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Jedes Kind hat seinen Ton

Immer wieder neu beschäftigt mich die Frage, was im Wesentlichen eine gute Schule ausmacht. Anfänglich waren es eine ganze Reihe von Voraussetzungen, aber von Mal zu Mal wurden es weniger. Und diese Wenigen sind auch schon alles: Die Qualität einer Schule entscheidet sich nämlich in erster Linie an der Art, wie Lehrerinnen, Lehrer und Eltern über Kinder und die Welt denken – und fühlen.

Rudolf Steiner begründete die erste Waldorfschule, indem er die künftigen Lehrer in einer Reihe von Vorträgen («Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik») mit seinem Menschen- und Weltbild vertraut machte. Insbesondere ging es ihm dabei natürlich um das Kind, sein Wesen, seine Entwicklung und den Zusammenhang mit uns erwachsenen Menschen, der Welt überhaupt. Was er in diesen Vorträgen inhaltlich anspricht, sprengt den Rahmen des Gewöhnlichen bei Weitem. Er versetzt uns mit dem, was er als «Grundlagen der Pädagogik» vorbringt, ganz schön ins Staunen. Steiner macht so etwa deutlich, dass allem voran eines gelingen müsste, nämlich, dass wir in der Begegnung mit den uns anvertrauten Kindern unser Ego erstmal in den Hintergrund rücken. Ein Kind, betont er, ist nur als etwas denkbar Grosses zu verstehen, und solange uns das «kleine Ego» im Wege steht, sind wir kaum in der Lage, etwas von der Grösse des werdenden Menschen zu erfassen.

Abschied nehmen vom Ego: Das ist schnell gesagt, aber schwergetan, sitzt es doch tief, dieses ängstliche Festhalten am Eigenen. Nur sehr zögerlich sind wir bereit, etwas davon loszulassen, weil es vermeintlich Halt vermittelt und die drohende «Leere» Angst macht.

Still werden in der Hektik des Alltags

Jeder Mensch, so auch jedes Kind, hat seinen ganz eigenen, unverwechselbaren «Ton». Ihn gilt es zu erlauschen, wollen wir ihm gerecht werden. Zu diesem Zweck müsste es – in und um uns – vorerst einmal still werden. Wie soll das in der Hektik unseres Lebensalltags gelingen?

Rudolf Steiner hat da seine ganz eigene Methode. Im Wesentlichen geht es ihm darum, uns frei zu machen, frei von allen «Behinderungen», die uns das vordergründige Leben in dieser Welt unvermeidlich auferlegt. Wie schnell legen wir uns fest, fällen Urteile, deren Tragweite wir nicht im Geringsten erfassen. Wer wagt es, sich in aller Bescheidenheit einzugestehen, dass er nicht viel weiss und nur ganz wenig wahrhaft versteht? Aber gerade dies müsste gegeben sein, wenn wir für Neues, bislang noch niemals Gedachtes, geschweige denn Beobachtetes oder gar Erfahrenes offenbleiben wollen.

Ich erwähne als Beispiel für «Behinderungen», wie ich sie verstehe, den so weit verbreiteten «defizitorientierten» Blick auf Kinder. Da findet seit einiger Zeit ein gewisses Erwachen und Umdenken statt. Gott sei Dank! Nur – was tritt an seine Stelle? Der ressourcenorientierte Blick? Was ist damit gemeint? Welche Haltung steht dahinter? – Fragen über Fragen! Manche Frage einmal offenhalten, anstelle vorschnell zu urteilen – gerade diese Neigung möchte Steiner in uns wecken, um eines Tages in die «Antwort hineinleben» zu können (Rilke).

Seelisches Atmen, seelisches Schlafen

Für das «Ankommen» der Kinder in dieser Welt ist es von grosser Bedeutung, sagt Rudolf Steiner, dass sie vorerst einmal richtig «atmen» und «schlafen» lernen. Klingt reichlich trivial. Ist es aber nicht. Steiner spricht nämlich in erster Linie nicht das physiologische Atmen und Schlafen an, sondern meint das seelische «Atmen» und «Schlafen». Was meint er damit?

Im Atmungsvorgang spiegelt sich eine Urgebärde: Aufnehmen und abgeben, zu sich kommen und in die Welt ausströmen. Ein- und Ausatmen lösen sich beständig ab. Die Luft, die wir einatmen und die, die wir ausatmen, ist nicht die gleiche. Worin unterscheiden sie sich? So wie wir tagein tagaus atmen, nehmen wir Eindrücke auf. Etwas davon geben wir wiederum in die Umgebung ab, und sei es einmal auch nur ein Lachen oder Weinen. Was wir wahrnehmen, lässt uns nicht unberührt. Es macht etwas mit uns. Sind es besonders heftige Eindrücke, liegt dies auf der Hand. Aber natürlich geschieht es grundsätzlich mit jeder Erfahrung.

Kinder kommen, wenn sie geboren werden, aus der «Weite» (der geistigen Welt) in die «Enge» (ihres Leibes). Einatmen «beengt», Ausatmen «befreit», wie es Goethe so treffend charakterisiert – beides sollte sich die Waage halten, sonst geraten wir aus dem Gleichgewicht: «Danke Gott, wenn er dich presst und danke ihm, wenn er dich wieder entlässt.»

An uns Erziehern ist es, über die Art und Menge der Eindrücke, die wir Kindern zumuten, zu wachen. Dass zu viele Eindrücke, was im Leben mancher Kinder heute der Fall ist, Kinderseelen bedrängen, liegt auf der Hand. Genauso wichtig wäre natürlich auch, die Art der Eindrücke zu prüfen. Vermag sie die Kinderseele überhaupt zu verkraften? Noch besser: Sind sie geeignet, unsere Kinder zu nähren? Erlaubt sei auch die Frage: Vermitteln wir den Kindern in der Schule «Steine» (nicht zuträgliche Kost) oder «Brot» (Seelennahrung)?

Mit «Brot» können sich Kinder verbinden. Mit «Steinen» nicht, sie bleiben (unverdaulich) «im Magen liegen» und belasten das Kind. Was geschieht, wenn es einschläft und seelisches Verdauen anstünde? Hat das vielleicht mit Blick auf den Weg in die Nachtwelt zur Folge, dass es gleichsam «ohne Proviant» unterwegs ist und seelischen «Hunger» leiden muss? Was sich tagsüber in unserem Leben tut, «lebt» nachts fort, wird vertieft und an bereits gemachte Erfahrungen gleichsam «angebunden». Was passiert dabei mit dem «Unverdaulichen»? Eben: Es liegt auf, hemmt uns – und die Kinder – im Vorankommen in der «anderen Welt».

Wachsames Hinschauen und Hinhören

Ich töne mit diesem Beispiel nur einmal an, in welche Richtung Steiners Gedanken gehen. So ahnt man vielleicht, was von uns gefordert ist, wenn wir seine Anliegen umsetzen wollen. Unvoreingenommenheit und die Bereitschaft, gar manches im Lebensalltag mit Kindern noch einmal viel genauer zu beobachten und zu bedenken, ist uns abgefordert. Denn was Steiner hier vorbringt, gilt es im Alltag zu überprüfen. Nichts war ihm selber mehr zuwider, als dass die Leute ihm einfach (blindlings) glaubten.

Eine Frau, die zeitlebens mit kleinen Kindern arbeitete, meinte einmal auf die Frage nach dem Schlüssel für das Gelingen ihrer Arbeit: «Alles eine Frage des wachsamen Hinschauens und Hinhörens. Der Rest ergibt sich von alleine.» Auch wenn mir ihre Antwort im ersten Moment fast etwas zu simpel vorkam, muss ich ihr heute Recht geben. Aber wie gesagt: Was vielleicht ganz einfach klingt, will erst ausdauernd erübt werden. Dabei wird es in einem ersten Schritt darum gehen, sich in der Zurücknahme seiner selbst zu üben. Erst wo wir in diesem Sinne schrittweise leer und immer leerer werden, öffnet sich in uns ein Raum, in dem sich etwas vom verborgenen Wesen des anderen Menschen offenbaren kann. Und aus der vermeintlichen Leere wird Überfülle! ♦

von Daniel Wirz


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NaturSchule Uri

Vom Hochsitz aus schaue ich Schulkindern im Wald zu. Erst ist mir nicht klar, ob sie spielen oder lernen, bis ich merke, dass sie beides gleichzeitig tun. Es muss sich um die «NaturSchule Uri» während einer ganz normalen Schulstunde handeln.

Hier vermittelt die Schule das Wissen nicht getrennt von der Natur, sondern sie integriert es. Und zwar nicht nur an einem Tag pro Woche, sondern mehrheitlich. Noch ist es nicht soweit, aber es wird kommen. Hinten am Waldrand sehe ich eine Jurte und zwei Tipis. Ob die auch zur Naturschule gehören? Im Nebel fast verschwunden, sehe ich auch ein fahrbares Waldzimmer in einem Baustellenwagen.

Der Verein NaturSchule Uri stellte Ende 2021 dem Kanton ein Gesuch für eine solche Privatschule für Kindergarten bis und mit Oberstufe. Es wurde vom zuständigen Amt wohlwollend und befürwortend behandelt, dann aber vom Erziehungsrat abgelehnt. Wir hätten gerne alles angepasst oder ergänzt, so wie es andernorts üblich ist, aber stattdessen schickte man uns auf den teuren und zermürbenden Rechtsweg.

Unsere Einsprache wurde nach über zehn Monaten Wartezeit vom Regierungsrat abgelehnt. Dabei erhöhte er die Hürden nochmals. Die Anforderungen sind nun nahezu unerfüllbar. Es ist fraglich, ob es in der Schweiz überhaupt irgendwo eine Privatschule gäbe, wenn diese Bedingungen für alle gelten würden. Der Weg wird länger, aber wir geben nicht auf. Wir werden bereit sein, wenn die Zeit reif ist. Die Oberstufe werden wir im ersten Schritt nicht mehr anbieten. …

von Urs Thali


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Sehen ohne Augen

Als ich das erste Mal mit dem «Sehen ohne Augen» in Kontakt kam, wollte ich nicht glauben, was ich da sah. Ich dachte, es sei eine Inszenierung, die auf unsere tiefsten Sehnsüchte, über übernatürliche Kräfte zu verfügen, abzielte. Heute bin ich sehr glücklich darüber, dass ich diesem Misstrauen nicht die Oberhand liess.

Die Methode wurde von Noé Esperón, einem mexikanischen Psychologen während über 30 Jahren entwickelt. Meine Neugier führte mich dazu, in Wien eine Ausbildung in Sehen ohne Augen zu machen. Dort durfte ich live erleben, wie sich eines der Kinder in seiner ersten Lektion so sehr über sein Können freute, dass es am liebsten gar nicht mit der Übung aufgehört hätte. Lassen wir die 12-jährige Elina gleich selbst über ihre Erfahrungen berichten:

Elina, wie ist es dir ergangen mit dem Sehen ohne Augen?

Elina: Ich habe ein sehr gutes Gefühl dabei und auch in der Schule. Ich bin viel schneller, auch die Hausaufgaben kann ich jetzt viel schneller machen.

Wo hat dir das Sehen ohne Augen sonst noch geholfen?

Elina: Ich habe den Radfahrschein gemacht. Ich hatte gute Punkte und habe nur einen Fehler gemacht bei der praktischen Prüfung. Und bei der schriftlichen Prüfung hatte ich von 42 Fragen 38 richtig.

Du hast mir von einem Spiel erzählt. Magst du dazu etwas sagen?

Elina: Ja, gestern war ein Freund da und wir haben «Wer wird Millionär?» gespielt. Ich hatte alle Antworten richtig. Und ich hatte nicht geschummelt oder so. Diese Namen waren immer so kompliziert. Ich hab dann irgendwas gesagt und das war dann die richtige Antwort. …

von Mario von Blauen


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Die Schule von morgen

Wo Menschen einander wahrhaft begegnen, sich nahekommen und füreinander offen sind, können «Orte der Kraft» entstehen. So etwas kann ich mir auch für die Schule vorstellen. Noch sind wir nicht soweit. Etliches wird sich noch bewegen müssen.

Schule ist heute noch für manche Kinder ein angstbeladener Raum oder gar ein Ort des Schreckens. «Schule kann einem das Leben kaputt machen!», meinte unlängst ein neunjähriges Mädchen zu seiner Mutter. Es ist ein Ort, an dem Kinder «daran gewöhnt werden, Langeweile zu ertragen», wie Frithjof Bergmann es ausdrückte. Ein Ort der Leere, statt der Lehre. Ein Ort, wo Kinder auf ihre Defizite reduziert werden und sich als Menschen, wie sie sind, kaum angenommen, geschweige denn respektiert fühlen. Ein Ort, an dem mit viel Druck und wenig «Sog» gearbeitet wird.

Ich habe eine Vision von Schule. Vielen Lehrpersonen fehlt es heute an Visionen. Das lässt Schule oft so saft- und kraftlos, so flügellahm erscheinen. Und in einem derart perspektivlosen Umfeld sollen Kinder gross werden? Gross, stark, mutig und lebensfroh? Wie manche Schule dümpelt, als notwendiges Übel einfach hingenommen, freudlos vor sich hin? Wo bleiben die beflügelnde Begeisterung, die Wärme, der frische Wind?

Keine Schule ohne Visionen! Denn eine Schule ohne Visionen ist eine Schule ohne Zukunft, und das wollen wir keinem Kind zumuten. Auch keinem Kollegium. Vergessen wir nie: Mit jeder Kindergeneration ist der Welt ein Riesenpotenzial geschenkt.

Schulen im Reformstau

Gegen Reformen, gegen einen beständigen Wandel der Schule, wäre gar nichts einzuwenden, solange sie der Initiative des einzelnen Lehrers, der einzelnen Lehrerin entspringen. Das ist aber leider in der Regel nicht der Fall. Es sind von oben herab verordnete, aufgezwungene Reformen, die die Initiativkraft des einzelnen Lehrers, der einzelnen Lehrerin korrumpieren. Die jüngste OECD-Lehrerstudie gibt uns recht, wenn sie sagt: «Hoch engagierte Kollegen scheitern zu oft an rigiden Verwaltungsvorschriften, die wenig Raum für das persönliche Engagement schaffen.» Lehrkräfte fühlen sich übergangen, zu Vollzugsbeamten degradiert und entmündigt. Kein Wunder, dass sich so viel Frust breitgemacht hat.

Die Fakten sprechen eine unmissverständliche Sprache: 90 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer drehen ihrem Beruf nach durchschnittlich nicht einmal sechs Jahren für immer den Rücken zu. Man bedenke: Die Ausbildungskosten für einen Primarlehrer belaufen sich in der Schweiz auf zirka 200`000 Franken.

Ein Grossteil der im Beruf stehenden Kolleginnen und Kollegen leidet an psychosomatischen Beschwerden, ist ausgepowert, harrt aus, solange es gerade noch geht. Fast alle beklagen sich über das Übermass an Erwartungen seitens der Eltern. Hinzu kommen die vielen schwierigen Kinder, der Spardruck…

Und die Kinder, wie geht es ihnen?

Ich denke, wir unterschätzen die Not der Kinder bei Weitem. Nahezu die Hälfte der Zeit, die Schulkinder zu Hause verbringen, sind sie ganz alleine. Mit 12 Jahren hat ein Kind etwa 9000 Stunden in der Schule und 250`000 Stunden vor der Glotze verbracht. Bei einer Grosszahl der Kinder ist, laut neusten Untersuchungen, der Sehwinkel heute auf 70 Grad reduziert. Normal wären: 220 Grad! Das Fernsehen, der Kreativitätskiller Nummer eins, bringt viele Kinder während täglich durchschnittlich 250 Minuten (!) um ihr Lebenselement: Bewegung. Entsprechend leidet in Amerika schon heute jedes vierte Kind an Fettleibigkeit.

Ein Vater spricht heute im Durchschnitt noch ganze 20 Minuten pro Tag mit seinen Kindern. Bildungsbehörden in Deutschland haben auf diese alarmierenden Zustände reagiert und allen jungen Eltern die Broschüre «Sprich mit mir!» abgegeben. Sie enthält nichts anderes als eine Reihe von Tipps, wie und worüber man mit den eigenen Kindern reden könnte!

In Deutschland hat man unlängst festgestellt, dass 60 Prozent der Schulanfänger Haltungsschäden aufweisen und dass bei 40 Prozent der Kinder der Kreislauf geschwächt ist. Bei über 50 Prozent der Kinder wird ausserdem vor Schuleintritt eine Sprachstörung diagnostiziert. In der Stadt Zürich kommen zurzeit 60 Prozent der Zweitklässler ohne Nachhilfe nicht mehr über die Runden.

Der Anteil an sogenannt «schwierigen Kindern» nimmt beständig zu. Auch die Anzahl derer, die Schule schlechthin verweigern. Wohlgemerkt: In ausserschulischen Projekten – im Wald, auf dem Bauernhof – sind diese Kinder ganz unauffällig, leben förmlich auf! In der Schule versucht man sie mit gewaltigem und inzwischen unbezahlbarem Aufwand zurechtzubiegen, was aber in vielen Fällen gar nicht mehr gelingt. Manche werden schliesslich «ausgemustert», in Sonderklassen oder Heime abgeschoben.

Es ist «kalt» geworden

Die sehr ernüchternden Resultate der PISA-Studie bringen es nach meiner Einschätzung an den Tag: In manchen Schulen Europas ist es «kalt» geworden.

Doch wieso schwingen in der ominösen Studie die finnischen Schulen ganz obenauf? In Finnland wird in einer Präambel des Lehrplans mit Nachdruck hervorgehoben, dass es den Kindern in der Schule primär gut gehen soll, und dies im umfassenden Sinne. Gesundheitsfürsorge, Sozialarbeiterinnen, Psychologinnen und Förderlehrerinnen stehen den Lehrern dort helfend zur Seite. Die gemeinsame Sorge um das Wohlergehen des einzelnen Kindes ist das A und O allen Unterrichtens, da werden offensichtlich ganz andere Prioritäten gesetzt. In Finnland ist die Schule für die Kinder da, und nicht umgekehrt.

Kinder gedeihen in der Tat nur, wenn ihnen Wärme, Geborgenheit, Zuwendung und Aufmerksamkeit zukommen. Andernfalls gerät auch das Lernen ins Stocken. Lernstörungen treten eigentlich immer dann auf, wenn im Umfeld der Kinder etwas nicht stimmt. Wenn jetzt bloss die Störung wegtherapiert wird, ist weder dem Kind noch der Schule in irgendeiner Art geholfen.

Doch nicht nur in manchen Schulen ist es kalt geworden, sondern auch in manchen Elternhäusern: In vielen Familien sind beide Elternteile berufstätig. Viele Kinder sind tagtäglich über Stunden nicht betreut oder werden in Krippen abgeschoben. Manche kommen völlig übermüdet und ohne Frühstück zur Schule. Mahnrufe seitens der Lehrkräfte und Schulbehörden bleiben wirkungslos. Da muss doch die Schule in die Lücke springen! Wer denn sonst?

Wie heilen?

Jede Schule müsste heute den heilenden Ansatz stärker ins Zentrum rücken, wenn sie nachhaltig und präventiv wirken soll. Alles andere können wir uns gar nicht mehr leisten!

Wer heute gut hinschaut, weiss, dass es nur eine Schulform gibt, welche die gegenwärtige Not vieler Kinder effektiv zu lindern vermag: die Tagesschule. Schule als Grossfamilie. Schule als Ort der Begegnung, der Wärme, Geborgenheit und Verlässlichkeit. Ein Ort, den Kinder immer dann aufsuchen können, wenn es «kalt» um sie herum wird. Ausserdem: Schule als angstfreier Raum. Denn Angst lähmt alles, insbesondere die Entwicklung unserer Kinder.

Ich plädiere hier für eine neue Schulkultur! Nach PISA aber reden fast alle davon, Schulstrukturen zu verändern. Das ist Kosmetik, nicht mehr. Über Jahrzehnte haben wir nun schon an der alten Schule «herumgeflickt». Aber sie hat ausgedient.

Schule muss in der Tat ganz neu werden, von der Basis auf. An der Basis sind die Lehrerinnen, die Lehrer und die Eltern. In ihre Hände ist die Neugestaltung der Schule vertrauensvoll zu legen. Das heisst: Befreiung der Schule von der staatlichen Aufsicht. Abschaffung der verbindlichen Lehrpläne.

Gleichstellung der Alternativschulmodelle mit der sogenannten Staatsschulpädagogik. Befreiung der Lehrerinnen und Lehrer von sämtlichen Zwängen! Damit hat Finnland wohlgemerkt schon in den 1960er-Jahren ernst gemacht. Und, wie man sieht, mit messbarem Erfolg.

Schule «mit Hand und Fuss»

Was eine zukunftsvolle Schule ausserdem existenziell braucht, ist die entschiedene Aufwertung des künstlerisch-handwerklichen Bereichs. Nicht bloss als Ausgleich zum Kognitiven; ich rede von Kunst als Allheilmittel in einer rundum heillosen Zeit – als das Mittel zur Individualisierung und Erziehung zur Innerlichkeit. Kunst und Handwerk müssen als wesentliche Mittel zur Bildung des Menschlichen schlechthin endlich ihren festen Platz im Fächerkanon erhalten. Sie allein vermögen die allenthalben anzutreffenden Einseitigkeiten auszugleichen.

Mit jeder Stunde Handwerk oder Kunst, die wir aus dem Stundenplan streichen, handeln wir uns auf längere Sicht eine oder mehrere Therapiestunden ein. Was für ein Widersinn! Dennoch sind es regelmässig diese Fächer, die der Sparfuchtel zum Opfer fallen.

Schule – krankmachend oder gesundheitsfördernd?

Über den Wert oder Unwert einer Schule wird in naher Zukunft insbesondere die Frage entscheiden, ob sie die Kinder gesund erhält. An dieser Stelle gilt es allerdings festzuhalten, dass alles an der Schule gesund oder eben krank machen kann. Ich rede hier also weder von Drogenprävention noch von anatomisch optimiertem Schulmobiliar oder der Aufklärung in Ernährungs- und Gesundheitsfragen. Gesund oder krank macht primär die Schulatmosphäre, der «Geist oder eben Ungeist einer Schule». Ich denke an unterschiedliche Unterrichtsstile, an Kolleginnen und Kollegen, die mit viel Druck und Angst operieren oder andere, die auf geheimnisvolle Art den Kindern manch Ungeahntes entlocken. Ich denke aber auch an die «Kopflastigkeit» der Schule und die damit einhergehende Vernachlässigung der Herzenskräfte. Eine Kollege plädierte da unlängst sehr treffend für «weniger Hoch- aber mehr Tiefschulen»! Darauf gilt es also unsere ganze Aufmerksamkeit zu lenken. Alles andere ist zweitrangig.

Keine Verschulung der Kindheit

Mit grosser Wachheit gilt es zu verhindern, dass es zu einer Verschulung der Kindheit kommt. Wir ruinieren damit in dramatischem Ausmass die seelisch-leibliche Gesundheit der Kinder, wie eine Vielzahl von Studien weltweit unmissverständlich belegt. England, das die frühe Einschulung seit Jahrzehnten kennt, beklagt seit einiger Zeit ein veritables «early-childhood-disaster» und will nunmehr wieder später einschulen. Dass gerade als Folge des PISA-Schocks allenthalben der Schrei nach «früher ran!» – also nach früherer Einschulung – ertönt, ist in Anbetracht dessen fatal.

Vergleiche nie ein Kind mit einem andern

Schliesslich sei eine ressourcen- anstatt defizitorientierte Schule gefordert, also eine Schule, die Abstand von der Vorstellung der Schule als Reparaturwerkstatt nimmt und jedem Kind seinen eigenen Weg zubilligt. Ich wende mich hier gegen alles Normative in der Pädagogik. Remo Largo wurde unlängst gefragt, in welchem Alter Kinder heute denn lesen lernten. «Zwischen drei und dreizehn!» – «Aber wann normalerweise?», wurde nachgedoppelt. Largo: «Zwischen drei und dreizehn.» Den individuellen Lerntempi der Kinder ist vermehrt Rechnung zu tragen, auch ihrem eigenen Lernstil. Damit ist die individualisierende Schule gemeint.

Schule live oder online?

Hartmut von Hentig spricht in einem seiner neusten Bücher von dem «nicht ganz allmählichen Verschwinden der Wirklichkeit aus den Schulen». Hentig macht dafür insbesondere das Überhandnehmen der Medien im Schulalltag verantwortlich. «Schulen ans Netz!», heisst die Parole. An welches Netz ist da nur die Frage? Ich meine ganz entschieden: ans Lebensnetz! Wie sollen Kinder mit so viel Scheinwelt umgehen, sie, die doch immer und überall das eine suchen: das unmittelbare Leben. Wenn sie es nicht finden, hat ihr Suchen kein Ende und die Sucht ist nahe.

Schule für das dritte Jahrtausend

Welche Schule also braucht es im dritten Jahrtausend? Eine rundum neue. Was hier erwähnt wurde, ist bloss als richtungweisend zu betrachten. Darüber hinaus muss ein weites Feld offen bleiben. Ein hohes Mass an Improvisationsgabe wird gefragt sein. Aus dem Moment, aus der unmittelbaren Begegnung heraus, muss die Schule am besten Tag für Tag neu werden – und sich, wie alles, was wächst, beständig wandeln. ♦

von Daniel Wirz


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Krampfhaft am Puls der Zeit?

Die Schule ist bemüht, den Anforderungen des Lebens gerecht zu werden, was bei raschen Veränderungen leicht zu einem «Reformstau» führen kann. Bei vielen Lehrerinnen und Lehrern – meinen Kolleginnen und Kollegen – stellt sich nach und nach ein mir durchaus verständlicher Überdruss ein. Viele sehnen sich danach, einfach wieder einmal so zu unterrichten, wie sie es – als Fachkräfte – für richtig und zeitgemäss halten. Manche fühlen sich bevormundet und in ihrem Schulalltag mehr gestört denn unterstützt oder gar gefördert.

Die ausufernde Bürokratisierung in nahezu allen Lebensbereichen, so auch in der Schule, entpuppt sich mehr und mehr als Übel, das wie ein Krebsgeschwür unkontrolliert wächst. Lehrpersonen berichten mir heute, dass sie nach getaner Arbeit – nebst Nach- und Vorbereitung des Unterrichts – auch noch eine Stunde oder mehr damit verbringen, detaillierte Beobachtungen zu einzelnen Kindern am Computer einzutragen. Über jedes Kind, seine Taten und Untaten, sein Verhalten, seine Leistungen und sein Versagen muss Buch geführt werden. Man weiss ja nie! Sollten Eltern Einwände oder Kritik anmelden, muss mithilfe umfänglicher Dokumentierung darauf reagiert werden können.

Dieses krampfhafte «dem Puls der Zeit» gerecht werden könnte aber in die Irre führen. Ich will an einem Beispiel deutlich machen, was ich meine.

Im Silicon Valley, der Hochburg der weltumspannenden Digitalisierung, leben naturgemäss viele Kinder, deren Eltern in der Computerbranche tätig sind. Was erstaunen mag: Die meisten schicken ihre Kinder nicht in staatliche Schulen. Ausgerechnet in dieser Gegend schiessen seit Jahren Alternativschulen wie Pilze aus dem Boden. So etwa auch eine ganze Reihe von Rudolf Steiner Schulen. Warum?

Menschen, die ihre Arbeitskraft in die Entwicklung digitaler Systeme stecken, legen grossen Wert darauf, dass ihre Kinder – Achtung! – bis zur Vollendung ihres zwölften oder gar vierzehnten Lebensjahres vom Kontakt mit der ganzen Palette elektronischer Geräte (Handy, Laptop, Tablet usw.) bewahrt bleiben.

Wenn man sich nach ihren Motiven erkundigt, erhält man Antworten wie: Das Gefahrenpotenzial (Sucht) übersteigt bei Weitem den pädagogischen Nutzen. Oder: Das zu frühe Eintauchen in diese künstliche Welt entfernt die Kinder vom unmittelbaren Leben. Oder: Kinder lernen, wenn sie sich körperlich bewegen – nicht, wenn sie sitzend einen Bildschirm anstarren. Oder: Der verfrühte Umgang mit technischen Geräten kann die natürliche Entwicklung der Kinder nachhaltig behindern. Ihre Argumente sind durch unzählige Untersuchungen weltweit längst belegt. Erste Länder haben dieser unseligen Entwicklung auch schon den Rücken zugekehrt. Warum hören wir nicht auf sie?

Wenn ich nach dem pädagogischen Nutzen der teuren Geräte im Unterrichtsalltag frage, erhalte ich auch hierzulande ein resigniertes Schulterzucken. Im Sinne von: Das auch noch! Wozu überhaupt? Uns hat niemand gefragt. ♦

von Daniel Wirz

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Daniel Wirz ist Erwachsenenbildner, Buchautor, Vater von fünf Kindern und war 20 Jahre als Lehrer und Mitbegründer an einer Rudolf Steiner Schule tätig.


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Ich habe immer frei gelernt

Florian Knaus wurde in seinem ganzen Leben nie klassisch unterrichtet. Sein Antrieb zum Lernen waren stets die Neugier und die Freude. Heute begleitet er mit dem Bildungsverein «time4» andere Jugendliche in die Selbstbestimmung und Eigenverantwortlichkeit. Der 26-jährige Lebenskünstler erzählt, wie sein Bildungsweg verlief.

Klassisch unterrichtet wurde ich noch nie in meinem Leben. Ich habe immer frei gelernt und bin meiner Begeisterung und meiner Freude gefolgt. Als es Zeit gewesen wäre, mich einzuschulen, fanden meine Eltern, es sei doch noch etwas unpassend. Sie hatten bei meinen drei Geschwistern und mir beobachtet, dass wir mit grosser Begeisterung jeden Tag Neues entdeckten, lernten und die Welt erkundeten. Dieses freie natürliche Lernen wollten sie nicht unterbrechen. Deshalb entschieden sie, dass ich nicht die öffentliche Schule besuchen sollte. Stattdessen gründeten sie selbst eine Schule. So durfte ich zu Hause und in der Schule zusammen mit Kindern anderer Familien frei in die Welt hineinwachsen. Und mein grösstes Glück ist, dass sie mir diesen Weg ermöglicht haben.

Meine Mutter ist ursprünglich Primarschullehrerin und mein Vater unterrichtet als Dozent an höheren Fachschulen ICT (Informations- und Kommunikationstechnologie). Auf ihrem Weg orientierten sie sich unter anderem an Maria Montessori, die die Überzeugung teilte, die Aufgabe der Umgebung sei es nicht, das Kind zu formen, sondern ihm zu erlauben, sich zu offenbaren: «Es verfügt über einen inneren Bauplan und über vorbestimmte Richtlinien für seine Entwicklung.» Und diese gilt es nur noch zu entfalten, indem man seinen eigenen Interessen, seinen Begabungen und seiner Begeisterung folgt. Auch Rebecca und Mauricio Wild und ihr alternatives Kindergarten- und Schulprojekt Pesta in Tumbaco, Ecuador, hatten meine Eltern stark geprägt. Deren Schulform legte ein Schwergewicht auf die Begleitung echter Lebensprozesse, entspannte Umgebung, Verzicht auf Benotung und einen Schulalltag ohne Klassenstruktur. Dazu banden sie die Eltern durch Elternarbeit intensiv ein und legten Wert auf horizontale Teamarbeit statt autoritäre Strukturen.

Für mich gab es nie einen Unterschied zwischen Schule und Freizeit. Schule hiess einfach, dass die «Gspänli» da sind, während ich in der Freizeit selber abmachen musste, wenn ich jemanden treffen wollte. Die Schule bestand aus mehreren Räumen mit verschiedenen Lernumgebungen, unterschiedlichen Materialien wie Rechen- und Geometriematerial, Schulbüchern, einfach allem, was man in normalen Schulzimmern auch vorfindet. Dazu gab es ein Zimmer mit einer Nähmaschine und ganz vielen Stoffen, ein Zimmer mit einem Hochsitz, Legos, Spiele, ein Zimmer mit «Verchäuferli»-Dingen, Puppensachen, Knobelspielen, eine Metall- und Holzwerkstatt, einen grossen Gartenbereich mit vielen Tieren wie Enten, Hühnern, Hasen, Truthähnen, Geissen, zwei Pferden und einen Fussballplatz … Zudem konnten wir eine Küche nutzen, wo wir oft kochten und ein «Restaurant» und eine «Bar» betrieben. Alles war möglich!

In der Schule stand das natürliche, freie Lernen im Mittelpunkt. Die Freude und die Neugier waren der Antrieb. Entsprechend dem afrikanischen Sprichwort «Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht» machte ich meine Lern- und Entwicklungsschritte, sobald ich bereit war. Und es funktioniert.

Da ich im Alter von 15 Jahren bei meinen beiden älteren Brüdern beobachtet hatte, dass ihnen durch ihre klassischen Ausbildungswege – sie haben beide eine Lehre absolviert – viel wertvolle Zeit und viel Kreativität abhanden kam, entschied ich mich, keine Lehre zu absolvieren und auch keine weiterführende Schule zu besuchen. So viele Dinge hätten damit in meinem Leben keinen Platz mehr gehabt: der Sport mit dem Fussballspielen, die Musik mit dem Klavier-, Gitarre-, Schlagzeugspielen und das Singen, die Zeit mit Freunden … Stattdessen folgte ich meiner damaligen Leidenschaft, dem Mofa-Reparieren. Bald hatte ich den ganzen Garten voller Mofas und Velos, die ich reparierte und verkaufte. Ich sammelte auch Berufserfahrung bei einem Motorgerätemechaniker. Gleichzeitig vertiefte ich mich unter anderem mit Manfred Spitzer, Gerald Hüther, André Stern, Gordon Neufeld, Jean Piaget und anderen in dem Bereich der Psychologie und des Lernens. Mich faszinierte die Frage, wie Lernen wirklich funktioniert. Zudem durfte ich auf mehreren Reisen verschiedene Länder, Völker und Sprachen kennenlernen.

Mittlerweile arbeite ich an der Schule meiner Eltern als kantonal bewilligter und anerkannter Lernbegleiter. Via Validierungsverfahren konnte ich mich – ohne eine Lehre zu absolvieren – zum Fachmann Betreuung EFZ durcharbeiten. Zusätzlich engagiere ich mich zusammen mit einem Team bei time4 für Jugendliche, denen ich nach der obligatorischen Schulzeit eine Alternative zur herkömmlichen Berufslehre oder Mittelschule anbiete. Unterdessen begleiten wir bei time4 rund 30 Jugendliche bei ihren individuellen Entwicklungs- und Lernprozessen. Sie lernen so, wie ich es in meinem ganzen bisherigen Leben getan habe und entscheiden individuell was, wann, wo und wie sie lernen möchten. Dabei entwickeln sie sich zu freien, motivierten, selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Jugendlichen. Das macht so viel Freude! Eine schönere Aufgabe hätte ich mir nicht erträumen können! Dafür bin ich unendlich dankbar!

Ich gebe in Vorträgen in der ganzen Deutschschweiz auch meine Erfahrungen und Erkenntnisse aus meinem Lebensweg weiter, der durch Begeisterung und intrinsische Motivation, also Motivation aus sich selbst heraus, geleitet ist. Ob in Chur, Winterthur, Luzern oder Bern – es freut mich, dass ich bei meinen Auftritten auf immer mehr Menschen treffe, die sich für ein freies, selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Leben begeistern, und dass ich sie durch meine Worte weiter inspirieren und ermutigen kann! ♦

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Bei time4 planen die Jugendlichen ihre Grundbildung selbst. Das Angebot kann von einem bis acht Semester, als komplette Grundbildung oder als 10. Schuljahr genutzt werden. Der Non-Profit-Verein ist in der ganzen Deutschschweiz aktiv.

time4.ch


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Keine Bildung ohne Beziehung

Interview mit Matthias Burchardt

Was ist das Geheimnis gelingender Bildung? Ist es die Selbstbestimmtheit des Schülers, seinen Neigungen frei nachzugehen, oder doch die autoritäre Hand, die nicht müde wird, ihm Leistungsanforderungen zu stellen? Der Bildungsphilosoph Matthias Burchardt ist überzeugt: Wollen wir Bildung zurück auf die Pfeiler der Menschlichkeit stellen, ist Beziehung das Erste, was wir lernen müssen.

«DIE FREIEN»: Lieber Matthias, deiner Doktorarbeit hast du damals den schönen Titel «Erziehung im Weltbezug» verliehen. Was darf man sich darunter vorstellen?

Matthias Burchardt: Der Ansatz ist eigentlich der, dass sich der Mensch oft als isoliertes Wesen betrachtet hat. Insbesondere die Vorstellung des Subjektes in den Zeiten der Aufklärung hat uns auf uns selbst zurückgeworfen. Sie hat uns zwar viel Macht über die Natur und den Mitmenschen verliehen, aber uns zugleich auch einsam und verloren gemacht, sodass wir nicht nur in der Welt als Aussenseiter erscheinen, sondern auch gegenüber unseren Mitmenschen. Und meine Arbeit versucht eigentlich die Beziehungen, in denen wir stehen, wieder zum Thema zu machen. Da geht es nicht nur um den Weltbezug, sondern auch den Mit-Bezug, die soziale Dimension unserer Existenz, und um den Selbst-Bezug, also dass wir nicht nur einfach ein Ich sind, sondern auch eine dunkle oder eine Rückseite haben, die ich das Selbst nennen würde.

Inwiefern unterstützt die aktuelle Auffassung von Bildung derartige Formen von Beziehung?

MB: Ganz und gar nicht. In Deutschland werden OECD-Pläne ausgerollt, die nicht nur mit formalen Schulreformen verbunden sind, sondern auch mit einer neuen Formulierung des Bildungsbegriffs in Hinblick auf Kompetenzen. Hinzu kommt das «selbstgesteuerte Lernen». Das ist eine Modellierung des Lernprozesses, nach dem sich der Schüler gewissermassen unabhängig von Anleitung und pädagogischer Zuwendung einen Weg durch die Bildungslandschaften bahnen soll. Was dabei natürlich völlig fehlt, ist der Weltbezug im Sinne der Fachlichkeit. Die reine Kompetenzorientierung verzichtet auf das Wissen und die tatsächliche Weltbegegnung. Das selbstgesteuerte Lernen verzichtet auf die pädagogische Beziehung und das Verhältnis des Selbst zum Ich wird auch nicht als Bildungsdimension reflektiert.

Pläne, die auf Modellierungen und Steuerungsmechanismen beruhen … Inwieweit werden die Kinder in diesem Konzept überhaupt noch als Menschen gesehen?

MB: Also der Begriff der Selbststeuerung changiert zwischen zwei Aspekten: Er hat einmal eine scheinbare Emanzipations-Qualität, weil ich selbst steuere – also die Schule ist nicht mehr die «böse Schule» der autoritären Unterdrückung, sondern sie zwingt den Schüler fortan in einen Modus der Selbst-Unterwerfung. Nur ist diese Unterwerfung des «Sich-selbst-steuern-Müssens» eben kein pädagogisches Handeln, kein Bildungsprozess, sondern ein technokratischer und technomorpher. Also müssen wir, wenn wir die Schule kritisieren wollen, nicht nur darauf abheben, wie die Verhältnisse zwischen Lehrern und Schülern balanciert sind, sondern auch wie die Handlungsmodelle sind, – ob sie tatsächlich menschlich und frei sind, oder nicht doch technokratisch.

Seinem Wortursprung zufolge bedeutet Schule übersetzt so viel wie Musse. Also die Zeit, die wir mit dem verbringen können, was unseren eigentlichen Neigungen entspringt, ohne dabei durch die Handlungszwecke anderer fremdbestimmt zu werden. Brauchen wir, damit dieser ursprüngliche Gedanke von Schule und Bildung gelingen kann, eine andere Form von Beziehung?

MB: Ja, und auch eine andere Beziehung zu Zeit. Wir haben eine ziemlich starke Aufgabenverdichtung. Diese ganzen Arbeitsblätter, die der Schüler erledigen muss – er ist ja nicht nur mit Lernen beschäftigt, sondern bekommt obendrein die Lernorganisation aufgedrückt. Eigentlich ist mit den modernen Pädagogiken eine Form der Grossraumbüro-Mentalität von Projekt und Aufgabe in unsere Schulen eingekehrt. Seither herrscht in ihnen ein grosser Beschleunigungs- wie auch Pragmatismusdruck. Alles muss funktional und nutzbar sein, wohingegen die Musse Dinge gedeihen lässt, ohne dabei diesen äusseren Handlungsdruck zu erzeugen. Nicht um untätig zu bleiben, sondern um danach handlungsfähig aus der Schule herauszukommen. Denn die Schule ist eigentlich eine Schutzzeit. Sie wurde errungen, so wie auch die Idee der Kindheit kulturell geboren wurde und nun verteidigt werden muss.

Ich höre oft, das Einzige, was den Kindern fehle, um erfolgreich zu lernen, sei die Begeisterung. Wenn das Konzept Schule jetzt aber nicht darauf ausgerichtet zu sein scheint, dem Kind zu einem erfolgreichen Lernprozess zu verhelfen, stellt sich mir die Frage: Wem oder was dient sie dann?

MB: Begeisterung finde ich wichtig, aber es ist nicht das Einzige, was zählt. Es bedarf auch des Fleisses, der Geduld, der Übung, des Gehorsams, des Sich-Einlassens auf sachliche Erfordernisse und äussere Anforderungen, die allerdings dann nur gerechtfertigt sind, wenn

Schule wiederum ihre Bedingungen erfüllt, sprich eine verantwortungsvolle, behütende Lehrerschaft oder eine Atmosphäre, die mich von Druck befreit. Dass das Lernen nicht immer nur mit Lust und Freude zu tun hat, da bin ich mir nicht ganz sicher. Jeder, der mal ein Musikinstrument gelernt hat, weiss, dass es da auch Durststrecken gibt, über die man hinweg muss, um dann bei der Begeisterung zu landen. Wenn man nur mit der Begeisterung spielt, dann kommt man nicht weit.

Aber wem dient die Schule? Das ist eine gute Frage. Der Idee nach sollte sie der Entfaltung des Menschen als Individuum, als Person und als Subjekt dienen. Natürlich ist sie auch ein Ort, an dem so was wie staatsbürgerliches Handeln oder staatsbürgerliches Denken entfaltet wird. Das finde ich übrigens auch legitim. Aber sie ist eben kein Ort der Indoktrination. Und momentan dient sie eigentlich der Zubereitung des Menschen für bestimmte Verwertungszusammenhänge, dann aber auch eine Ideologisierung für bestimmte politische Konstellationen und vielleicht auch einer Beraubung von Aufklärungsmöglichkeiten und einer Desillusionierung in Hinblick auf die eigenen Handlungsmöglichkeiten im politischen Raum.

Kritisches Denken braucht Fantasie. Und für Fantasie brauchen wir die Verbindung zu unserer eigenen Vorstellungskraft. Wohin steuern wir, wenn uns beides genommen wird?

MB: Die Schule ist für mich grundsätzlich schon ein Ort, an dem so etwas entfaltet werden kann. Ich selbst bin sehr gerne zur Schule gegangen. Ich habe einen grandiosen Philosophie- und Deutschunterricht genossen, an dem ich zu dem Denker, zu dem Schriftsteller geworden bin, der ich heute bin. Das verdanke ich meinen Lehrern, die haben mich mit ganz viel Frischluft versorgt. Und das, obwohl es eine katholische Schule war, mit durchaus strengen moralischen Regeln.

Trotzdem gibt es den Vorwurf, dass Schule per se zerstörerisch sei. Das ist ein Narrativ, das von bestimmten Schulreformern immer wieder angeführt wurde, um die Bindung zwischen Schüler und Lehrer zu kappen. Da gibt es ein schönes Beispiel aus dem Kunstunterricht. Dort gibt es die Meinung, Kinder müssten sich selbst entfalten dürfen, man dürfe ihnen keine Anleitung geben und ihre Fantasie müsse völlig blühen. Was rauskommt, ist dann meistens eher bescheiden. Es sei denn, jemand ist von sich aus sehr begabt oder Autodidakt … Ganz anders sieht es aus, wenn man die Schüler pädagogisch anleitet. Gibt man den Kindern eine Wahrnehmungsschulung, guckt man genau hin auf die Wirklichkeit. Und wenn man ihnen die Techniken des Darstellens sorgsam beibringt und die Imaginationsmöglichkeiten darlegt, also das ganze Spektrum künstlerischen Tuns, erweitert dies ihr eigenes Spektrum der fantastischen Produktion und schränkt es nicht ein. Damit sind die pädagogische Anleitung und die Freiheit und Fantasie des Kindes nicht von vornherein konträr, sondern können in einer Ermöglichungsbeziehung stehen. Gleichwohl gibt es ein Interesse daran, die Fantasie und die Einbildungskraft zu limitieren, weil die Einbildungskraft natürlich das Vermögen ist, sich etwas vorzustellen, was nicht – oder noch nicht – wirklich ist. Das bedeutet auch, sich im politischen Raum Alternativen zum Gegebenen vorstellen zu können – «es könnte anders sein, es könnte besser sein». Und wenn ich das nicht lerne, dann fehlt mir die Übung, mir auch eine Alternative zur Realität vorzustellen. Man könnte sich also schon vorstellen, dass die Macht grosses Interesse an einer Unterdrückung oder Kanalisierung der Einbildungskraft hat.

Wie wird Schule zu einem Ort, den man lieben kann?

MB: Indem die Menschlichkeit wieder einkehrt, die personale Beziehung. Die Sachlichkeit muss wieder einkehren und die Fächer wieder selbst als Ausgangspunkt der Faszination zur Geltung kommen dürfen. Dazu muss der Unterricht als das grosse Drama, das grosse Ereignis einer Sachklärung, durch die ich zur Person und zum Menschen werde, in den Mittelpunkt rücken. Das könnte einerseits weniger sein in Richtung Stress und Schulorganisation, es könnte aber mehr sein an Qualität, Zumutung oder Zutrauen. Ich halte eben auch sehr viel vom Leistungsprinzip. Denn Leistung heisst für mich, sich an etwas zu bewähren. Ähnlich Schusters Leisten verlangen uns auch die Aufgaben der Welt Leistungen ab, an denen wir uns zu bewähren haben. Die Schule ist hierbei eine Art Bewährungsort, an dem ich mich an etwas, aber auch für etwas bewähren kann. Und wenn ich mich bewährt habe, bekomme ich Anerkennung, die nicht nur aus dem Lob der anderen, sondern aus der Begegnung mit der Sache herrührt. Ich bin dann zufrieden mit dem Werk, das ich vollbracht habe.

Unsere Auffassung von Leistung hängt oft auch stark davon ab, welche Beziehungsqualität wir in der Hinsicht von unseren Eltern erfahren haben. Je nachdem nehme ich Leistungsanforderungen vielleicht nicht als Überforderung wahr, sondern als Vertrauen, das man mir entgegenbringt, weil man an mich glaubt.

MB: Exakt. Übrigens bin ich auch für die Autorität. Autorität im Sinne einer Verantwortung, die jemand übernimmt, mit dem Ziel, sich selbst überflüssig zu machen. Darum geht es. Es muss jemand sein, an dem ich mich orientieren kann. Und Autorität wird nicht durch ein autoritäres Verhalten gestiftet, sondern durch die Anerkennung derjenigen, die sich mir anvertrauen. Und wenn ich weiss, der Lehrer will nicht über mich als Untertan herrschen, der nutzt die Autorität nur, um mich gross zu machen – gibt es was Besseres? ♦

von Lilly Gebert

***

Matthias Burchardt ist akademischer Rat am Institut für Bildungsphilosophie an der Universität zu Köln und stellvertretender Geschäftsführer der «Gesellschaft für Bildung und Wissen». Er ist entschiedener Kritiker der PISA- und Bologna-Bildungsreformen. Zuletzt erschien von ihm der Aufsatz «G8 als Baustein eines Reformputsches gegen die humanistische Bildungskultur» im Sammelband «weniger ist weniger: G8 und die Kollateralschäden».


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Der Weg zur Wahrheit

Nur allzu oft sitzen wir einem Irrglauben auf. Wir halten Dinge für wahr, die sich im Nachhinein als falsch herausstellen. Wir vertrauen auf wissenschaftliche Studien, die später durch andere Studien widerlegt werden. Wie um alles in der Welt soll man in diesem Durcheinander Richtig und Falsch auseinanderhalten? Welcher Quelle sollte man folgen, um die Wahrheit aufzuspüren?

Es gibt eine gute und eine schlechte Nachricht. Zuerst zur schlechten: Es gibt keinen einfachen, gemütlichen Abkürzungsweg zur Wahrheit. Ein uneigennütziges Wahrheitsministerium, das uns das Denken und Urteilen abnimmt, existiert lediglich in den Köpfen einiger Träumer. Doch jetzt zur guten: Es gibt Prinzipien, an die man sich halten kann, um der Wahrheit näherzukommen.

Orientierung an anderen

Einige denken, es sei eine gute Idee, sich am gesellschaftlichen Konsens zu orientieren. Was die Gesellschaft macht, die Mehrheit findet und die Stimmbürger entscheiden, wird schon irgendwie seine Richtigkeit haben, sonst würden es ja nicht so viele Leute tun. Wenn eine Mehrheit den Kapitalismus ablehnt, wird dieser wohl tatsächlich eine dysfunktionale Gesellschaftsordnung sein. Und wenn eine Mehrheit sich für eine Impfung entscheidet, muss diese wohl gesundheitsfördernd sein. Ein gewichtiges Problem mit dieser externen Wahrheitsquelle namens «Gesellschaft» oder «Mehrheit» ist, dass sie sich historisch oft geirrt hat.

Andere wiederum setzen bei der Wahrheitssuche auf Autoritäten. Das ist verständlich, wenn wir an unsere Kindheit zurückdenken: Wahr war, was unsere Eltern (und vielleicht auch unsere Lehrer) uns erzählten. Wir hatten keine andere Wahl, als ihnen zu glauben. Doch viele legen diesen blinden Glauben gegenüber Autoritäten auch als Erwachsene nicht ab. Nur dass dann «die Eltern» zum Beispiel mit «dem Staat» ersetzt werden. Dabei wird Staatsakteuren unterstellt, dass sie ihre Eigeninteressen schön brav wie Engel ablegen, sobald sie ein öffentliches Amt antreten. Was der Staat uns als «alternativlos» verkauft, wird schon irgendwie seine Berechtigung haben. Und sowieso macht der Staat ja nur, was die Wissenschaft ihm empfiehlt.

«Die Wissenschaft»: Hier wären wir bei einer weiteren Autorität, auf die sich viele stützen, die der Wahrheit auf die Schliche kommen wollen. Sie glauben, dass es da draussen Experten gibt, die von bestimmten Themengebieten mehr verstehen als sie selbst, was ja in der Tat so ist. Doch eine der fatalen Fehlannahmen besteht darin, zu meinen, dass es solchen Experten automatisch immer auch in erster Linie darum ginge, die Wahrheit zu ergründen und diese dann der Allgemeinheit zugänglich zu machen. Wissen ist Macht – und nicht alle haben ein Interesse an der Veröffentlichung ihres Wissens.

Wenn also beispielsweise die Pharmaindustrie Studien finanziert, so kommt dabei praktisch immer heraus, dass eine bestimmte Pille oder Impfung wirksam sei – einfach deshalb, weil diese Produkte grosse Profite in die Kassen der Pharmafirmen spülen. Herkömmliche (natürliche) Heilmethoden werden dabei gern verschwiegen, weil diese nicht patentierbar sind und sich damit viel weniger Geld verdienen lässt. Auch wird bei Studien gerne getrickst: Beispielsweise, wenn verschiedene klinische Endziele (wie Überlebenszeit, Blutdrucksenkung, Schmerzlinderung) getestet werden, aber nur die positiven Ergebnisse veröffentlicht und die negativen verschwiegen werden.

Innere Autorität: Die zuverlässigere Kraft?

Das Problem bei äusseren Autoritäten besteht also darin, dass sie korrumpiert sein könnten, ohne dass wir es mit Sicherheit überprüfen können. Natürlich können Gespräche mit weisen Persönlichkeiten, die es auf einem Gebiet weiter gebracht haben als wir, Inspiration und Denkanstösse bringen. Doch anstatt uns ausschliesslich auf andere zu verlassen, sollten wir bei der Wahrheitssuche vermehrt auf uns selbst setzen: Denn wir selbst sind uns unsere zuverlässigste Autorität. Nur wenn wir selbst uns auf die Spur nach der Wahrheit machen, können wir gewiss sein, dass wir von anderen nicht manipuliert, getäuscht und hereingelegt werden.

Natürlich können wir uns auch selbst einen Streich spielen. Das Unterbewusstsein ist sehr kreativ, wenn wir uns bestimmten Tatsachen (also der Wahrheit) verschliessen wollen, zum Beispiel, wenn wir auf Dinge stossen, die unsere bisherige Identität infrage stellen, die so einfach nicht in unsere Lebensweise und unser Weltbild passen. Doch in solchen Fällen geht es eben nicht mehr um die Wahrheitssuche, sondern darum, seine eigene Psyche zu schützen und sie nicht mit der schmerzhaften Wahrheit zu konfrontieren. Wir lassen dann die mentalen Barrieren runter, um unerwünschte Informationen nicht an uns heranzulassen. Doch wer sich so verhält, dem geht es primär nicht um Wahrheitssuche, denn Wahrheit muss man auch finden wollen.

Oftmals wird diese Selbstsabotage von unsicheren Menschen betrieben. Die eigene Psyche schützen muss vor allem, wer Angst davor hat, der Realität ins Auge zu sehen. Und diese Angst kommt von der Befürchtung, dass man zu schwach sein könnte, um damit klarzukommen. Ein wichtiger Weg zur Wahrheit ist also die Stärkung des Selbstvertrauens.

Für die Stärkung des Selbstvertrauens sind insbesondere die ersten Lebensjahre entscheidend. Wer viel Aufmerksamkeit und Liebe von seinen Bezugspersonen bekommt, ist sein Leben lang mit einer grösseren Portion Selbstsicherheit ausgestattet als jene, die diese emotionalen Grundbedürfnisse nicht im gleichen Umfang gestillt bekommen haben.

Doch an unserem Selbstvertrauen können wir auch arbeiten, indem wir uns ernsthaft mit uns selbst auseinandersetzen und uns fragen, wer wir tief in unserem Kern sind, was unsere Bestimmung ist, was wir besonders gut können und wie wir auch anderen dienen können. Sobald wir uns durch intensive Selbstbeschäftigung besser kennengelernt haben, können wir uns gezielter Dingen widmen, die unserem Leben Sinn spenden, die uns zutiefst erfüllen und in denen wir unsere Stärken ausspielen können. Diese Aktivitäten und die Erfolge, die uns dabei widerfahren, stärken uns: Wir vertrauen vermehrt uns selbst und somit auch unserem Urteil.

Vorsicht vor der Wissensanmassung

Dennoch sollten wir uns nie allzu sicher sein: Der Weg in die Hölle ist meist mit guten Absichten gepflastert und wird von Leuten entschlossen beschritten, die sich ihrer Sache besonders gewiss sind. Es kann also nicht schaden, eine gewisse sokratische Demut an den Tag zu legen, statt sich in platonischer Sicherheit zu wiegen.

Es reicht eben nicht aus, ein überzeugendes Buch zu einem Thema zu lesen und dann zu meinen, man wisse nun vollumfänglich Bescheid. Vielmehr sollte man sich zusätzlich bewusst Bücher suchen, in welchen andere Thesen vertreten werden. Der Wettstreit der Ideen ist ein besonders hilfreiches Instrument bei der Wahrheitssuche, denn wer nur einen Bildausschnitt anschaut, erkennt eben nicht das ganze Bild. Und auch wenn man sich zu einem absoluten Vollprofi in einem Thema mausert, sollte man sich vor Überheblichkeit und Eitelkeit hüten, denn es könnte ja sein, dass man immer noch nicht alle relevanten Faktoren berücksichtigt hat. Wer mit Demut an die Sache herangeht, masst sich auch nicht an, anderen seine Weisheiten per Gesetz vorschreiben zu wollen. Er ist sich bewusst, dass er womöglich lediglich den aktuellsten Stand des Irrtums vertritt.

Und dann gibt es auch noch Wahrheiten, die nicht für alle gelten, obwohl einige so tun, als sei dem so. Ein gutes Beispiel dafür sind die Ernährungswissenschaften, wo es etwa das «Low-Fat»- oder das «Low-Carb»-Lager gibt. Beide Seiten «beweisen» uns mit entsprechenden Studien, dass ihre Ernährungsweise die gesündeste ist. Doch weil wir nicht alle den einen selben Körper haben, gibt es eben auch nicht die eine richtige Ernährung. Daher sind wir auch hier besser beraten, auf unsere innere Autorität zu hören: In diesem Fall auf unseren eigenen Körper. Es gilt auszuprobieren, was uns gut tut.

Auch der Wert einer Sache ist nichts Universelles. Ein Wert ist immer subjektiv und leitet sich davon ab, welchen Beitrag er zur Erreichung unserer individuellen Ziele leistet. Es gibt keine Wissenschaft, die einen objektiven Wert von etwas feststellen könnte – und mag man noch so viele mathematische Formeln anwenden.

Um sich nicht im Dschungel der Millionen von Studien zu verlieren, empfiehlt es sich, eine Hierarchie der Wissenschaften zu befolgen. Zuoberst stehen die erfahrungsunabhängigen Wissenschaften: Alles, was der Logik, der Mathematik und der Praxeologie (Handlungslogik) – also den A-priori-Wissenschaften – widerspricht, kann nicht wahr sein. A-priori-Wissenschaften liefern uns Wissen durch logisches Nachdenken, also durch den Gebrauch unserer Vernunft (empirisches Testen ist dabei nicht nötig). 1+1 ist immer 2 (Mathematik). Den gleichen Apfel kann man nicht zweimal essen (Logik). Ein gesetzlicher Mindestlohn über dem Marktlohnniveau schafft tendenziell immer zusätzliche Arbeitslosigkeit (Praxeologie). Studien aus anderen Wissenschaftsgebieten wie den Natur- und den Sozialwissenschaften müssen zwingend mit den Erkenntnissen der erfahrungsunabhängigen Wissenschaften übereinstimmen, ansonsten können sie getrost verworfen werden.

Halten wir fest: Wenn wir uns auf der Suche nach Wahrheit befinden, ist unser innerer Kompass der zuverlässigste. Zwar kann auch er uns sabotieren und irreführen, doch dann liegt es in unseren eigenen Händen, diese Sabotageversuche zu unterbinden. Bei äusseren Autoritäten haben wir diese Möglichkeit nicht. Wir wissen schlichtweg nicht, ob es sich bei dem, was uns aufgetischt wird, um die Wahrheit handelt oder lediglich um verkappte Sonderinteressen, die uns als Wahrheit verkauft werden. Wahrheitssuchende bedienen sich primär ihrer innerer Autorität. ♦

von Olivier Kessler


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Die Waagschale des Lebens

Es gibt keinen Grund, die Urteilskraft eines gesunden Menschen anzuzweifeln. Als wirkmächtiges Vermögen, als essenzieller und existenzieller Pfeiler des Lebens prägt sie unser Leben auf allen Ebenen ständig, in allen Bereichen des Erkennens und Handelns. Das Leben trainiert unaufhaltsam die intuitiven und geistigen Muskeln der aktiven Urteilskraft, der Stellungnahme, der Entscheidung, der Handlung.

Hinter jeder Handlung, auch im Nichttun, liegt die Kraft unserer Gefühle und Gedanken – die Urteilskraft, die mich wählen und entscheiden lässt, bewusst oder unbewusst. Spätestens die Hirnforschung hat gezeigt, dass wir nicht anders können, als zu werten und zu beurteilen, und dass wir innert Millisekunden in den Kampf- oder Fluchtmodus schalten können. Urteilskraft ist die menschliche Grundlage und Voraussetzung zum Leben und Überleben, zur kreativen (Mit-)Gestaltung der Welt in all ihren Facetten.

Das gesunde, glückliche Kind nimmt die Natur einer Sache neugierig, mit offenen Sinnen und voller Interesse wahr. Ihm ist sonnenklar, was es als schön und gut empfindet und was als abstossend und schlecht. Ein kleines Kind kann diese Empfindungen zwar verbal noch nicht präzise zum Ausdruck bringen; es zeigt jedoch eindeutig ein intuitives Urteilsvermögen. Urteilskraft manifestiert sich als eine reine Kraft des Gefühls, als Urfunke des Herzens. Sie äussert sich unmittelbar in der Mimik und im Ton, entweder ungestüm oder besonnen, und frei von mentaler Überlagerung.

Im Gegensatz zu ihren Eltern haben Kinder einen Riesenspass, sich unmittelbar auf sich selbst und auf das eigene Körpergefühl zu verlassen: umfallen, aufstehen, purzeln, rollen, ausprobieren, tun und witzeln, dem Raumgefühl trauen, als «Blindekuh» tastend den Mitspieler erkennen und beim Namen nennen. Unabhängig von Wind und Wetter – im einfachen Spiel der Kinder liegt etwas Erhabenes. Sie transzendieren das Irdische, vernachlässigen es jedoch nicht. Keiner wird bevorzugt, niemand darf benachteiligt werden. Urteilskraft ist die Voraussetzung für Gerechtigkeit (iustitia). Sie ist die Kindertugend Nummer eins …

von Silvia Siegenthaler

Foto: Justitia an der Gerechtigkeitsgasse Bern, auf dem Gerechtigkeitsbrunnen. Sie ist die erste bekannte Darstellung der «blinden Gerechtigkeit» Justitia, vom Künstler Hans Gieng, aus dem Jahr 1543. November 2022 von Silvia Siegenthaler.


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Was ist Schönheit? Was ist Liebe?

Urteilsvermögen hat nichts mit Intelligenz zu tun. Intelligenz ist nicht einmal Voraussetzung dafür. Urteilsvermögen heisst Verstand. Das ist etwas ganz anderes.

Im Gegensatz zum Tier, das Dinge instinktiv wahrnimmt, kann der Mensch alles selbständig betrachten und beurteilen. Wäre der Mensch in seinem Denken nicht frei, könnte er nicht kreativ sein. Schon Jahrmillionen bevor es den Menschen gab, bauten Vögel ihre kunstvollen Nester. Trotzdem werden sie nie Kathedralen errichten. Aber sie werden auch nie Schlachthöfe bauen. Seit Jahrmillionen pfeifen, zwitschern und krächzen sie von den Bäumen. Trotzdem werden sie nie Oratorien komponieren. Aber sie werden auch keine elektronischen Verstärker aufstellen, um den ganzen Wald mit ihrem Gekrächze zu beschallen.

Der freie Wille unterscheidet uns vom Tier. Das Tier kann die Dinge nicht frei beurteilen, verfügt dafür über einen Instinkt. Der Mensch hingegen ist völlig frei in seinem Denken, was Voraussetzung ist für sein kreatives Schaffen. Diese Freiheit birgt die Gefahr in sich, dass er Fehler begeht. Dank seiner Freiheit kann der Mensch über sich selbst hinauswachsen aber auch unter sich selber hinabsinken. Den Unterschied macht seine Urteilskraft. Zu deren Bildung hat der Liebe Gott dem Menschen die Vernunftbegabung geschenkt. Wäre die Vernunft mehr als eine Begabung, handelte es sich um einen Instinkt, wie ihn Tiere haben, und ein solcher würde uns einschränken in unserer Willensfreiheit. Diese besondere Vernunftbegabung ist Grundlage unseres Urteilsvermögens und muss gefördert und geschult werden, damit wir Urteilskraft erlangen. Ob der Mensch seine Freiheit nutzt, um Opernhäuser zu errichten oder Foltergefängnisse zu bauen, ein Ballett zu choreographieren oder eine Militärparade, hängt davon ab, ob seine Vernunftbegabung während seiner Kindheit und Jugend gefördert oder vernachlässigt wurde.

Mit unseren materiellen Sinnesorganen wie Augen, Nase und Ohren beurteilen wir die Dinge nach deren materiellen Beschaffenheit. Materielle Messinstrumente wie Senkblei, Wasserwaage oder Rasterelektronenmikroskop verstärken unsere materiellen Sinnesorgane. Zur Beurteilung geistiger Eigenschaften bedarf es geistiger Sinnesorgane. Diese umfassen unter anderem das Gewissen und die Intuition und bilden unser Urteilsvermögen. Deshalb sagen wir über einen lieben Menschen, der in seinem Aussehen nicht gerade den Schönheitsidealen entspricht, er besitze innere Schönheit. Und aus demselben Grund interessiert sich ein guter Mensch wenig für Militärparaden, selbst wenn diese schön choreographiert sind.

In östlichen Lehren unterscheidet man zwischen Intelligenz und Verstand. Intelligenz wird als reine Rechenkapazität des Gehirns definiert. In unserer digitalen Welt ist jeder Toaster intelligenter, als wir es sind. Intelligenz, Gefühle und Triebe werden betrachtet als Kinder, die weder unterdrückt noch vernachlässigt werden dürfen, sondern der liebevollen Aufsicht, Erziehung und Förderung bedürfen. Der Verstand ist das erwachsene Element. Intelligenz ist bloss Hubraum. Verstand ist ein Kompass. Hubraum ist verheerend, wenn man in die falsche Richtung fährt. Wer versucht, die gesamte Menschheit mit mRNA-Technologie genetisch zu verbessern, muss über viel Intelligenz verfügen und darf keinen Verstand haben. Deshalb riet Pestalozzi, zuerst Herz und Hand zu schulen und dann erst den Kopf. Mit Herz ist die Urteilskraft gemeint. In unserem Bildungssystem wird aber zuerst der Kopf geschult und dann der Kopf und dann noch der Kopf. Das erklärt einiges. ♦

von Andreas Thiel


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