefkühltruhe mit Strom gespiesen werden. Die Sonne würde am nächsten Tag die Batterie wieder aufladen, so dass die Hausbewohner über eine längere Zeitperiode elektrische Energie zur Verfügung hätten. Zum Kochen reicht die Sonnenenergie jedoch nicht. Da würden sie auf dem heimeligen Stückholzofen kochen.

Niedrige Kosten und gutes Gewissen

Die Heiz- und Nebenkosten im PlusEnergieHaus sind extrem gering. Beim Heizen fallen nur die Kosten für das Holz an, da die Sonne für ihre Wärme keine Rechnung schickt. Stromkosten fallen tagsüber auch keine an, da der Solarstrom vom eigenen Dach für alle Mieter kostenlos ist. Verrechnet wird nur der eingekaufte Strom von der Energie Thun. Zum Spülen der Toiletten wird Regenwasser verwendet, welches in einem grossen Tank unter dem Parkplatz gespeichert wird. Die Mieter bezahlen Trinkwasser, Duschwasser, aber nicht das Wasser für die WC-Spülung.
«Wir wollten ein modernes Haus ohne aufwendige Technik, das einfach zu verstehen und zu betreiben ist», resümiert Thomas Rudolf. «Wir nutzen die Sonnenenergie ohne viel Aufwand und haben es schön warm, ohne schlechtes Gewissen», sagt der stolze Hausbesitzer. «Man sollte nicht nur von Alternativen zum Erdöl reden, sondern handeln. Was ich nicht verstehe: Warum baut man überhaupt noch Häuser, die eine negative Energiebilanz haben, wo man es doch mit wenig Aufwand viel besser machen könnte?» ♦

von Redaktion


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United we fall

«United we stand, divided we fall» – Vereint stehen wir, getrennt fallen wir. Dieser vielgehörte Slogan wird uns als Weisheit präsentiert, doch im Grunde genommen ist er falsch.

Wenn man eine Masse von Körpern braucht, um eine andere Masse von Körpern auf dem Schlachtfeld anzugreifen, ist Einheit wichtig. Wenn wir aber nach Ehrlichkeit, Intelligenz, Mitgefühl, Innovation und Evolution streben, dann ist Einheit unser Feind. Einheit funktioniert für Körperkraft, doch sie arbeitet gegen alle höheren und besseren Aspekte unserer Natur. Deshalb predigen diejenigen, die Menschenopfer sammeln, Einheit; sie wollen gehorsame Körper, keinen selbstbestimmten Verstand.

Spirituelle Einheit?

Das wirklich Schädliche an der Einheit besteht darin, dass sie uns als eine Art spirituelles Ideal verkauft wird: Opfern wir uns alle selbst, damit wir irgendwie zu kollektiven Superhelden werden. Auch das ist falsch. Das Hohe und Gute – die wirkliche Spiritualität – entwickelt sich nur in Individuen. Je mehr unser Denken vereinheitlicht ist, desto mehr geht es abwärts. Je individueller der Geist, desto mehr erheben wir uns.

Einheit im religiösen Sinn ist der vergeistigte Traum der Gratis-Erlösung. Man hofft darauf, dass die eigenen, persönlichen Defizite gelöst werden, ohne selber Aufwand betreiben zu müssen, indem man sich einer kollektiven Einheit anschliesst. Vereinheitlichung soll die Kräfte vom Himmel herabrufen und uns auf magische Weise heilen. Es ist ja schliesslich «spirituell».

Die Wahrheit ist: Wohlstand, Wachstum und Erfindungsgeist blühten immer dort auf, wo die Individualität die Oberhand hatte. Dort, wo kollektive Ideale vorherrschten, sank die Menschheit auf eine tierische Ebene ihrer Existenz hinab.

Ein bisschen Hilfe

Jede Massentragödie seit 1900 war nicht nur von Einheit geprägt, sondern wurde um die Einheit als zentralem Bestandteil aufgebaut. Ein einziges Wort genügt, um das zu verdeutlichen: Kollektivismus. Kollektivismus ist per Definition Einheit. Er stand in Maos China genau so im Mittelpunkt wie in Lenins und Stalins Sowjetunion, Pol Pots Kambodscha sowie in Nordkorea unter den diversen Kims. In diesen Einheits-Fallen wurden grob geschätzt um die 100 Millionen Menschen getötet. Weitere Millionen Tote zählen wir wegen Hitler und Mussolini hinzu, die ebenfalls Einheit erzwangen; Abweichler wurden eingesperrt und ermordet.

Aufmerksamen Beobachtern sind diese Zusammenhänge nicht entgangen. So meinte Gustave Le Bon: «Ein Einzelner, der für eine bestimmte Zeit im Schosse einer Masse eingebettet ist … gerät alsbald in einen besonderen Zustand, welcher der Verzauberung des Hypnotisierten unter dem Einfluss des Hypnotiseurs sehr ähnlich ist.» Und Charles Chaplin sagte: «Der Mensch als Individuum ist ein Genie. Doch eine Menschenmasse wird zum kopflosen Monster, zu einem grossen, bestialischen Idiot, der tut, wozu er angestachelt wird.» …

von Paul Rosenberg


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Wut bringt dich nicht weiter

Wie viele andere Kinder bekam Stephan Schmuckis Sohn in der Schule Schwierigkeiten wegen der Maskenpflicht. Doch im Gegensatz zu anderen Fällen verlief Schmuckis Begegnung mit der KESB konstruktiv. Für einmal hatte die Schule das Nachsehen, der Vater wurde in seiner Vorgehensweise bestätigt.

Die angeordnete Maskenpflicht an den Schulen war für den 16-jährigen Angelo eine Zumutung; er fühlte sich davon körperlich beeinträchtigt. Der Versuch, ein ärztliches Maskenattest zu erhalten, erwies sich als schwierig. Erst in einer Praxis, die sich ebenfalls im Widerstand engagiert, fand Angelo Gehör. Die Schulleitung akzeptierte das Attest «mit einem Schmunzeln», wie Stephan erzählt. Dass sich der unterzeichnende Arzt während den Corona-Massnahmen für die Freiheit einsetzte, war wohl auch dem Schulleiter nicht entgangen.

Für ein paar Wochen verlief alles gut; Angelo war von der Maske befreit. Einer Lehrerin war der Maskendispens jedoch ein Dorn im Auge, sie drängte Angelo während eines Schulausfluges dazu, sich eine übers Gesicht zu ziehen. Mehr noch: Das Attest sei nicht gültig, hiess es plötzlich seitens der Schulleitung.

Stephan setzte sich zur Wehr und liess Angelo von seinem Vertrauensarzt krankschreiben. Daraufhin schaltete sich der Schularzt ein und verlangte Einsicht in Angelos Krankenakte. Eine Akte, die es so nicht gibt; der alleinerziehende Vater ist überzeugter Anwender natürlicher und sanfter Heilmethoden. Bislang war der Gang zum Schulmediziner auch gar nicht nötig. Stephan wandte sich an eine Psychiaterin, die ebenfalls bestätigte, dass sein Sohn aus medizinischen Gründen keine Maske tragen darf.

Es folgte ein Briefwechsel zwischen Schularzt und Stephans Vertrauensarzt. Darüber hinaus wandte sich der alleinerziehende Vater an den Verein «Eltern für Kinder». Ein anwaltliches Schreiben wurde aufgesetzt, woraufhin der Schularzt einsichtig wurde und Angelo ebenfalls ein Zeugnis ausstellte. Darin bestätigte er, dass der Schüler während des Unterrichts selbst entscheiden könne, ob und wann er eine Maske tragen wolle. Trotz Ausgrenzung hielt Angelo daran fest, diese nicht zu tragen; ohne ging es ihm wesentlich besser.

Für den Teenager war das der Anfang einer schwierigen Zeit; einige seiner Freunde wandten sich von ihm ab. Entweder, weil sie sich selbst eine Maskenbefreiung gewünscht hätten, oder weil sie darauf konditioniert waren, Angst vor dem Virus zu haben. Angelo wurde im Klassenzimmer in die letzte Reihe verbannt, umgeben von Plexiglasscheiben. Von Gruppenarbeiten wurde er konsequent ausgeschlossen. Wenn die Klasse für eine Besprechung oder Anschauungsunterricht näher zusammenrückte, musste er an seinem Pult sitzenbleiben. Wenigstens liess man ihn in Bezug auf das Maskentragen in Ruhe. Doch dann kam die Virusvariante Omikron …

von Barbara Hagmann


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Die Rettung der Bourbaki-Armee

Als die Schweiz Neutralität und Solidarität wirklich lebte.

Aus der Geschichte können wir lernen, was Neutralität und Solidarität einst für die Eidgenossenschaft bedeuteten: Im Deutsch-Französischen Krieg half die Schweiz Zehntausenden verzweifelten Menschen aus der Not.

Wir schreiben das Jahr 1870. Am 19. Juli bricht der Deutsch-Französische Krieg aus. Einen Tag zuvor hatte der schweizerische Bundesrat mit einer offiziellen Note die Neutralität erklärt. Diese wird den Kriegsführenden zur Kenntnis gebracht. Bismarck erinnert die Schweiz daran, dass sie zur Aufrechterhaltung der Neutralität militärische Massnahmen zu ergreifen habe, was bedeutet: Sie ist verpflichtet, allfällige Übergriffe auf schweizerisches Territorium mit Waffengewalt zu verhindern. Bismarck schätzt die Abwehrkraft der Schweiz als hoch ein und bezeichnet die Schweizer Armee in den Memoranden von 1858 und 1868/69 als «starke und wohlorganisierte Miliz».

Die Schweiz ist auch wirklich gewillt, ihr Territorium zu schützen. So werden bereits einige Tage vor Kriegsausbruch fünf Divisionen mit insgesamt 37’000 Mann zum Schutz der nördlichen Grenze aufgeboten. Der Rest der Armee wird auf Pikett gestellt. Hans Herzog aus Aarau wird zum General der aufgebotenen Schweizer Armee ernannt. Nachdem im August 1870 die militärischen Ereignisse nördlich der Schweiz abgenommen haben, wird ein Grossteil der Truppen demobilisiert und das Oberkommando aufgelöst.

Allerdings bittet ein Schweizer Divisionskommandant, der mit seiner Truppe am 12. Januar 1871 an der Grenze steht, den Bundesrat wieder um Verstärkung, da vor der Nordwestgrenze starke deutsche Verbände in schwere Kämpfe mit der französischen Bourbaki-Armee verwickelt sind. Der Kriegsschauplatz verlagert sich nach Westen und die Schweizer Einheiten werden entsprechend nachmobilisiert. Im Vergleich zu den rund 200’000 Mann auf der anderen Seite der Grenze ist das Schweizer Aufgebot mit rund 20’000 Mann geradezu bescheiden.

Der französische Hilferuf

Ende Januar 1871 gerät die Bourbaki-Armee (benannt nach General Charles Denis Bourbaki; offiziell hiess sie L’Armée de l’Est) in Rücklage und wird von den Deutschen gegen die Schweizer Grenze gedrängt. General Bourbaki hatte aus Verzweiflung bereits am 26. Januar 1871 einen Suizidversuch unternommen, die Armee wurde danach von General Clinchant geführt. Am 1. Februar 1871 um 2 Uhr morgens erscheint ein hoher französischer Offizier im Grenzort Les Verrières und wünscht den Schweizer General Herzog zu sprechen, um mit ihm den Übertritt seiner Armee in die Schweiz zu verhandeln. Da er aber keine schriftliche Vollmacht besitzt, schickt ihn Herzog wieder zurück, eine solche zu besorgen. Die so gewonnene Zeit nutzt Herzog, um die Übertrittsbedingungen zu bereinigen, die er stellen will. Grundlage dazu bildet eine Verordnung des Bundesrats vom 16. Juli 1870, wonach übertretende einzelne Flüchtlinge oder Deserteure auf angemessene Entfernung zu internieren und bei Auftreten in grösserer Zahl an einem oder mehreren geeigneten Plätzen im Innern der Schweiz unterzubringen, militärisch zu organisieren und zu (ver-)pflegen seien. 90 Minuten später kehrt der französische Offizier mit der Vollmacht zurück und Herzog diktiert die Bedingungen in einem Privathaus in Les Verrières. …

von Marco Caimi


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Solidarisch auf dem Acker

Auf dem solidarischen Demeter-Hof Rütiwies in Algetshausen arbeiten Bauern und Konsumenten Hand in Hand. Dies beschenkt das Bauernpaar Liliane und Julian mit der Sicherheit, dass die Produktionskosten gedeckt sind – und ihre Kunden profitieren von gesunden, erntefrischen und regionalen Lebensmitteln sowie einem lebhaften Bezug zur Scholle.

Auf dem Weg zur kleinen Oase Rütiwies inmitten der Agglomeration und Industrie des sankt-gallischen Uzwil, stehen stattliche Hochstammbäume Spalier. Es sind Baummethusaleme, darunter viele ProSpecieRara-Sorten, die zum Teil noch Lilianes Grossvater angepflanzt hatte. Und ein bisschen fühlt es sich auf dem Hof Rütiwies in Algetshausen auch an, als wär man aus der Zeit herausgefallen. Denn Liliane Kesseli-Künzle und Julian Künzle-Kesseli verzichten auf ihrem Betrieb weitestgehend auf schwere Maschinen und setzen vermehrt auf Handarbeit. Dabei ist ihr Bio- und Demeter-Betrieb ein richtiger «Gemischtwaren-Laden». Hier wachsen nicht nur Gemüse und Getreide; es gibt auch Eier, frischen Süssmost, Fleisch von Hinterwälder Kühen und Schweinen sowie Suppenhühner.

«Auf unserem Hof soll es allen gutgehen», ist sich das Bauernpaar einig, «eine permakulturelle naturnahe Bewirtschaftung, in der sich nicht nur unsere Nutztiere und wir uns wohlfühlen, sondern auch viele Wildtiere und Pflanzen, ist für uns das Wichtigste.» Sich gemeinschaftlich selbst zu versorgen ist ebenso Trumpf auf der Rütiwies. An einem warmen goldigen Herbstsommertag fand kürzlich wieder ein Infotag statt, wo das Bauernpaar eine Schar Interessierter über den Hof führte und diese mit viel Elan und Herzblut in die Wirtschaftsweise der solidarischen Landwirtschaft einweihte. Denn es gibt wieder freie Gemüseanteile ab nächstem Jahr!

«Wir beide sind Bauernkinder, die nie in die Landwirtschaft wollten», erzählt Liliane bei einem Glas frischgepresstem Apfelsaft auf dem Hofplatz schmunzelnd, «man ist halt einfach angebunden». Doch recht bald habe sich das Blatt gewendet und das junge Paar besann sich zurück zu seinen Wurzeln. «Denn es ist ja auch etwas Schönes, wenn man schon das Land dazu hat, um selber Lebensmittel produzieren zu können.» So kam es, dass die beiden am 1. April 2013 – kein Scherz – den schönen Hof von Lilianes Eltern übernehmen konnten. Nach zwei Jahren entschieden sie sich, den konventionellen Milchwirtschaftsbetrieb neu auszurichten. Vielfältiger und naturnaher sollte er werden. Deshalb gaben sie die Milchwirtschaft auf, fingen mit Mutterkuhhaltung an, schafften sich Hühner an und starteten mit dem Getreideanbau. Ausserdem setzten sie vermehrt auf Direktvermarktung.

2017 erhielt ihr Hof das Voll-Knospe-Zertifikat, seit 2018 ist er als Demeter-Betrieb anerkannt. «Mit dem Einsatz von biologisch-dynamischen Präparaten aus Kräutern, Mineralien und Kuhmist fördern wir ein gesundes Pflanzenwachstum und die Mikroorganismen», so Julian. Das Tüpfchen auf dem i bildet nun ihr jüngster Schritt hin zur solidarischen Landwirtschaft. «Es macht einfach Freude, zusammen zu ernten und zusammen Ideen zu entwickeln», sagt Liliane. Dabei waren sie eher zufällig auf diese Form der Landwirtschaft gestossen. Liliane wollte ihr Wissen im Gemüseanbau vertiefen und besuchte dazu bei der Kooperationsstelle für solidarische Landwirtschaft einen Kurs. Sie fing gleich Feuer für die Idee, den Hof mit anderen Menschen zu teilen. «Es ist einfach schön, Menschen die Möglichkeit zu geben, sich auch ohne Land in die Landwirtschaft einzubringen und etwas bewegen zu können», sagt sie strahlend.

Die solidarische Landwirtschaft verbindet den Konsumenten mit dem Produzenten. Durch einen Betriebskostenbeitrag finanziert der Konsument die Produktion der Lebensmittel und erhält dafür einen Teil der Ernte. Dabei wächst auch der Konsument als Mitproduzent über sich hinaus und wird zum «Prosumenten», der sich aktiv an Entscheidungen auf dem Hof beteiligen kann. «Eine kleine Gruppe regte zum Beispiel kürzlich an, dass wir auch Kräuter und Beeren anbauen könnten», berichtet Liliane. Somit bestimmen die Mitglieder das Geschehen auf dem Hof aktiv mit.

Da es mittels Direktzahlungen gar nicht so einfach ist, eine Solawi auf die Beine zu stellen, gründete das Paar zusammen mit einer Schar Interessierter 2020 den Verein «SoLaWi Rütiwies», der als Drehscheibe zwischen den Konsumenten und dem Hof fungiert. Der Hof liefert die Lebensmittel sozusagen dem Verein und dieser verteilt die Ernte an die Mitglieder.

Die Vereinsmitglieder verpflichten sich pro Ernteanteil zu einigen Arbeitseinsätzen im Jahr. «Wir haben die Einsätze bewusst klein gehalten, um die Eintrittsschwelle niedrig zu halten.» Durch die gelegentliche Mitarbeit haben die Mitglieder nicht nur einen viel direkteren Bezug zu ihren Lebensmitteln, sie erhalten auch viele Einsichten in die Produktionsprozesse: Bei der Getreideverteilung zum Beispiel entspricht ein Ernteanteil von 25 Quadratmetern sechs Kilogramm Korn, aber lediglich viereinhalb Kilogramm hellem Mehl. Weshalb? «Weil beim Mahlen des Korns so viele Bestandteile weggeschält werden», löst Liliane das Rätsel auf. Die Mitglieder sehen auch, wie viel Arbeit anfällt vom Aufziehen eines Setzlings bis hin zum ausgewachsenen Kopfsalat. «Das steigert die Wertschätzung für die Lebensmittel enorm», beobachtet die Bäuerin.

Von der festen Zusammenarbeit mit den Konsumentinnen und Konsumenten profitiert aber auch das Bauernpaar. Die Betriebskostenbeiträge ermöglichen den beiden ein gesichertes Einkommen. Dank der Ernteanteil-Abos über ein Jahr können sie auch eine genaue Anbauplanung machen und produzieren so keine Überschüsse. Zudem wird das Risiko von Ernteausfällen mit den Konsumenten geteilt, da die Produktionskosten und nicht die Marktpreise bezahlt werden. Für die Mitglieder heisst das, dass ihr Ernteanteil in üppigen Jahren grösser ausfällt als in magereren Jahren. Ein weiterer Vorteil ist, dass die ganze Ernte den Mitgliedern gehört und damit keine Abhängigkeit vom Markt besteht. Dank der Arbeitskraft der Mitglieder kann zudem auf schwere Maschinen verzichtet werden, wodurch sich wiederum die Bodenfruchtbarkeit erhöht. Und schliesslich finden im kleinstrukturierten Gemüseanbau auch alte Sorten wie Kardy, Haferwurzel oder Cima di rapa sowie seltene Insekten ihre Nische.

Ein willkommener Nebeneffekt ist, dass die Bauern dank ihrer Helferinnen und Helfer weniger an die Scholle gebunden sind, so dass sie auch mal in die Ferien fahren können. «Das ist das Schöne an der solidarischen Landwirtschaft», sagt Liliane, «du kannst so leben, wie du willst!»

An Ideen für die Zukunft mangelt es den beiden nicht: eine Remise bauen, im Ackerbau vom Pflügen wegkommen und die Saat direkt in den Mulch ausbringen, eigenen Kompost und selbstgemischtes Substrat zur Setzlingsaufzucht herstellen, die Bäche ausdolen, noch mehr Hecken und fruchttragende Bäume anpflanzen, die männlichen Rinder nicht mehr kastrieren … Dank ihres SoLaWi-Hofmodells müssen sie dabei auch nicht darauf warten, dass die Agrarpo-litik die Weichen entsprechend stellt – sie können frisch und frei drauflos schalten und walten, wie es ihnen beliebt. «Es ist ein grosses Privileg, eine Landwirtschaft zu haben und diese frei gestalten zu dürfen», sagt Liliane. «Wir leben hier in unserem Paralleluniversum – auch für andere, die ein bisschen am Paralleluniversum teilhaben möchten», schmunzelt Julian. ♦


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