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Kosmische Lebensgefühle

Im Gespräch mit Uli Fischer

Wer sind wir im Zusammenspiel mit der Natur und ihren Wesenheiten? Schöpfer oder doch Zerstörer? Erschaffer oder Weltenhasser? Wie können wir unser Bewusstsein entwickeln, ohne die Natur, und damit das Leben als solches, zu verraten? Wir sprachen mit dem Autor und Musiker Uli Fischer über die «kosmische Aufgabe» des Menschen.

«DIE FREIEN»: Lieber Uli Fischer, wie lässt sich das heutige Verhältnis des Menschen zur Natur beschreiben?

Uli Fischer: Allgemein gesprochen kann man von einem manipulativ-machtförmigen Umgang des modernen Menschen mit der Natur sprechen. Wir verhalten uns übergriffig, kontrollierend, nutzend-vernutzend, grob und subtil destruktiv – und in vieler Hinsicht vollkommen ahnungslos oder ignorant in Bezug auf die wirklichen Zusammenhänge, die wir meinen nach Gutdünken umgestalten zu dürfen und zu können. Das ist dann in der Konsequenz Transnaturismus/Transhumanismus: Alles ist freigegeben zur grossen Verbesserung – mit den fatalen Folgen der Machtausdehnung und Kontrolle bis in den letzten Winkel des Gestirns.

Wie erklärst du dir diese Abgespaltenheit des Menschen vom Naturzusammenhang?

UF: Ich gehe von diesem Grundgedanken aus: Wir selbst gehen als seelische Wesen aus den Naturreichen hervor, haben diese Stufen der Bewusstseinsentwicklung seelisch «hinter uns», sonst wären wir als Menschen nicht präsent und wären auch nicht in Urresonanz mit der Natur. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling hat sinngemäss gesagt: «In der Natur sehen wir unsere eigene Bewusstseinsentwicklungs-Geschichte.» Wenn wir diesen Aspekt nicht zumindest ansatzweise gelten lassen, dann haben wir gar keine Möglichkeit, etwas in der Tiefe von unserem Mensch-Natur-Verhältnis zu verstehen. Tat tvam asi. Das alles bist du – aber wie?

Lässt sich hier noch von «kosmischem Schicksal» sprechen, oder ist das bereits selbst gewählte Verdammnis?

UF: Wir sehen hier wahrscheinlich zwei Seiten einer Medaille und können beides bejahen. Prinzipiell gehen wir zunächst von einem selbst geschaffenen Schicksal aus, das in eine Verdammnis führen kann. Wenn wir uns kollektiv gegen ein Mitschöpfertum entscheiden, dann ist ein Bewusstseinsregress die logische Folge. Wenn uns ein Einsehen in Sinn und Mitwirkungsmöglichkeit respektive -pflicht im schöpferischen Plan der Erde gelingt, dann entwickeln wir transformatorische Kraft.

Du schreibst von einem «schöpfungsnotwendigen Denken». Wie sähe dieses aus?

UF: Gemeint ist, dass wenn wir uns Sinn und Zweck der Schöpfung annähern, dass dann auch unser Denken und Handeln an diese Erkenntnishorizonte schöpferisch angepasst werden könnte und müsste. Schöpfungsgemässes Denken ist vielleicht korrekter. Wir können der höheren Intelligenz dieses Weltprozesses zuarbeiten im Rahmen der Talente und Erkenntnismöglichkeiten – wenn wir die höhere Intelligenz als eine Wirklichkeit akzeptieren und unsere gegebenen Wirkungsmöglichkeiten leben.

Worin besteht für dich dieser Weg, des Menschen Augen wieder für die Fülle der Schöpfung zu öffnen?

UF: Für mich ging es auf meinem Weg – durch das Zeichnen und Malen, Musizieren, Gedichte schreiben, Meditieren und so weiter – darum, selbstheilend empfänglicher zu werden für die kosmischen Impulse. Mit unterschiedlichem Erfolg. Das materialistische Weltbild, das mir in Kindheit und Jugend vermittelt wurde, konnte ich überwinden. Ein spirituelles Grundverständnis des Weltganzen ist mir prinzipiell erwachsen. Doch dann beginnt der eigentliche Weg der konkreten Ausgestaltung des Weges. Und da gab es jede Menge Umwege, auch Abwege, Rückkehr und Besinnungen. Ich befürworte heute eine transzendentale Naturphilosophie, die den Menschen auf dem Weg sieht zu einem umfassend mitschöpferisch tätigen Wesen, dessen Ziel auch die Erreichung der höchsten spirituellen Verwirklichung ist, wie es beispielsweise Buddha Shakyamuni angedeutet hat. Dieser Weg ist ein Heilungsweg auch für die Natur, weil sie uns «folgt» und uns den Rücken freihält, uns trägt. Wir brauchen das Lebensgefühl natürlicher Fülle, jenseits der Scheinfülle und des Scheinmangels. Den mittleren Weg zwischen Mangelmanagement und Raubtiermentalität. Das geht einerseits mit Selbstbescheidung, die die ursprüngliche Fülle wieder erkennbar werden lässt, und andererseits mit Unvoreingenommenheit den Chancen und Möglichkeiten des Lebens gegenüber. Daran arbeite ich, manchmal erfolgreich, manchmal weniger. Meine Lebensaufgabe habe ich noch nicht genau bestimmen können; von dieser Bestimmung und der Erfüllung hängt sicher auch das Gefühl der natürlichen Fülle ab. Und dieses Gefühl ist wichtig und will gepflegt werden. ♦

von Lilly Gebert

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Uli Fischer beschäftigt sich mit Musik, Literatur und transzendentaler Naturphilosophie, komponiert und singt eigene Lieder. Seine Essays erscheinen u.a. bei Manova. ulifischer.de


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Wie entsteht Ethik?

Als ich Klaus Schwabs Buch zur Agenda 2030 las, kam es mir vor, dass da ein guter Mensch die Welt retten will – mithilfe der Wirtschaft, aber ganz ohne die Mitwirkung der betroffenen Menschen. Je weniger Überbevölkerung, desto einfacher wird es. Zudem sollen sie arm werden und glücklich. Und: Die Lösung der Probleme kommt von aussen.

Als Künstler und Vater weiss ich, dass alle von aussen her erzwungenen Lösungen und Veränderungen auf die Dauer nicht taugen. Wenn der Mensch nicht von innen her motiviert, inspiriert wird, ist jede Änderung aufgesetzt und meist nur eine andere Variante des Irrtums. Wie kann der Mensch aber in dieser Zeit der grossen Herausforderungen sich so verändern, dass er aus sich heraus der Welt als Freund statt als Räuber, als Partner statt als Unterwerfer begegnet? Diese Frage ist in Schwabs Buch ausgeklammert.

Radikal geteilte Lebendigkeit

Genau diese Frage hat uns dazu bewogen, einen Ort der Begegnung zu schaffen, an dem andere als nur wirtschaftliche Lösungsansätze reflektiert werden. 2020 gründeten wir das World Ethic Forum, mit dem Anspruch, eine Forschungsreise zu unternehmen mit Menschen, die an einer Kultur radikal geteilter Lebendigkeit mitdenken und mitarbeiten. Radikal bedeutet: an die Wurzel gehend. Lebendigkeit bedeutet Subjektivität. Jedes Wesen auf dieser Erde ist ein Subjekt, das sich mitteilen kann und dem wir in der unendlichen Bezogenheit alles Seienden eine ihm gemässe Rolle zuerkennen. Geteilt bedeutet, dass die Bezogenheit aller Subjekte zueinander in einem Verhältnis des gleichwertigen Austauschs gewürdigt wird.

Staunen heisst Erwachen am anderen

Eine Kultur radikal geteilter Lebendigkeit entsteht aus dem Staunen. Dazu folgendes Bild: Stellen Sie sich ein Seeufer an einem Wald vor, darüber der Himmel. Allein dies würde schon genügen, um Lebendigkeit zu teilen. Wir atmen die Luft, 70 Prozent unseres Körpers besteht aus Wasser, wir stehen auf der Erde. Diese aber zeigt sich noch viel unmittelbarer: Plötzlich springt ein Fisch aus dem Wasser, schnappt nach einer Mücke und fällt zurück ins Wasser, worauf sich Wellenringe in Richtung des Ufers bewegen. Dieses Geschehen kann man als Ereignis verstehen. «Ereignis» kommt aus dem althochdeutschen «er-äugen» und bedeutet so viel wie: sich vor Augen stellen und gesehen werden. In dem Bild des Sees ist das Ereignis das Sichtbarwerden dessen, was unter dem Wasser als das bisher Unsichtbare uns vor die Augen tritt. Das Offenbarwerden eines Geheimnisses, das wir im Staunen wahrnehmen. Durch den Moment der Überraschung reagieren wir unwillkürlich im Staunen auf das als lebendig Erfahrene. Wir reagieren, ohne unseren Verstand einzuschalten in radikaler Offenheit und finden so die Chance, am sich Ereignen des Andern aufzuwachen.

Im Staunen nehmen wir den Andern, das Andere mit all unseren Sinnen und Gefühlen wahr, so dass es uns auch im Körper trifft: Wir atmen ein, gleichzeitig öffnen wir die Arme und neigen uns nach vorne, weil wir teilhaben möchten an dem, was sich ereignet. Die Begegnung mit dem Geheimnis, das sich uns zeigt, ist der Anfang einer Beziehung, die uns zu Teilhabern an der Lebendigkeit des Seins macht. Das Staunen führt uns dazu, dass wir das, was uns als Geheimnis offenbart wird, bewundern oder lieben lernen.

Im Englischen «it happens» (es geschieht) hat das «hap» eine onomatopoetische Dimension: Wenn etwas sich ereignet (happens) schnappen wir es auf, wie der Fisch sich die Mücke oder der Hund einen Happen schnappt. Etwas happt uns und wir happen es. Das Ereignis, das zum Staunen führt, macht uns neugierig, was denn sonst noch alles im See sein könnte, welche Lebendigkeit sich uns noch zeigen könnte. Diese Neugierde ist die Voraussetzung, dass wir überhaupt erfahren können, was hier als Ereignis beschrieben ist. Auf Schweizerdeutsch heisst Neugierde «Gwunder», es drückt aus, dass uns jederzeit ein Wunder zustossen kann. Dieser Dreiklang Gwunder–Ereignis–Staunen bringt uns in Beziehung und ruft in uns die Liebe wach. Das ist der Beginn einer intrinsischen Ethik. Denn wie könnten wir mit Füssen treten, was uns aufgeweckt, was uns in Beziehung gebracht hat?

Ethik als Prozess

Maximen, Gebote und Verbote sind Wegmarken, um das völlige Überborden der Gier und Gewinnmaximierung mit dem Gesetz, mit der Moral, mit der Gerichtsbarkeit der dritten Gewalt flankieren zu können. Das war in der Vergangenheit so und wird es auch in der Zukunft sein. Zu einem neuen Weltbild aber taugen sie nur beschränkt. Nur aus Furcht vor Strafe kann es keine Ethik geben, die in einer Krisenzeit wie der unseren Leitfaden und Leuchtturm wird.

Was Sinn und Ethik stiftet, ist das Erlebnis. Eine der Quellen ethischen Erkennens und Handelns ist eben das Staunen, das uns aufgeweckt hat und zu einer Haltung der Offenheit gegenüber allen Wesen dieser Welt führen kann. Diese Offenheit kann die Liebe ans Licht bringen. Und Liebe ist die Grundlage für Schönheit, das Gute, Mitte und Mass. Während die goldene Regel Kants – «Handle nur nach derjenigen Maxime, von der du wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde!» – etwas Berechnendes hat, eine Art Selbstüberlistung im Pflichtfach, ist eine Prozessethik, die auf die innere Kraft des Menschen baut, lustvoll und abenteuerlich zugleich, weil sie immer wieder neu vom Staunen ins Aufwachen, vom Aufwachen zur Beziehung führt. Beziehung und mehr an Lebendigkeit wahrzunehmen und zu verursachen, hat hingegen nichts mit einer verkopften Maxime zu tun, auch nicht mit einem Rezept, mit dem das Böse ausgeschaltet werden soll.

Das Ereignis des Bösen

Der Mensch ist auf dem Weg, zu werden, was er ist. Dies kann er nur in der Gemeinschaft und mit Verlaub des eigenen Schattens. Im Goetheanum in Dornach steht eine Statue des Menschen, der unten von einer dämonischen, gewalttätigen, verdumpfenden Gestalt flankiert wird, oben von einem Lichtwesen, das ihm einflüstert, unsterblich, unbesiegbar und unfehlbar zu sein. Gewalt und Verdumpfung, Verlust der geistigen Dimension einerseits, ideologische Verblendung durch Verlust der Wirklichkeit und Arroganz andererseits sind die Kräfte und Merkmale, gegenüber denen sich der Mensch zu Mitte und Mass hin zentrieren muss, um wirklich Mensch zu werden. Dabei werden die dämonischen Kräfte nicht abgelehnt, sondern als Teil der menschlichen Bedingtheit gleichsam als notwendig betrachtet. Eine prozesshafte Ethik ignoriert nicht das Böse, sie betrügt sich nicht selbst mit einer Gutmenschen-Romantik. Immer aber steht der vielschichtige Dialog im Vordergrund, auch mit dem vermeintlich oder effektiv Bösen. Denn auch das Erschrecken über das Offenbarwerden der Schattenkräfte ist Teil der Menschwerdung und des Wahrnehmens und Aufwachens am Andern. Der Weltenhumor dient uns, dieses Erkennen hygienisch zu begleiten.

Das World Ethic Forum – ein Versuchslabor

Ethik hat verschiedene Quellen. Bei noch nicht völlig zerstörten Stämmen und Ethnien mit zusammenhängender Tradition betrachten die Menschen values, Werte, als eine solche Quelle. Dass die Wichtigkeit der Familie oder der Gemeinschaft über den Eigeninteressen der Individuen steht, ist ein Beispiel. Aus dieser Wichtigkeit heraus erwachsen die Maximen des Umgangs. Sie werden etwa Ubuntu oder Ho’oponopono genannt, die Beziehung zu den Ahnen und zu den geistigen Wesen der Erde. Sie sind vielfältig und die daraus erwachsenden Versöhnungsinstrumente und Leitrituale höchst unterschiedlich. Die Kultur der geteilten Lebendigkeit hat keine ausschliessende Leitnorm. Sie ist offen zu lernen, auszutauschen und im Gespräch an und mit den Andern zu staunen und aufzuwachen.
Das World Ethic Forum ist ein Versuchslabor, um über all dies nachzudenken. Jedes Jahr treffen sich Menschen aus aller Welt, die eine Kultur der radikal geteilten Lebendigkeit praktisch zu verwirklichen suchen. Sie heissen firekeeper, kommen aus allen Bereichen der Gesellschaft und beraten sich über die Frage, wie diese Kultur getragen und in der Erziehung, in der Wirtschaft oder in der Landwirtschaft umgesetzt werden kann. Dabei sind auch Entkolonialisierung, Generationendialog und sorgsamer Umgang mit den Wesen dieser Erde Themen, die gemeinsam reflektiert und erlebt werden. Vom 30. August bis am 1. September 2024 in Pontresina im Engadin ist es wieder so weit: Wir laden alle ein, die sich mit der Frage auseinandersetzen möchten, was eine Kultur radikal geteilter Lebendigkeit für sie und die Welt bedeuten könnte.

von Linard Bardill

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Infos und Anmeldung: WorldEthicForum.com

Linard Bardill ist Liedermacher, Autor und Geschichtenerzähler und zählt zu den erfolgreichsten Persönlichkeiten der Schweizer Kleinkunst- und Kindermusikszene. Er steht seit fast 40 Jahren auf der Bühne, in dieser Zeit sind über 100 Musikalben, Theaterstücke, Bühnenprogramme, Gedichtbände, Romane oder Kinderbücher entstanden.
bardill.ch


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Das Schöne, das Hässliche und die Schweiz

Corona war für mich ein Abschiednehmen von vielem: Staatsvertrauen, Freunde und Vorbilder. Als sich Bardill mit mutigen Zwischenrufen in seiner Kolumne in der Zeitung Südostschweiz kritisch zum Regierungsnarrativ äusserte, fiel mir ein Stein vom Herzen. Wer heute dem Text seines Liedes «Revolution» lauscht, denkt, es muss brandaktuell und aus den Erfahrungen der letzten Jahre gewonnen worden sein. Doch produziert wurde es bereits 2014. Bardill stellt darin die Frage:

«Meinsch es kämi no so wiit, dass d´Lüt Überwachigskameras usde Halterige rissed und am Bode verschlönd …, wils langsam gnueg händ, plötzlich verwacht, wo langsam Muet hat und nüme mitmacht, wo langsam ufstoht usser Rand und Band, sin Käfig umlohnt wie en wilde Elefant!»

Wiederum stimmt das Lied «Dis Land mis Land» ganz andere, versöhnliche Töne an:

«Jo das isch d´Schwyz, gib mer dini Hand, jo das isch d´Schwyz, dis Land, mis Land. Es isch es Land mit Bäch und Seen, Berge, Täler, Dörfer, Städt, so viel Mensche, so viel Sprooche und e Gschicht, wo Gschichte hätt, s isch e Gschicht vo tuusig Johre, s isch e Gschicht vo einem Tag, s isch e Gschicht, dass nüd verloore isch, solang mes liebe mag.

Wer ist er, dieser Schweizer Künstler, der einerseits die Heimat besingt, andererseits die Mächtigen anprangert? Wir haben den Künstler in Scharans im Kanton Graubünden persönlich zum Gespräch getroffen. Bereits über sein Atelier, in dem er uns empfing, gibt es viel zu erzählen. Es wurde durch den Architekten Valerio Olgiati entworfen und gilt als sogenanntes Antihaus. Es besteht aus rotem Beton, ist übersät mit Rosetten, Fenster sucht man vergebens, ein Dach hat es auch keines. Dafür gibt es einen Innenhof und einen freien Blick in den Himmel, Schiebewände zum Aufziehen und freie Sicht auf den Beverin.

«DIE FREIEN»Linard Bardill, was bedeutet dir Heimat?

Linard Bardill: Als Kind war für mich Heimat Landschaft. Das Tal. Später dann waren Heimat andere Menschen, Kollegen. Irgendwann beginnst du, dein Ich zu entwickeln. Dann hast du das Gefühl, die Heimat muss bei dir sein. Du selbst bist die Heimat. Dann kriegst du mit einer Frau zusammen Kinder und merkst, die haben auch Bedürfnisse; jetzt musst du dein Ego zurückstecken. Dann gibt es eine Mischung aus den drei Heimaten: Boden, Menschen, Ich. Ich glaube, man erwacht an anderen Menschen. Wenn du diese Bewusstwerdung weiterentwickelst, kannst du auch am Berg erwachen. Darin kriegst du eine Ahnung, was das Leben sein könnte, was dein Schicksal sein könnte. Was die Welt ist.

~

In diesem Moment erklingen die Glocken der Scharanser Kirche. Bardill öffnet die Tür seines Ateliers, der Klang der Glocken dringt ins Innere, erfüllt den Raum.

~

LB: In Scharans wird noch verkündet, wenn jemand gestorben ist. Die Bewohner werden durch den Klang daran erinnert, dass sie irgendwann auch sterben werden. Es ist eine spirituelle Schwingung. Wenn alles schwingt, wie Tesla und andere sagen, dann sind diese Glocken Magie. Und das ist für mich auch eine Anbindung an die Welt, auch eine Art von Heimat.

Du hast auch viele Lieder für Kinder komponiert und Geschichten geschrieben. Was sagst du einem Kind, das in der Schweiz geboren ist?

LB: Ich habe mir überlegt, ob es möglich ist, mit allem Schönen und Hässlichen, das die Schweiz hat, eine zeitgenössische Hymne für Kinder zu schreiben. Ich wollte dabei bewusst nicht auf das gemeinsame Erbe eingehen, sondern auf das, was man gerne hat, was man liebt. Für das, was man liebt, investiert man seine Energie, das ist dann auch nicht verloren. Dabei geht es um beständige Werte wie das Erhalten der Freiheit. Um den Erhalt von Freiraum, den die Leute eigentlich zugute haben in dieser Welt, um ihre Erfahrungen machen zu können, und dabei den Staat möglichst klein zu halten. Ja, das klingt jetzt wie eine SVP- oder FDP-Parole. Aber ich finde schon, je mehr der Staat das Gefühl hat, er müsse die Probleme der Leute lösen, desto mehr geht es in die Hose. Es wird nicht gehen.

von Prisca Würgler

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Die Fortsetzung des Interviews erscheint in der nächsten Ausgabe von «DIE FREIEN». Im zweiten Teil verrät uns Linard Bardill, wieso die Corona-Krise für ihn sowohl Trauma als auch Augenöffner war und wie er seinen weiteren Weg als Pazifist und Brückenbauer sieht.


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Keine Zeit für Geschichten?

Wir leben in einer so dramatischen Gegenwart, dass nur noch Informationen zählen – und für Geschichten keine Musse mehr bleibt.

Als vor vier Jahren der Lockdown über die Welt hereinbrach, verstummte auch die Kultur. Keine Konzerte mehr, kein Theater, kein Kino, keine Lesungen, keine Comedy. Alles, was noch öffentlich stattfand, fand online statt. Aber auch online gab es keine Kultur mehr. Im wörtlichen Sinn. Es gab nur noch Propaganda.

Dann tauchten die ersten kritischen Stimmen auf. Kritische Ärzte, kritische Virologen, kritische Journalisten und wachsame Bürgerinnen und Bürger. Sie alle kämpften mit Information und mit Intuition, mit Kopf und mit Herz gegen die Propagandaflut an. Doch kritische Kulturschaffende fehlten.

Dann erklangen die ersten Stimmen, die ersten Akkorde von Musikern. Sie sangen und spielten gegen die Propaganda an, gegen die Lüge, für die Wahrheit und für die Freiheit. Sie wurden dankbar empfangen, denn Musik wärmt die Herzen, sie nährt die Hoffnung und befeuert den Mut.

Doch die Musiker, die an den Kundgebungen – den erlaubten und nicht erlaubten – die Bühne betraten, waren gering an der Zahl. Auch bei uns, in der Schweiz. Um sie zu zählen, brauchte man eine einzige Hand. So ist es immer noch.

Wo blieben die anderen? Wo blieben die Stars? Sie schwiegen. Aus Schwäche, aus Existenzangst. Oder sie machten mit, glaubten an die Impfpropaganda und fanden den Ausschluss der Ungeimpften leider notwendig. Sie liessen sich vor den Karren der Lüge spannen. Dieselben Bands, dieselben Sängerinnen und Sänger, deren Musik uns immer begleitet hatte, für die wir an Festivals und Konzerte gepilgert waren – dieselben Musiker verrieten all das, was uns heilig war. Indem sie über uns spotteten oder sich schweigend zu Mittätern machten. Wir konnten es nicht begreifen. Wie können Menschen, die etwas Künstlerisches, etwas Schönes gestalten, eine so menschenfeindliche Einstellung haben?

Weil Musiker keine besseren Menschen sind, nur weil sie gute Musik machen. Sie haben Talent. Sie besitzen die Fähigkeit, Melodien und Klänge, die eine Botschaft des Himmels sind, in Musik umzusetzen, in Kompositionen und Songs. Auch die Texte der Songs, die darin enthaltenen Bilder sind eine höhere Gabe. So entsteht jede Kunst. Wahre Kunst ist himmlische Inspiration. Kaum verlassen Musiker aber die Bühne, sind sie Zeitgenossen wie jeder von uns. Dann zeigt es sich, ob sie nur mit dem Kopf oder auch mit dem Herzen denken. Und wenn der Erfolg ihnen schmeichelt, vergessen sie manchmal das Herz.

So war es auch bei Corona. Der Mainstream macht aus Musikern Stars. Er propagiert und bezahlt sie. Er denkt für sie. Stars müssen liefern, damit sie Stars bleiben. Deshalb haben sie keine Zeit und keine Notwendigkeit für ein unabhängiges Denken. In den Arenen des Mainstreams zu singen und gegen den Mainstream, gegen die Impfung, gegen die Experten zu denken, das schafften sie nicht. Auch die meisten Filmemacher zogen das Schweigen vor. Die meisten Schauspieler. Die meisten bildenden Künstler. Und sogar die meisten Comedians. Gerade sie, die Hofnarren der Gesellschaft, nahmen ihre Bestimmung nicht wahr. Unter den Arrivierten waren es wenige Ausnahmen. In der Schweiz im Grunde nur eine einzige. Er musste büssen für seine Verweigerung.

Und schliesslich: Auch die Schriftsteller schwiegen. Es war ein dröhnendes Schweigen. Und es hält immer noch an.

Wenn ich von Schriftstellern spreche, meine ich damit Autoren, die Prosa schreiben. Romane, Erzählungen, Kurzgeschichten, literarische Essays, vielleicht auch Gedichte. So wie der Musiker aus höheren Sphären Musik empfängt, so werden dem Autor Geschichten geschenkt. Sie fliegen ihm zu. Doch kaum schiebt er die Schreibmaschine beiseite, ist auch er ein gewöhnlicher Zeitgenosse. Und aus dem einstigen Dichter, dem Schöngeist, ist ein Intellektueller geworden, der nicht an Gott, sondern an die Wissenschaft glaubt. Je grösser die Auf lagen seiner Bücher sind, umso mehr ergeht es ihm wie dem Musiker. Umso mehr muss er liefern. Umso weniger muss er sein Herz befragen.

Kein bekannter Belletristikautor in der Schweiz hat sich dem Mainstream in den letzten vier Jahren entgegengestellt. Keiner. Nicht einmal in ihren Romanen, in ihren Werken haben sie dem Staat widersprochen. Nur ein paar wenige gibt es, am Rande der Literaturszene, die sich zur Opposition und zur Freiheitsbewegung bekennen. Vom grossen Strom haben wir uns schon lange verabschiedet. Und wenige sind wir auch deshalb, weil wir keine Sachbücher schreiben. Wir bringen keine unterschlagenen Facts, keine signifikanten Zahlen, keine wichtigen Analysen, keine alternativen Gesellschaftsentwürfe. Auch spirituelle Bücher schreiben wir nicht. Wir formulieren höchstens Gedanken, wir zeichnen Bilder mit Worten, wir schmieden Verse, und vor allem: wir erzählen Geschichten.

Das ist zurzeit nicht gefragt, so kommt es mir vor. Zu Podiumsgesprächen wird eingeladen, Referate werden gehalten, Vortragsabende finden statt – aber keine Erzählabende. Die Freiheitsbewegung hat keine Zeit für Geschichten. Sie hat Wichtigeres zu tun. Ich begreife das. Die Welt ist im Aufruhr, sie treibt uns erbarmungslos vor sich her, da bleibt nach all den Informationen und Argumenten bloss noch Raum für Entspannung mit Comedy und Musik.

Wäre mein Bleistift doch eine Gitarre! Ich bin bloss ein Erzähler und ein Gedankengänger. Aber ich glaube an die heimliche Kraft von Büchern, die keine Sachbücher sind. Ich glaube an die Magie von Geschichten. Sie zeigen das Grosse im Kleinen, das Politische im Persönlichen, das Spirituelle im Menschlichen. Gute Geschichten werden vom Leben geschrieben.

von Nicolas Lindt

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Nicolas Lindt ist Schriftsteller aus Wald und Segnas. In seinen Werken und in seinem Podcast «Fünf Minuten» erzählt er wahre Geschichten. Er tritt am Sommerfest von Graswurzle und Aletheia am 29. Juni in Stetten AG mit «Zeit für Geschichten» auf.
nicolaslindt.ch
fuenfminuten.ch


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Erkenntnis durch den Klang

Das Theatrum Phonosophicum ein Kulturtipp aus dem Herzen Italiens

Der Starrheit des deutschen Universitätslebens überdrüssig, zogen die Klangkünstlerin Shushan Hyusnunts und der Musikphilosoph Leopoldo Siano nach Neapel. Ihr Wunsch? Eine neue Kultur des Klangs und der Stille. Mit ihrem theatrum phonosophicum wollen sie transformieren – den Menschen, sein Hören, sein Sein.

«DIE FREIEN»: Liebe Shushan, lieber Leopoldo, gemeinsam betreibt ihr das Projekt «theatrum phonosophicum». Wofür steht dieses?

Shushan Hyusnunts: Das theatrum phonosophicum ist das «Theater der Phonosophie». Die phonosophia verstehen wir als «Erkenntnis durch den Klang». Das theatrum phonosophicum ist ein Forschungs- und Lebensprojekt, das die Erschaffung von Erfahrungsräumen fördert, in denen altes traditionelles Wissen mit experimentellen Praktiken (lecture-performances, Installationen, Klangkunst, Akusmatik, «deep listening» usw.) kombiniert wird. Ein Wissen, das deshalb nicht nur ein «Buchwissen» ist, sondern mit allen Sinnen erfahren werden kann. Daher der Anspruch auf die Synthese der Künste, auf das Gesamtkunstwerk (vom antiken griechischen Theater bis zu Richard Wagner und den Avantgarden). Kern des theatrum phonosophicum ist das Hören verstanden als «Seinserfahrung» und die anthropologische Auseinandersetzung mit dem Klang, mit den Klängen im Raum, mit der Landschaft bzw. mit dem soundscape und den akustischen Archetypen.

Leopoldo Siano: Das Wort phonosophia entdeckte ich einmal zufällig in einem Aufsatz über Morton Feldman. Blitzartig begriff ich, dass es genau das Wort war, das wir suchten, um unsere Arbeit präzis zu bezeichnen. Wir kommen beide aus der sogenannten Musikwissenschaft, aber dieses Fach – akademisch verstanden – wurde uns allmählich immer enger. Später entdeckten wir, dass das lateinische Wort phonosophia ein Neologismus des Jesuiten und Barockgelehrten Athanasius Kircher war … Wie gesagt, ist für uns die Hörtätigkeit zentral, allerdings wird das Hören in sehr breitem Sinne verstanden: als Hören der Welt, als Hören des unaufhörlichen Ereignisses des Seins.

SH: In der Barockzeit wurde das Wort theatrum unzählige Male als Titel von wissenschaftlichen Traktaten verwendet, die als Darstellung einer gewissen Disziplin gedacht waren. Es gab ein theatrum botanicum und ein theatrum anatomicum, also ein Theater der Botanik und ein Theater der Anatomie, ein theatrum chemicum, theatrum memoriae, ein theatrum instrumentorum und so weiter. Und gab es sogar ein theatrum fungorum, ein Theater der Pilze …

LS: Das letzte hätte John Cage sehr gut gefallen können! Es ging also um den Versuch, das angesammelte Wissen wie auf einer Bühne, sinnlich darzustellen. Und das versuchen wir auch mit dem theatrum phonosophicum.

Was war der ausschlaggebende Impuls, in dieser Form als Kulturschaffende tätig zu werden?

LS: Ich habe zehn Jahre an der Universität zu Köln gelehrt, wo auch Shushan studiert und dann für ein paar Semester unterrichtet hat. Allerdings war uns die akademische Welt immer steriler geworden, es wurde uns dort immer unbehaglicher: Mit der zunehmenden Digitalisierung und der Einführung der Gendersprache wurde es noch schlimmer. Im Allgemeinen haben wir die grosse Kluft zwischen den meisten Universitätsleuten und dem Leben gespürt. Wir waren auf der Suche nach einem «gelebten Wissen». Wir waren müde, nur Vorträge zu halten, Aufsätze zu schreiben und bei Tagungen aufzutreten. Wir suchten eine «Theorie der Praxis». Das theatrum phonosophicum ist eine Art philosophisches Instrument, wobei das Wort «Philosophie» etymologisch, also ernst genommen wird: als Liebe, als «Liebe zur Weisheit» – verstanden auch als «Kunst des Bewusstseins» oder, wenn man will, als «praktische Daseinstechnik». Wir haben das Bedürfnis gehabt, die Philosophie durch die Sinne zu (er)leben. Da ist für uns unter anderen der «philosophe-artiste» Peter Kubelka ein grosses Vorbild gewesen. Im Italienischen sind die Wörter «Wissen» (sapere) und «Geschmack» (sapore) etymologisch miteinander verbunden. Das Wissen soll nach etwas «schmecken» … Daher ist der Wunsch entstanden, ein aktionistisches Pendant zu haben: Statt einfach Vorträge zu halten, haben wir begonnen, lecture-performances, Klang-Aktionen, Installationen oder «Install’Aktionen» zu machen… Eine lecture-performance ist für uns eine Art story-telling, eine Hybridform zwischen einem Vortrag und einem poetischen Ritual, in dem wir auch Musikinstrumente, aufgenommene Klänge, verschiedene Objekte, Substanzen, Speisen verwenden. Wir wollen nicht einfach über ein Thema sprechen, sondern das jeweilige Thema den Zuhörern unmittelbar erleben lassen. Und dies nicht nur über den Intellekt, sondern über alle Sinne … Mit einer lecture-performance will man nicht nur die Menschen «in-formieren», sondern eher trans-formieren. Immer mehr gefällt uns der Satz von John Cage: «I like it better when something is being done than when something is being said.»

Wen oder – viel spannender – was möchtet ihr mit eurem Projekt erreichen?

LS: Wie Mary Bauermeister sagte, ist jede Existenz ein «unvollendetes Projekt» … Ob wir etwas «erreichen» wollen? Ja, wir wollen uns selbst und so viele Menschen wie möglich zum «lebendigeren Leben» durch das Erwachen aller Sinne führen, vor allem durch den Klang. Es geht um Seinssuche und Seinsfindung. Idealerweise ist das theatrum phonosophicum ein Projekt ohne Ende. Wir wollen es immer mehr verwirklichen, indem wir immer mehr Menschen einbeziehen. Als Musikwissenschaftler waren wir müde, nur am Schreibtisch zu sein. Das Schreiben ist uns zweifelsohne noch sehr wichtig, aber das genügte uns nicht mehr. Wir hatten das Bedürfnis, bestimmte Erfahrungen mit anderen Menschen zu teilen: aber nicht nur mit Wörtern, sondern körperlich, sinnlich, im Raum.

SH: Wir wollen Menschen erreichen, denen unsere Arbeit hilfreich sein kann, um das eigene kreative Potenzial zu entfalten.

Vom 21. bis 23. Juni veranstaltet ihr in Attigliano zusätzlich das Festival «PHONOSOPHIA». Mit diesem möchtet ihr «eine neue Kultur des Klangs und der Stille (total listening) fördern». Was steht hinter diesem Anliegen und wie genau lässt sich «Wissen» durch Klang vermitteln?

SH: Ja, in Attigliano werden wir in wenigen Tagen die erste PHONOSOPHIA eröffnen, ein Fest der «Erkenntnis durch den Klang». Das Festival findet anlässlich der Sommersonnenwende und der Johannisnacht statt. Es liegt uns sehr am Herzen, den Tag und das Jahr rituell zu zelebrieren. Für die Sonnenwenden und die Tagundnachtgleichen gefällt es uns sehr, Feste oder Aktionen des theatrum phonosophicum zu organisieren. Im Laufe der letzten Jahren haben wir mehrere long-durational performances gehabt, bis zu vier Stunden – oder sogar 24 Stunden mit Fabula. Jetzt geht es zum ersten Mal um ein ‘Fest, das drei volle Tage dauern wird. Die lange Dauer ist sehr wichtig für die Vertiefung, für das Eintauchen. Wir werden unterschiedliche Veranstaltungsformate haben: lecture-performances, soundwalks, Nachtspaziergänge in einem «Zaubergarten», Install’Aktionen, Ausstellungen, den Vortrag eines Astrophysikers über die Sphärenharmonie, poetische Lesungen, Klang-Rituale etc.

LS: Das Festival findet in Attigliano, beim Simmetria-Institut statt. Das ist ein sehr besonderer Ort. Das Institut ist eine Forschungsstätte und ein Museum der Mythen, der Riten und der Symbole – eine beeindruckende Sammlung von Kunstwerken verschiedener Kulturen und Epochen! Die Bibliothek des Instituts umfasst mehr als 8000 Bände: vor allem pythagoreische, hermetische, alchemistische Literatur, aber auch viele Bücher über westliche und östliche Philosophie, Mathematik, Geometrie, Mystik etc. Es ist ein Ort, an dem die ganzheitliche Erforschung des Menschen und der spirituellen Traditionen der Welt gepflegt wird, vergleichbar mit der Eranos-Stiftung in der Schweiz. Das 2020 eröffnete Simmetria-Institut wurde konzipiert und gegründet vom unermüdlichen Claudio Lanzi, Forscher, Verleger und Meditationslehrer, unterstützt von seinem Team bzw. seiner Stiftung.

SH: Um zur Frage zurückzukommen: Im theatrum phonosophicum wird der Klang – im Sinne von Marius Schneider und der kosmogonischen Mythen, die in verschiedenen Traditionen zu finden sind – als Ursprung und Essenz aller Dinge betrachtet. Die Welt ist eine Art «versteinerte Musik», ein Schwingungsgewebe, was auch von der modernen Physik bestätigt wird. Die Klänge können vieles beschwören, aber vor allem kann der Klang wirken. Die Erfahrungen, die man durch die Musik und im Allgemeinen durch den Klang macht, sind meistens unaussprechlich. Man ist ständig auf der Suche nach der unerschöpflichen schöpferischen Quelle, nach der sophia, die im Klang selbst ist.

2022 ging es für euch von Deutschland aus nach Armenien, jetzt seid ihr seit dem Frühling 2023 in Italien. Flieht oder sucht ihr?

LS: Wir fliehen nicht! Deutschland ist für uns beide sehr wichtig gewesen. Obgleich wir nicht mehr in Deutschland sind, sprechen Shushan und ich miteinander immer noch deutsch. Wir tragen Deutschland in uns, aber es geht um ein «inneres Deutschland», ein «geheimes Deutschland», um Stefan George zu zitieren… Es ist das Deutschland der Dichter, der Philosophen, der Mystiker und nicht zuletzt der Musiker. Das Deutschland von Meister Eckhart, von Bach, von Goethe, Novalis, Nietzsche, Wagner, Stockhausen, Beuys etc. Aber dieses Deutschland hat mit dem heutigen Deutschland wenig zu tun. Während der Zeit der planetarischen «Pandemenz» war uns in Deutschland sehr ungemütlich, sogar unerträglich geworden. Bestimmte Probleme wurden sichtbarer. Wir haben verstanden, dass die Zeit reif war, um Deutschland endgültig zu verlassen. Wir haben also – jenseits der kleinbürgerlichen «Vernünftigkeit», der inneren Stimme und der Logik des Herzens, also einem «Herzensruf» folgend – einen grossen Schritt gemacht und sind kein kleines Risiko eingegangen …

SH: Es war gewissermassen doch eine Art «Flucht» von Deutschland … (Schmunzeln)

LS: «Denke ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht», so Heine … Wir sind also nach Armenien umgezogen, wo wir uns freier fühlten. Die vielen armenischen Freunde empfngen uns mit grosser Herzlichkeit und Wärme. Sie haben an unsere Arbeit geglaubt. An der State Philharmonia of Armenia, im legendären «Ground Floor» – ganz im Herzen der Altstadt Jerewans – initiierten und kuratierten wir die multisensorielle Veranstaltungsreihe Theatrum Phonosophicum. Es waren Monate von reger Tätigkeit und Austausch mit vielen jungen kreativen Menschen, die bei unseren Veranstaltungen und Workshops («The Art of Listening») mitmachten. Anfang 2023 – als wir gerade dabei waren, im künstlerischen-kulturellen Feld Armeniens Fuss zu fassen, kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel, die Einladung von der Stiftung Morra, nach Neapel umzusiedeln, wo wir jetzt seit einem Jahr diese Forschungsresidenz im Museo Archivio Laboratorio Hermann Nitsch machen.

Merkt ihr Unterschiede in der Art, wie ihr und eure Arbeit wahr- beziehungsweise angenommen werdet?

LS: Ja, freilich. In Deutschland war uns immer schwieriger geworden, über das Wesen unserer Arbeit zu kommunizieren. Einerseits waren die meisten, die uns als akademische Musikwissenschaftler kannten, nicht bereit zu erkennen, dass wir auch etwas anderes machten. Darüber hinaus ist das deutsche Publikum ziemlich verkrampft, selbst die jüngeren Menschen, die meisten Studenten, sind lauwarm und verkopft geworden, mit geringem authentischem Interesse für die Kunst und die Kultur. Und der Prozess der immer zunehmenden Digitalisierung der Existenz hat die Gehirne und die Weltwahrnehmung vieler Menschen umstrukturiert. Die Corona-Zeit war schliesslich der letzte Schlag …

SH: Aber man muss sagen, dass wir dank der Corona-Krise durch einen langsamen schmerzhaften inneren Prozess gegangen sind, um tiefer zu uns selbst zu gelangen, um zu machen, was wir wirklich machen wollten. So haben wir den Mut gehabt, Abstand von der Universitätswelt zu nehmen, um unser theatrum phonosophicum zu betreiben. Dafür war Deutschland für uns ein unfruchtbarer Boden geworden.

LS: In Armenien haben wir hingegen die grosse Aufgeschlossenheit des Publikums sehr genossen.In Armenien gibt es viel weniger ideologische Voreingenommenheit und Verkrampfungen. Das Publikum ist intuitiver. Vor allem sind sehr viele jungen Armenier zu unseren Veranstaltungen und Workshops gekommen, mit weit offenen Augen und offenem Herzen, gierig nach Wissen, nach neuen Entdeckungen und Erfahrungen. Ein fruchtbarer Boden, um das Feuer der Erkenntnis anzuzünden! In Italien geniessen wir ebenfalls das südliche Temperament der Menschen. Hier lebten übrigens die Vorsokratiker: Parmenides, Empedokles, Pythagoras … Von Neapel waren auch Giordano Bruno, Giambattista Vico und viele andere Philosophen, Dichter und Musiker. Cogito ergo Sud! Es gibt hier eine jahrtausendelange philosophische Tradition, mit der wir uns sehr verbunden fühlen. Ausgerechnet an diesen Orten hat übrigens Parmenides seine «Seinsphilosophie» konzipiert. Die Weisheitsbotschaften der Mythen und der vorsokratischen Philosophie sind hier noch zu spüren, in der Natur, in den Felsen, in den Landschaften …

Inwieweit erfüllt euch das, was ihr jetzt macht, an dem Ort, wo ihr jetzt seid?

LS: Wir fühlen uns nun hier sehr wohl. Wir fühlen uns «angekommen». Nicht nur, weil ich selber Italiener bin und nach fast zwei Jahrzehnten im Ausland, wieder in der «Heimat» bin. Es geht eher um eine tiefere, archaische Verbindung mit dem Süden Italiens, mit dem Magna Grecia, mit dem «Grossen Griechenland», mit den hiesigen mythischen Landschaften, mit dem Meer, den Wäldern, den Vulkanen … Wir wollen also im Süden bleiben. Nach vielen «Wanderjahren» ist es uns nötig, endlich Wurzeln zu schlagen. Als Mary Bauermeister hörte, dass wir Deutschland verlassen wollten, unterstützte sie sofort unser Vorhaben, sie sagte: «Ihr gehört dem Süden!». Wir spüren, dass wir hier etwas zu tun haben. Die Orte, wo wir arbeiten und wirken, sind uns sehr wichtig. In Deutschland haben wir lange Zeit in Kürten, ländlich, im Dorf von Karlheinz Stockhausen und der «astronischen Musik», gewohnt: Es war eine sehr produktive Zeit, mehrere Bücher sind dort geschrieben worden und viele neue Ideen und Projekte entstanden …

SH: … aber wir haben in Neapel erkannt, dass wir jetzt am richtigen Ort sind. Und dies gilt auch für mich, auch wenn ich nicht Italienerin bin, fühle ich mich hier im Süditalien ebenfalls zu Hause. Wir sind immer sehr viel gereist, haben aber im Moment sehr wenig Reiselust, weil es hier unglaublich viel zu entdecken und zu tun gibt.

LS: Neapel ist ein Kosmos an sich, eine buchstäblich magische Stadt, und sie befindet sich inmitten von zwei Gegenden, die uns sehr am Herzen liegen: die Campi Flegrei und der Cilento. Idealerweise möchten wir diese zwei herrlichen Gegenden durch den kosmopolitischen élan des theatrum phonosophicum miteinander verbinden, dieser Raum soll unser Wirkungsfeld sein. ♦

von Lilly Gebert

***

Am Festival PHONOSOPHIA (21. bis 23. Juni 2024 in Attigliano, Italien) findet eine Vielzahl an Performances, Diskussionen, Klangspaziergänge, Workshops und kreative Retreats statt, an denen international führende Persönlichkeiten der künstlerisch-kulturellen Szene teilnehmen. Zum Programm (auf Italienisch und Englisch).

Shushan Hyusnunts (*1989) ist Musikwissenschaftlerin und Klangkünstlerin.

Leopoldo Siano (*1982) ist Musikphilosoph und Sound-Aktionist.


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Materie – der Zauber des Tatsächlichen

Wahrscheinlich leben in der heutigen Zeit mehr Menschen als je zuvor, die sich als «Materialisten» bezeichnen würden. Falls das bedeuten würde, dass sie ihr Leben in Abhängigkeit von dem erleben, was in ihrer Umgebung unmittelbar hör-, greif- und sichtbar ist, wäre mir eine solche Einstellung sehr sympathisch.

Die Schönheiten der sinnlich erfahrbaren Welt fänden Beachtung. Das Naturgegebene würde als unermesslichen Reichtum, den es möglichst zu bewahren gilt, gesehen. Auf der Erde zu arbeiten hiesse, die Widrigkeiten der Umwelt abzumildern, ohne dass die dazu verwendeten technischen Mittel diese Umwelt unumkehrbar schädigen.

Merkwürdigerweise ist aber in unserer Zivilisation der typische Materialist derjenige, der sich sowohl von seinem eigenen Körper als auch von seinen sozialen Bindungen distanziert. Sein Denken kreist um ferne Ziele, die erreicht werden müssen. …

von Manfred E. Cuny


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Kunst für eine gemeinsame Vision

An der New Earth Expo 2024 wird das einmalige Kunstprojekt «Art Im-Puls» zu bestaunen sein: Individuelle Kreationen auf Leinwand werden zu einem neuen Kunstwerk zusammengefügt. Einzigartige Inspirationen verschmelzen zu einer neuen gemeinsamen Vision. Bis jetzt sind laut Projektleiterin Janine Landtwing rund 150 individuelle Kreationen in Arbeit.

Landtwing betreibt das Atelier «Soul Alchemy Lab» in Cham und knüpft mit «Art Im-Puls» ideell an ein Projekt an, das sie vor einigen Jahren durchführte. 69 Künstler von fast allen Kontinenten hatten sich daran beteiligt. Dieses Mal soll es noch umfangreicher werden.

Die Idee des Projektes: Möglichst viele Menschen sollen im Sinne des Kernthemas der Expo, Souveränität, ihre Einzigartigkeit ausdrücken und in der Form eines Werks einbringen, das dann co-kreativ in das gemeinschaftliche Gesamtbild eingefügt wird. Dadurch wird das Abbild eines Weges in eine neue Welt greifbar.

So setzt das Kunstprojekt eingebettet im übergeordneten Thema der Expo neue Impulse für das spielerische Mitwirken an einer neuen Welt, ein gesünderes Miteinander und einen friedvollen Lebensraum.

Das neue Bild, bestehend aus den vielen einzelnen, entsteht gleichzeitig physisch und online. Seit Dezember kann der Fortschritt auf der Homepage der New Earth Expo verfolgt werden.

Künstlerische Vorkenntnisse sind zum Mitmachen nicht nötig. So beteiligen sich neben Künstlern auch Schulklassen bei «Art Im-Puls». Die Freude am Kreieren, die Motivation, an etwas Gemeinsamen mitzuwirken, steht im Vordergrund, sagt Landtwing.

Es sei spannend, diesen Prozess mit Menschen zu gestalten und im Voraus nicht zu wissen, was letztlich aus den vielen einzelnen Werken entstehe. Das Projekt biete einen Raum, aus dem sich selber etwas kreiere.

Die Expo hat sieben Schwerpunktthemen: Gesundheit und Wohlbefinden, neue Gemeinschaften und Formen des Zusammenlebens, Vernetzung, Politik und Gesellschaft, Kunst und Kreativität, Souveränität der Menschen, Nachhaltigkeit und Umweltschutz. Jedes davon hat eine Hintergrundfarbe. Alle Einzelwerke werden durch einen Kreis am Rand mit dem nächsten Bild verbunden. Diese Verknüpfung verbindet die Einzigartigkeit mit dem Gesamten.

Wer am Kunstprojekt mitwirken will, kann sich über nachfolgenden Link anmelden. Das Werk muss bis zum 8. April 2024 bei Janine Landtwing ankommen, damit das Gesamtbild bis zur Expo fertiggestellt werden kann. Zur Anmeldung:

newearth.soulalchemy.art/de/newearthexpo

von Armin Stalder


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MOMO

«Momo» ist eine Weihnachtsgeschichte für Kinder und gleichzeitig eine erleuchtende Geschichte für Erwachsene zum besseren Verständnis des ungerechten Geldsystems. «Momos» Potenzial in Bezug auf das friedliche Zusammenleben der Menschheitsfamilie kann nicht überschätzt werden.

Die Geschichte handelt vom ungeheuerlichen Privileg, das sich einige wenige Menschen bereits vor Jahrhunderten einfach genommen haben: Die unbegrenzte und dafür Zinsen verlangende Schuldgeld-Schöpfung aus dem Nichts durch Zentralbanken und Geschäftsbanken, auf Kosten unser aller Arbeit und Lebenszeit. Dabei handelt es sich um nichts weniger als das Monopol zum unendlichen Drucken von Geld zum eigenen Vorteil und mittlerweile zur Beherrschung der Welt und über 90 Prozent aller Menschen.

Der Autor von «Momo», Michael Ende, erkannte bereits in den 1970er-Jahren, dass das kapitalistische Fiat- oder Fake-Money-System durch Inflation bzw. Geldentwertung und Verarmung der Mehrheit immer wieder grosse Krisen und Kriege provoziert, und dass wir dies nur verhindern können, indem wir die menschengemachten Spielregeln des Geldsystems verändern. Michael Ende wünschte sich ganz offensichtlich eine öffentliche Diskussion über ein demokratisches Geldsystem, mit dem Ziel, die Zukunft unserer Kinder entscheidend zu verbessern. Denn was das Geldsystem zerstört, kann kein Sozialsystem jemals reparieren. Noch kurz vor seinem Tod bedauerte Michael Ende, dass man seine Botschaft nicht ernstgenommen hatte, wie ein sehenswerter Dokumentarfilm aus dem Jahr 1996 festhält.

Die MOMO Friedensbewegung

Die MOMOs, die Mitglieder der MOMO Friedensbewegung, sehen in der humanen Marktwirtschaft von Peter Haisenko die bisher beste Umsetzung eines fliessenden und nicht inflationären Geldsystems. Die humane Marktwirtschaft könnte die bereits viel zu lange andauernde Herrschaft des Fake-Money beenden. Insofern ist das tiefere Verständnis der Geschichte von «Momo» absolut essenziell für die friedliche Entwicklung unserer Gesellschaft, denn das Geldsystem ist das Hauptproblem.

Weil «Momo» aber auf eine für jedermann verständliche Art die Ungerechtigkeit des Schuldgelds offenlegt, sind diese schöne Geschichte und die gleichnamige Friedensbewegung nun ins Fadenkreuz des gewissenlosen Systems geraten. Der juristische Angriff auf uns zeigt ganz klar, dass sich die Konstrukteure und Vertreter des Weltfinanzsystems vor «Momo» fürchten.

Das ist ein sehr guter Grund, euch allen das Buch und den Film sowie die MOMO Friedensbewegung wärmstens zu empfehlen – speziell zu Weihnachten, dem Fest des Lichts und der Erleuchtung. «Momo» ist nicht nur ein Plädoyer für ein gerechteres Geldsystem, seine Botschaften zielen auf Empathie, die Tugend des Zuhörens und mehr Frieden in dieser Welt. Dies umzusetzen könnte uns, vereint als Menschheitsfamilie, dank MOMO gelingen. ♦

von einem Momo


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Fragebogen an Franzobel

Wann fühlten Sie sich das letzte Mal so richtig frei?

Ich war gerade in Qaanaaq, Nordgrönland, wo die Menschen vor allem von dem leben, was das Meer hergibt, Robben, Wale, Walrösser, die mit Kajaks und Harpunen gejagt und dann auf Schollen zerteilt werden. Dort leben 500 Menschen und es gibt im ganzen Ort nur Plumpsklos. Keine Restaurants, kein Bankomat. Krank werden will man da nicht, aber die Landschaft ist atemberaubend. Selten zuvor sind mir die Themen der Medien so nichtig vorgekommen. Ich bin Künstler geworden, um frei und selbstbestimmt leben zu können, aber in Nordgrönland und der Wüste Algeriens durfte ich noch einmal eine völlig andere, naturverbundene Freiheit kennenlernen.

Was sehen Sie, wenn Sie in den Spiegel schauen?

Eine Mischung aus Tom Waits und meinem Vater. Je nach Beleuchtung bin ich mal mehr, mal weniger zufrieden. Stolz ist mir fremd, aber etwas Eitelkeit ist schon vorhanden, weshalb ich mit meinem Äusseren nie zufrieden war. Für mein Leben aber bin ich dankbar, weil da gilt, was ein Freund einmal über mich gesagt hat: Du bist wie der Obelix als Kind in den Zaubertrank gefallen, ein Franzobelix.

Ihre erste Kindheitserinnerung?

Meine Eltern waren Häuslbauer, weshalb ich in jungen Jahren viel bei meinen Grosseltern gewesen bin. Einmal habe ich Oma und Opa gesagt, dass ich jetzt mit ihrem Auto nach Hause fahre. Die beiden haben gelacht. Ich, damals vier oder fünf, bin in den vor dem Haus geparkten VW-Käfer gestiegen und habe den steckenden Zündschlüssel gedreht. Die Strecke war ich zuvor ein paar Mal im Kopf abgefahren. Wo das Gaspedal war, wusste ich. Zum Glück war der Rückwärtsgang drinnen. Das Auto machte einen Hüpfer und landete im Hauseck. Die Grosseltern kamen angestürmt, waren aber froh, dass mir nichts passiert ist. Das abgeschlagene Hauseck liessen sie nie ausbessern.

In welcher Rolle fühlen Sie sich am wohlsten?

Als Zuhörer und Beobachter. Mich interessieren Menschen und die Natur. Ich will niemanden belehren, überzeugen oder Recht haben. Mir reicht es, wenn ich etwas Neues erfahre, da bin ich ziemlich egoistisch. Ich bin keiner von denen, die nur von der Vergangenheit erzählen, weil ich immer noch versuche, ganz in der Gegenwart zu leben.

Politik ist …?

Eine Bühne für Selbstdarsteller. Diesen Menschen misstraue ich zutiefst – egal, welcher Partei sie angehören. Politik ist ein schmutziges Geschäft, und seit es die unsozialen sozialen Medien gibt, auch ein verlogenes. Wer sich darauf einlässt, verliert seine Seele. Früher wollten Politiker etwas bewegen, aber heute geht es nur noch um den Kontostand …


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Eine Quelle, der er vertraut

Zwei Jahre lang widmete sich der Künstler Ferdinand Gehr ausschliesslich dem Nachdenken – in dieser Zeit der Introspektion wurde angelegt, was er während der folgenden 70 Jahre entfalten konnte.

Vom Werk des Malers Ferdinand Gehr (1896 – 1996) kennen viele die Bilder von Blumen und Äpfeln, da sie hunderttausendfach als Postkartenmotive verwendet wurden. Diese Aquarelle zu malen, bezeichnete Gehr einmal als sein «Hobby». Eindrücklicher wirken seine Landschaften (erdnahe oder auch traumhafte), Porträts, Farbholzschnitte, Glas-, Wand- und Tafelbilder, in denen Mystisch-Überzeitliches sich mit Naturhaftem verbindet.

Die Kontinuität seines während sieben Jahrzehnten entstandenen Schaffens war ihm auch deshalb möglich, weil seine Frau Mathilde (1907 – 1986) ihm alles abnahm, was nicht unmittelbar mit seiner künstlerischen Tätigkeit zu tun hatte. Zudem stand ihm, ab 1961, das erstgeborene seiner fünf Kinder, die Tochter Franziska, bei der Ausführung zahlreicher Wand- und Deckenbilder als Assistentin zur Seite. Auch seine Wandteppiche von zum Teil riesigem Format wurden von ihr ausgeführt.

Sie, die Textilkünstlerin Franziska Gehr (*1939), öffnete mir an einem unvergesslichen Sommertag das Atelierhaus in Altstätten. Ich durfte dort Werke ihres Vaters fotografieren, und mir von einer sehr speziellen Phase in seinem Leben erzählen lassen.

Zwischen 1924 und 1926 schien Gehr unproduktiv zu sein. Die Eindrücke vom modernen Kunstschaffen, die er während seiner Studien in Florenz und Paris erhalten hatte, waren derart reich, dass er eine Zeit des innerlichen Verarbeitens benötigte. Es entstand eine Situation, die man sich in ihrer Sonderbarkeit, sogar Peinlichkeit vorstellen muss: Dieser nicht mehr ganz junge Mann widmete sich, trotz einer abgeschlossenen Berufslehre als Textilentwerfer, jahrelang ausschliesslich dem Nachdenken! Er malte nicht – er tat «nichts» …

von Manfred E. Cuny


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