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Autor: Daniel Wirz

Jedes Kind hat seinen Ton

Immer wieder neu beschäftigt mich die Frage, was im Wesentlichen eine gute Schule ausmacht. Anfänglich waren es eine ganze Reihe von Voraussetzungen, aber von Mal zu Mal wurden es weniger. Und diese Wenigen sind auch schon alles: Die Qualität einer Schule entscheidet sich nämlich in erster Linie an der Art, wie Lehrerinnen, Lehrer und Eltern über Kinder und die Welt denken – und fühlen.

Rudolf Steiner begründete die erste Waldorfschule, indem er die künftigen Lehrer in einer Reihe von Vorträgen («Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik») mit seinem Menschen- und Weltbild vertraut machte. Insbesondere ging es ihm dabei natürlich um das Kind, sein Wesen, seine Entwicklung und den Zusammenhang mit uns erwachsenen Menschen, der Welt überhaupt. Was er in diesen Vorträgen inhaltlich anspricht, sprengt den Rahmen des Gewöhnlichen bei Weitem. Er versetzt uns mit dem, was er als «Grundlagen der Pädagogik» vorbringt, ganz schön ins Staunen. Steiner macht so etwa deutlich, dass allem voran eines gelingen müsste, nämlich, dass wir in der Begegnung mit den uns anvertrauten Kindern unser Ego erstmal in den Hintergrund rücken. Ein Kind, betont er, ist nur als etwas denkbar Grosses zu verstehen, und solange uns das «kleine Ego» im Wege steht, sind wir kaum in der Lage, etwas von der Grösse des werdenden Menschen zu erfassen.

Abschied nehmen vom Ego: Das ist schnell gesagt, aber schwergetan, sitzt es doch tief, dieses ängstliche Festhalten am Eigenen. Nur sehr zögerlich sind wir bereit, etwas davon loszulassen, weil es vermeintlich Halt vermittelt und die drohende «Leere» Angst macht.

Still werden in der Hektik des Alltags

Jeder Mensch, so auch jedes Kind, hat seinen ganz eigenen, unverwechselbaren «Ton». Ihn gilt es zu erlauschen, wollen wir ihm gerecht werden. Zu diesem Zweck müsste es – in und um uns – vorerst einmal still werden. Wie soll das in der Hektik unseres Lebensalltags gelingen?

Rudolf Steiner hat da seine ganz eigene Methode. Im Wesentlichen geht es ihm darum, uns frei zu machen, frei von allen «Behinderungen», die uns das vordergründige Leben in dieser Welt unvermeidlich auferlegt. Wie schnell legen wir uns fest, fällen Urteile, deren Tragweite wir nicht im Geringsten erfassen. Wer wagt es, sich in aller Bescheidenheit einzugestehen, dass er nicht viel weiss und nur ganz wenig wahrhaft versteht? Aber gerade dies müsste gegeben sein, wenn wir für Neues, bislang noch niemals Gedachtes, geschweige denn Beobachtetes oder gar Erfahrenes offenbleiben wollen.

Ich erwähne als Beispiel für «Behinderungen», wie ich sie verstehe, den so weit verbreiteten «defizitorientierten» Blick auf Kinder. Da findet seit einiger Zeit ein gewisses Erwachen und Umdenken statt. Gott sei Dank! Nur – was tritt an seine Stelle? Der ressourcenorientierte Blick? Was ist damit gemeint? Welche Haltung steht dahinter? – Fragen über Fragen! Manche Frage einmal offenhalten, anstelle vorschnell zu urteilen – gerade diese Neigung möchte Steiner in uns wecken, um eines Tages in die «Antwort hineinleben» zu können (Rilke).

Seelisches Atmen, seelisches Schlafen

Für das «Ankommen» der Kinder in dieser Welt ist es von grosser Bedeutung, sagt Rudolf Steiner, dass sie vorerst einmal richtig «atmen» und «schlafen» lernen. Klingt reichlich trivial. Ist es aber nicht. Steiner spricht nämlich in erster Linie nicht das physiologische Atmen und Schlafen an, sondern meint das seelische «Atmen» und «Schlafen». Was meint er damit?

Im Atmungsvorgang spiegelt sich eine Urgebärde: Aufnehmen und abgeben, zu sich kommen und in die Welt ausströmen. Ein- und Ausatmen lösen sich beständig ab. Die Luft, die wir einatmen und die, die wir ausatmen, ist nicht die gleiche. Worin unterscheiden sie sich? So wie wir tagein tagaus atmen, nehmen wir Eindrücke auf. Etwas davon geben wir wiederum in die Umgebung ab, und sei es einmal auch nur ein Lachen oder Weinen. Was wir wahrnehmen, lässt uns nicht unberührt. Es macht etwas mit uns. Sind es besonders heftige Eindrücke, liegt dies auf der Hand. Aber natürlich geschieht es grundsätzlich mit jeder Erfahrung.

Kinder kommen, wenn sie geboren werden, aus der «Weite» (der geistigen Welt) in die «Enge» (ihres Leibes). Einatmen «beengt», Ausatmen «befreit», wie es Goethe so treffend charakterisiert – beides sollte sich die Waage halten, sonst geraten wir aus dem Gleichgewicht: «Danke Gott, wenn er dich presst und danke ihm, wenn er dich wieder entlässt.»

An uns Erziehern ist es, über die Art und Menge der Eindrücke, die wir Kindern zumuten, zu wachen. Dass zu viele Eindrücke, was im Leben mancher Kinder heute der Fall ist, Kinderseelen bedrängen, liegt auf der Hand. Genauso wichtig wäre natürlich auch, die Art der Eindrücke zu prüfen. Vermag sie die Kinderseele überhaupt zu verkraften? Noch besser: Sind sie geeignet, unsere Kinder zu nähren? Erlaubt sei auch die Frage: Vermitteln wir den Kindern in der Schule «Steine» (nicht zuträgliche Kost) oder «Brot» (Seelennahrung)?

Mit «Brot» können sich Kinder verbinden. Mit «Steinen» nicht, sie bleiben (unverdaulich) «im Magen liegen» und belasten das Kind. Was geschieht, wenn es einschläft und seelisches Verdauen anstünde? Hat das vielleicht mit Blick auf den Weg in die Nachtwelt zur Folge, dass es gleichsam «ohne Proviant» unterwegs ist und seelischen «Hunger» leiden muss? Was sich tagsüber in unserem Leben tut, «lebt» nachts fort, wird vertieft und an bereits gemachte Erfahrungen gleichsam «angebunden». Was passiert dabei mit dem «Unverdaulichen»? Eben: Es liegt auf, hemmt uns – und die Kinder – im Vorankommen in der «anderen Welt».

Wachsames Hinschauen und Hinhören

Ich töne mit diesem Beispiel nur einmal an, in welche Richtung Steiners Gedanken gehen. So ahnt man vielleicht, was von uns gefordert ist, wenn wir seine Anliegen umsetzen wollen. Unvoreingenommenheit und die Bereitschaft, gar manches im Lebensalltag mit Kindern noch einmal viel genauer zu beobachten und zu bedenken, ist uns abgefordert. Denn was Steiner hier vorbringt, gilt es im Alltag zu überprüfen. Nichts war ihm selber mehr zuwider, als dass die Leute ihm einfach (blindlings) glaubten.

Eine Frau, die zeitlebens mit kleinen Kindern arbeitete, meinte einmal auf die Frage nach dem Schlüssel für das Gelingen ihrer Arbeit: «Alles eine Frage des wachsamen Hinschauens und Hinhörens. Der Rest ergibt sich von alleine.» Auch wenn mir ihre Antwort im ersten Moment fast etwas zu simpel vorkam, muss ich ihr heute Recht geben. Aber wie gesagt: Was vielleicht ganz einfach klingt, will erst ausdauernd erübt werden. Dabei wird es in einem ersten Schritt darum gehen, sich in der Zurücknahme seiner selbst zu üben. Erst wo wir in diesem Sinne schrittweise leer und immer leerer werden, öffnet sich in uns ein Raum, in dem sich etwas vom verborgenen Wesen des anderen Menschen offenbaren kann. Und aus der vermeintlichen Leere wird Überfülle! ♦

von Daniel Wirz


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Die Schule von morgen

Wo Menschen einander wahrhaft begegnen, sich nahekommen und füreinander offen sind, können «Orte der Kraft» entstehen. So etwas kann ich mir auch für die Schule vorstellen. Noch sind wir nicht soweit. Etliches wird sich noch bewegen müssen.

Schule ist heute noch für manche Kinder ein angstbeladener Raum oder gar ein Ort des Schreckens. «Schule kann einem das Leben kaputt machen!», meinte unlängst ein neunjähriges Mädchen zu seiner Mutter. Es ist ein Ort, an dem Kinder «daran gewöhnt werden, Langeweile zu ertragen», wie Frithjof Bergmann es ausdrückte. Ein Ort der Leere, statt der Lehre. Ein Ort, wo Kinder auf ihre Defizite reduziert werden und sich als Menschen, wie sie sind, kaum angenommen, geschweige denn respektiert fühlen. Ein Ort, an dem mit viel Druck und wenig «Sog» gearbeitet wird.

Ich habe eine Vision von Schule. Vielen Lehrpersonen fehlt es heute an Visionen. Das lässt Schule oft so saft- und kraftlos, so flügellahm erscheinen. Und in einem derart perspektivlosen Umfeld sollen Kinder gross werden? Gross, stark, mutig und lebensfroh? Wie manche Schule dümpelt, als notwendiges Übel einfach hingenommen, freudlos vor sich hin? Wo bleiben die beflügelnde Begeisterung, die Wärme, der frische Wind?

Keine Schule ohne Visionen! Denn eine Schule ohne Visionen ist eine Schule ohne Zukunft, und das wollen wir keinem Kind zumuten. Auch keinem Kollegium. Vergessen wir nie: Mit jeder Kindergeneration ist der Welt ein Riesenpotenzial geschenkt.

Schulen im Reformstau

Gegen Reformen, gegen einen beständigen Wandel der Schule, wäre gar nichts einzuwenden, solange sie der Initiative des einzelnen Lehrers, der einzelnen Lehrerin entspringen. Das ist aber leider in der Regel nicht der Fall. Es sind von oben herab verordnete, aufgezwungene Reformen, die die Initiativkraft des einzelnen Lehrers, der einzelnen Lehrerin korrumpieren. Die jüngste OECD-Lehrerstudie gibt uns recht, wenn sie sagt: «Hoch engagierte Kollegen scheitern zu oft an rigiden Verwaltungsvorschriften, die wenig Raum für das persönliche Engagement schaffen.» Lehrkräfte fühlen sich übergangen, zu Vollzugsbeamten degradiert und entmündigt. Kein Wunder, dass sich so viel Frust breitgemacht hat.

Die Fakten sprechen eine unmissverständliche Sprache: 90 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer drehen ihrem Beruf nach durchschnittlich nicht einmal sechs Jahren für immer den Rücken zu. Man bedenke: Die Ausbildungskosten für einen Primarlehrer belaufen sich in der Schweiz auf zirka 200`000 Franken.

Ein Grossteil der im Beruf stehenden Kolleginnen und Kollegen leidet an psychosomatischen Beschwerden, ist ausgepowert, harrt aus, solange es gerade noch geht. Fast alle beklagen sich über das Übermass an Erwartungen seitens der Eltern. Hinzu kommen die vielen schwierigen Kinder, der Spardruck…

Und die Kinder, wie geht es ihnen?

Ich denke, wir unterschätzen die Not der Kinder bei Weitem. Nahezu die Hälfte der Zeit, die Schulkinder zu Hause verbringen, sind sie ganz alleine. Mit 12 Jahren hat ein Kind etwa 9000 Stunden in der Schule und 250`000 Stunden vor der Glotze verbracht. Bei einer Grosszahl der Kinder ist, laut neusten Untersuchungen, der Sehwinkel heute auf 70 Grad reduziert. Normal wären: 220 Grad! Das Fernsehen, der Kreativitätskiller Nummer eins, bringt viele Kinder während täglich durchschnittlich 250 Minuten (!) um ihr Lebenselement: Bewegung. Entsprechend leidet in Amerika schon heute jedes vierte Kind an Fettleibigkeit.

Ein Vater spricht heute im Durchschnitt noch ganze 20 Minuten pro Tag mit seinen Kindern. Bildungsbehörden in Deutschland haben auf diese alarmierenden Zustände reagiert und allen jungen Eltern die Broschüre «Sprich mit mir!» abgegeben. Sie enthält nichts anderes als eine Reihe von Tipps, wie und worüber man mit den eigenen Kindern reden könnte!

In Deutschland hat man unlängst festgestellt, dass 60 Prozent der Schulanfänger Haltungsschäden aufweisen und dass bei 40 Prozent der Kinder der Kreislauf geschwächt ist. Bei über 50 Prozent der Kinder wird ausserdem vor Schuleintritt eine Sprachstörung diagnostiziert. In der Stadt Zürich kommen zurzeit 60 Prozent der Zweitklässler ohne Nachhilfe nicht mehr über die Runden.

Der Anteil an sogenannt «schwierigen Kindern» nimmt beständig zu. Auch die Anzahl derer, die Schule schlechthin verweigern. Wohlgemerkt: In ausserschulischen Projekten – im Wald, auf dem Bauernhof – sind diese Kinder ganz unauffällig, leben förmlich auf! In der Schule versucht man sie mit gewaltigem und inzwischen unbezahlbarem Aufwand zurechtzubiegen, was aber in vielen Fällen gar nicht mehr gelingt. Manche werden schliesslich «ausgemustert», in Sonderklassen oder Heime abgeschoben.

Es ist «kalt» geworden

Die sehr ernüchternden Resultate der PISA-Studie bringen es nach meiner Einschätzung an den Tag: In manchen Schulen Europas ist es «kalt» geworden.

Doch wieso schwingen in der ominösen Studie die finnischen Schulen ganz obenauf? In Finnland wird in einer Präambel des Lehrplans mit Nachdruck hervorgehoben, dass es den Kindern in der Schule primär gut gehen soll, und dies im umfassenden Sinne. Gesundheitsfürsorge, Sozialarbeiterinnen, Psychologinnen und Förderlehrerinnen stehen den Lehrern dort helfend zur Seite. Die gemeinsame Sorge um das Wohlergehen des einzelnen Kindes ist das A und O allen Unterrichtens, da werden offensichtlich ganz andere Prioritäten gesetzt. In Finnland ist die Schule für die Kinder da, und nicht umgekehrt.

Kinder gedeihen in der Tat nur, wenn ihnen Wärme, Geborgenheit, Zuwendung und Aufmerksamkeit zukommen. Andernfalls gerät auch das Lernen ins Stocken. Lernstörungen treten eigentlich immer dann auf, wenn im Umfeld der Kinder etwas nicht stimmt. Wenn jetzt bloss die Störung wegtherapiert wird, ist weder dem Kind noch der Schule in irgendeiner Art geholfen.

Doch nicht nur in manchen Schulen ist es kalt geworden, sondern auch in manchen Elternhäusern: In vielen Familien sind beide Elternteile berufstätig. Viele Kinder sind tagtäglich über Stunden nicht betreut oder werden in Krippen abgeschoben. Manche kommen völlig übermüdet und ohne Frühstück zur Schule. Mahnrufe seitens der Lehrkräfte und Schulbehörden bleiben wirkungslos. Da muss doch die Schule in die Lücke springen! Wer denn sonst?

Wie heilen?

Jede Schule müsste heute den heilenden Ansatz stärker ins Zentrum rücken, wenn sie nachhaltig und präventiv wirken soll. Alles andere können wir uns gar nicht mehr leisten!

Wer heute gut hinschaut, weiss, dass es nur eine Schulform gibt, welche die gegenwärtige Not vieler Kinder effektiv zu lindern vermag: die Tagesschule. Schule als Grossfamilie. Schule als Ort der Begegnung, der Wärme, Geborgenheit und Verlässlichkeit. Ein Ort, den Kinder immer dann aufsuchen können, wenn es «kalt» um sie herum wird. Ausserdem: Schule als angstfreier Raum. Denn Angst lähmt alles, insbesondere die Entwicklung unserer Kinder.

Ich plädiere hier für eine neue Schulkultur! Nach PISA aber reden fast alle davon, Schulstrukturen zu verändern. Das ist Kosmetik, nicht mehr. Über Jahrzehnte haben wir nun schon an der alten Schule «herumgeflickt». Aber sie hat ausgedient.

Schule muss in der Tat ganz neu werden, von der Basis auf. An der Basis sind die Lehrerinnen, die Lehrer und die Eltern. In ihre Hände ist die Neugestaltung der Schule vertrauensvoll zu legen. Das heisst: Befreiung der Schule von der staatlichen Aufsicht. Abschaffung der verbindlichen Lehrpläne.

Gleichstellung der Alternativschulmodelle mit der sogenannten Staatsschulpädagogik. Befreiung der Lehrerinnen und Lehrer von sämtlichen Zwängen! Damit hat Finnland wohlgemerkt schon in den 1960er-Jahren ernst gemacht. Und, wie man sieht, mit messbarem Erfolg.

Schule «mit Hand und Fuss»

Was eine zukunftsvolle Schule ausserdem existenziell braucht, ist die entschiedene Aufwertung des künstlerisch-handwerklichen Bereichs. Nicht bloss als Ausgleich zum Kognitiven; ich rede von Kunst als Allheilmittel in einer rundum heillosen Zeit – als das Mittel zur Individualisierung und Erziehung zur Innerlichkeit. Kunst und Handwerk müssen als wesentliche Mittel zur Bildung des Menschlichen schlechthin endlich ihren festen Platz im Fächerkanon erhalten. Sie allein vermögen die allenthalben anzutreffenden Einseitigkeiten auszugleichen.

Mit jeder Stunde Handwerk oder Kunst, die wir aus dem Stundenplan streichen, handeln wir uns auf längere Sicht eine oder mehrere Therapiestunden ein. Was für ein Widersinn! Dennoch sind es regelmässig diese Fächer, die der Sparfuchtel zum Opfer fallen.

Schule – krankmachend oder gesundheitsfördernd?

Über den Wert oder Unwert einer Schule wird in naher Zukunft insbesondere die Frage entscheiden, ob sie die Kinder gesund erhält. An dieser Stelle gilt es allerdings festzuhalten, dass alles an der Schule gesund oder eben krank machen kann. Ich rede hier also weder von Drogenprävention noch von anatomisch optimiertem Schulmobiliar oder der Aufklärung in Ernährungs- und Gesundheitsfragen. Gesund oder krank macht primär die Schulatmosphäre, der «Geist oder eben Ungeist einer Schule». Ich denke an unterschiedliche Unterrichtsstile, an Kolleginnen und Kollegen, die mit viel Druck und Angst operieren oder andere, die auf geheimnisvolle Art den Kindern manch Ungeahntes entlocken. Ich denke aber auch an die «Kopflastigkeit» der Schule und die damit einhergehende Vernachlässigung der Herzenskräfte. Eine Kollege plädierte da unlängst sehr treffend für «weniger Hoch- aber mehr Tiefschulen»! Darauf gilt es also unsere ganze Aufmerksamkeit zu lenken. Alles andere ist zweitrangig.

Keine Verschulung der Kindheit

Mit grosser Wachheit gilt es zu verhindern, dass es zu einer Verschulung der Kindheit kommt. Wir ruinieren damit in dramatischem Ausmass die seelisch-leibliche Gesundheit der Kinder, wie eine Vielzahl von Studien weltweit unmissverständlich belegt. England, das die frühe Einschulung seit Jahrzehnten kennt, beklagt seit einiger Zeit ein veritables «early-childhood-disaster» und will nunmehr wieder später einschulen. Dass gerade als Folge des PISA-Schocks allenthalben der Schrei nach «früher ran!» – also nach früherer Einschulung – ertönt, ist in Anbetracht dessen fatal.

Vergleiche nie ein Kind mit einem andern

Schliesslich sei eine ressourcen- anstatt defizitorientierte Schule gefordert, also eine Schule, die Abstand von der Vorstellung der Schule als Reparaturwerkstatt nimmt und jedem Kind seinen eigenen Weg zubilligt. Ich wende mich hier gegen alles Normative in der Pädagogik. Remo Largo wurde unlängst gefragt, in welchem Alter Kinder heute denn lesen lernten. «Zwischen drei und dreizehn!» – «Aber wann normalerweise?», wurde nachgedoppelt. Largo: «Zwischen drei und dreizehn.» Den individuellen Lerntempi der Kinder ist vermehrt Rechnung zu tragen, auch ihrem eigenen Lernstil. Damit ist die individualisierende Schule gemeint.

Schule live oder online?

Hartmut von Hentig spricht in einem seiner neusten Bücher von dem «nicht ganz allmählichen Verschwinden der Wirklichkeit aus den Schulen». Hentig macht dafür insbesondere das Überhandnehmen der Medien im Schulalltag verantwortlich. «Schulen ans Netz!», heisst die Parole. An welches Netz ist da nur die Frage? Ich meine ganz entschieden: ans Lebensnetz! Wie sollen Kinder mit so viel Scheinwelt umgehen, sie, die doch immer und überall das eine suchen: das unmittelbare Leben. Wenn sie es nicht finden, hat ihr Suchen kein Ende und die Sucht ist nahe.

Schule für das dritte Jahrtausend

Welche Schule also braucht es im dritten Jahrtausend? Eine rundum neue. Was hier erwähnt wurde, ist bloss als richtungweisend zu betrachten. Darüber hinaus muss ein weites Feld offen bleiben. Ein hohes Mass an Improvisationsgabe wird gefragt sein. Aus dem Moment, aus der unmittelbaren Begegnung heraus, muss die Schule am besten Tag für Tag neu werden – und sich, wie alles, was wächst, beständig wandeln. ♦

von Daniel Wirz


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Krampfhaft am Puls der Zeit?

Die Schule ist bemüht, den Anforderungen des Lebens gerecht zu werden, was bei raschen Veränderungen leicht zu einem «Reformstau» führen kann. Bei vielen Lehrerinnen und Lehrern – meinen Kolleginnen und Kollegen – stellt sich nach und nach ein mir durchaus verständlicher Überdruss ein. Viele sehnen sich danach, einfach wieder einmal so zu unterrichten, wie sie es – als Fachkräfte – für richtig und zeitgemäss halten. Manche fühlen sich bevormundet und in ihrem Schulalltag mehr gestört denn unterstützt oder gar gefördert.

Die ausufernde Bürokratisierung in nahezu allen Lebensbereichen, so auch in der Schule, entpuppt sich mehr und mehr als Übel, das wie ein Krebsgeschwür unkontrolliert wächst. Lehrpersonen berichten mir heute, dass sie nach getaner Arbeit – nebst Nach- und Vorbereitung des Unterrichts – auch noch eine Stunde oder mehr damit verbringen, detaillierte Beobachtungen zu einzelnen Kindern am Computer einzutragen. Über jedes Kind, seine Taten und Untaten, sein Verhalten, seine Leistungen und sein Versagen muss Buch geführt werden. Man weiss ja nie! Sollten Eltern Einwände oder Kritik anmelden, muss mithilfe umfänglicher Dokumentierung darauf reagiert werden können.

Dieses krampfhafte «dem Puls der Zeit» gerecht werden könnte aber in die Irre führen. Ich will an einem Beispiel deutlich machen, was ich meine.

Im Silicon Valley, der Hochburg der weltumspannenden Digitalisierung, leben naturgemäss viele Kinder, deren Eltern in der Computerbranche tätig sind. Was erstaunen mag: Die meisten schicken ihre Kinder nicht in staatliche Schulen. Ausgerechnet in dieser Gegend schiessen seit Jahren Alternativschulen wie Pilze aus dem Boden. So etwa auch eine ganze Reihe von Rudolf Steiner Schulen. Warum?

Menschen, die ihre Arbeitskraft in die Entwicklung digitaler Systeme stecken, legen grossen Wert darauf, dass ihre Kinder – Achtung! – bis zur Vollendung ihres zwölften oder gar vierzehnten Lebensjahres vom Kontakt mit der ganzen Palette elektronischer Geräte (Handy, Laptop, Tablet usw.) bewahrt bleiben.

Wenn man sich nach ihren Motiven erkundigt, erhält man Antworten wie: Das Gefahrenpotenzial (Sucht) übersteigt bei Weitem den pädagogischen Nutzen. Oder: Das zu frühe Eintauchen in diese künstliche Welt entfernt die Kinder vom unmittelbaren Leben. Oder: Kinder lernen, wenn sie sich körperlich bewegen – nicht, wenn sie sitzend einen Bildschirm anstarren. Oder: Der verfrühte Umgang mit technischen Geräten kann die natürliche Entwicklung der Kinder nachhaltig behindern. Ihre Argumente sind durch unzählige Untersuchungen weltweit längst belegt. Erste Länder haben dieser unseligen Entwicklung auch schon den Rücken zugekehrt. Warum hören wir nicht auf sie?

Wenn ich nach dem pädagogischen Nutzen der teuren Geräte im Unterrichtsalltag frage, erhalte ich auch hierzulande ein resigniertes Schulterzucken. Im Sinne von: Das auch noch! Wozu überhaupt? Uns hat niemand gefragt. ♦

von Daniel Wirz

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Daniel Wirz ist Erwachsenenbildner, Buchautor, Vater von fünf Kindern und war 20 Jahre als Lehrer und Mitbegründer an einer Rudolf Steiner Schule tätig.


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