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Kein Bild ist ein Abbild

Bilder – diejenigen in den Medien, wie auch diejenigen der Kunst – könnten als «Beurteilungen» der Wirklichkeit bezeichnet werden. Sie machen – mehr oder weniger prägnant – anschaulich, was Menschen als «wirklich» ansehen. Auch umgekehrt gilt: Das in einem eindrücklichen Bild Gezeigte beurteilen viele Betrachter als «real» (Beispiel: Die «Bilder aus Bergamo»).

Wir nehmen in unserem Alltag das Wirkliche als etwas wahr, das aus zahllosen Dingen besteht. Als «realistisch» beurteilen wir jene Bilder, die dieser Sicht einer Welt aus lauter vereinzelten Dingen zu entsprechen scheinen. Meistens halten wir foto-ähnliche Bilder für «wirklichkeitsgetreu». Denselben Standpunkt vertreten auch Kunsthistoriker. Sie lehren, dass in der Bildproduktion seit der Renaissance, seit der Anwendung der Perspektive, stets «realistischere» (oder «naturalistischere») Bilder entstanden und dass diese Entwicklung mit der Erfindung der Farbfotografie ihren Höhe- und Endpunkt erreicht habe.

Dieser Standpunkt blendet allerdings aus, dass jedes Bild bedingt ist durch das Bild-System, dessen Produkt es ist. Auch eine Fotografie kann aus der Realität nur jenen Aspekt auswählen, den die Kameratechnik wiederzugeben erlaubt. Weil die Wirklichkeit un-bedingt da ist, ohne in «Aspekte» aufteilbar zu sein, zeigt ein Bild sie nie so, wie sie ist. Auch nicht so, wie wir sie sehen – denn unser Sehen und Erleben ist vielschichtig, nicht nur auf einen Aspekt ausgerichtet.

Künstler – jene Leute, die berufen sind, eigenhändig Bilder herzustellen – kennen die Praktiken, mittels derer sie einen scheinbar realistischen Effekt erzielen können. Sie glauben deshalb eher weniger an die «Beweiskraft» eines Bildes. Zudem hat ihr künstlerisches Schaffen sie zur Einsicht geführt, dass die endlos wandelbare Wirklichkeit sich in kein fixiertes Bild zwängen lässt. Weil ein Bild eine Fläche ist, kann es der Natur – die Bewegung, die Raum-Tiefe ist – nicht entsprechen. …

von Manfred E. Cuny


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Falsche Vorbilder – Die Kunst, für sich selbst einzustehen

Nina Maleika hat noch nie etwas von sinnlosen Regeln und falschen Autoritäten gehalten. Die Musikerin erzählt uns, wie ihr Gerechtigkeitssinn geschärft wurde, als sie noch ein Kind war.

«DIE FREIEN»: Liebe Nina, du bist Sängerin, Songwriterin und Moderatorin, gibst Musikunterricht für Kinder, ernährst dich vegan, bist sehr engagiert und stadtbekannt. Als was aber identifizierst du dich selbst?

Nina Maleika: Tatsächlich als alles, ich war schon immer ein sehr vielseitiger Mensch. Natürlich ist die Kunst die letzten zwei bis drei Jahre ein bisschen kürzergetreten im Zuge meines Aktivismus. Aber ich habe 20 Jahre als Sängerin und Künstlerin gelebt und jetzt haben andere Sachen Priorität. Ich lasse mich nicht gerne einschränken oder einkategorisieren. Das hat mich immer ausgemacht: Dass ich irgendwie überall zu Hause war, mich auch als alles identifiziert habe.

Du bist eine starke Persönlichkeit, die auch mal den Mund aufmacht – hast du vielleicht eine besonders ausgeprägte Aversion gegen Konformitätsdruck?

NM: Ich habe vor allem eine Aversion, wenn mir jemand etwas vorschreiben will, den ich erstens nicht kenne und den ich als Autoritätsperson auch nicht respektiere. Und ich habe ein Problem mit Anweisungen, die irgendwie keinen Sinn machen, die einfach in meine Persönlichkeit eingreifen. Das war als Kind schon so. Ich war noch nie dazu geneigt, einer Führungsperson in irgendeiner Form hinterherzurennen. Ich war auch als Kind nie Fan von irgendeiner Band mit Postern an der Wand. Dieses Glorifizieren habe ich in der Form nie gehabt. Damit ist es natürlich schwer für mich, das auszuhalten, was hier seit fast drei Jahren passiert. Ein Freund von mir hat neulich gesagt: «So eine Pandemie ist nichts für dich. Du machst da einfach nicht mit.»

Erklärst du dir so auch deinen Sinn für Gerechtigkeit?

NM: Meinen Sinn für Gerechtigkeit hat meine Mutter in mir geweckt. Ich war als Kind immer sehr rebellisch, immer sehr «dagegen». Aber ich war teilweise auch sehr ungerecht zu anderen Kindern. Ich habe mich damals auch körperlich durchgesetzt mit Fäusten, wenn mir was nicht gepasst hat. Aber wenn ich irgendwie Fehler gemacht habe, hat meine Mutter die Kinder nach Hause geholt und gesagt: «Da musst du dich jetzt entschuldigen». Diesem starken Drang und Wunsch, immer auf die Schnauze zu hauen, wenn mir was nicht gefällt, hat meine Mutter immer was entgegengesetzt, wenn es darum ging, dass man sich gegen Schwache gerichtet hat. Und sie hat mir einen sehr, sehr guten Blick dafür mitgegeben und eingeschärft, um zu gucken: Wo sind Menschen, die schwach sind? Nimm sie unter deine Fittiche und hilf ihnen. Sei und steh bei ihnen.

Zweimal wurden bei dir Hausdurchsuchungen durchgeführt. Man könnte fast sagen, man hat dich auf dem «Kieker» – offenbar passt du nur zu gut in dieses staatlich-mediale Feindschema.

NM: Also, erstens gibt es nicht so viele bekannte Frauen unter den Aktivistinnen, die so laut sind. Es gab die Anwältin Beate Bahner, Eva Rosen oder vielleicht noch Sarah Bennett. Die meisten von ihnen waren am Anfang sehr laut, sind jetzt aber schon wieder in den öffentlichen Medien zurückgetreten. Und dann kam ich halt auf deren Schirm. Ich glaube, es ist sehr ungewöhnlich, dass jemand sich so angstfrei und so laut und deutlich mit der Ansage «Ich lasse mich hier nicht weg- oder kleinreden» der Öffentlichkeit aussetzt. Da bin ich natürlich ein gefundenes Fressen. Ich sehe es aber nicht nur negativ: Wenn ich die Aufmerksamkeit, die ich durch die Hausdurchsuchung bekommen habe, innerhalb der Bewegung dafür einsetzen kann, Leuten Mut zu machen, dann hat sich das «gelohnt». Natürlich haben sie mich auf dem Kieker, aber ich kann es halt auch tragen. Von daher sind sie da bei mir schon an der richtigen Adresse. (lacht)

Siehst du nicht auch in eben dieser Haltung vieler Menschen, die darauf hoffen, dass jemand aufsteht und für sie einsteht, eine Gefahr?

NM: Ja, natürlich. Ich gucke mir die Menschen jetzt auch schon eine ganze Zeit lang an, und irgendwie scheint es normal zu sein, dass viele immer jemanden brauchen, der vorneweg geht und den sie als mutig, als Held oder Heldin abstempeln können. Ich finde das zu einem gewissen Punkt auch okay und vielleicht auch normal. Aber ich würde mir wünschen, dass alle selber persönlich da vorne stehen – wir gemeinsam. Ich habe diesen Guru, diesen Helden nie gebraucht, andere brauchen ihn. Wenn da jemand vorangeht, der das mit Verantwortungsbewusstsein macht, dann finde ich es gut. Aber die Gefahr ist natürlich, dass die anderen sich zurücklehnen und dann irgendwelche Leute da vorne laufen. Vielleicht ist der Mensch einfach noch nicht so weit.

Ermöglichen Kunst und Musik in dieser Hinsicht vielleicht eine Hilfe zur Selbsthilfe?

NM: Ehrlich gesagt, weiss ich nicht mehr so genau, was Kunst ist und ob sie hilft. Wir erleben ja, dass die Künstler entweder gar nicht schnallen, was hier passiert, oder es nicht schnallen wollen, weil sie am Tropf dieses dreckigen Systems leben und sich natürlich auch die Butter vom Brot nicht nehmen lassen wollen. Von daher überschätzen wir Kunst vielleicht. Vielleicht hatte sie diesen Stellenwert mal, aber jetzt nicht mehr – zumindest nicht in unserem kranken System.

Wie würde für dich denn eine gerechte, lebenswerte Gesellschaft aussehen?

NM: Ich glaube, eine lebenswerte und gerechte Gesellschaft funktioniert in unserem kapitalistischen, westlichen System nicht. Das ist ein Trugschluss. Wir sind alle einfach nicht konsequent genug. Wenn wir so leben wollen würden, wie es gesund wäre, dann müssten wir hier komplett alle raus. Wir müssten zurück zum Ursprung. Dann müssten wir unser Konto kündigen, unsere Steuernummer kündigen, und das wollen wir nicht. Wir wollen alle weiter in unserem geilen Haus wohnen. Wir wollen alle weiter in Luxus leben, in den Urlaub fahren und zum Arzt gehen, weil wir uns selbst und unseren Heilkräften nicht vertrauen. Und deswegen müssen wir den Wahnsinn hier mitmachen und können uns auch nur partiell darüber beschweren, inklusive mir. Wir sind einfach nicht im Vertrauen und wir sind alle nicht konsequent. Ich kenne ganz wenige, die sagen: Okay, ich geh raus.

Woran hast du denn noch Spass?

NM: Ich habe an total vielem Spass. Ich habe Spass an dem Leben, das ich neu erschaffe, und an der Person, die ich gerade werde, also an ganz vielem. Das ist auch ein Abschied. Ich habe Spass am Aufbau des Neuen, ohne zu wissen, was es ist. Wenn wir merken, dass das Alte nicht mehr funktioniert, wenn man sich von irgendwas löst; wenn man sich sozusagen aus der alten Welt herauszieht und etwas Neues schafft, tappt man wahrscheinlich erst mal ein paar Jahre im Dunklen. Man befindet sich in einer Übergangsphase, in der man nicht genau weiss, wohin mit sich, wo nur noch ein grosses Fragezeichen ist. Ich glaube, dass das gesund und auch normal ist. Nach drei Jahren Wahnsinn komme ich auch immer mehr zurück zum spirituellen Aspekt: Man muss sich erst komplett verlieren, um etwas Neues entstehen zu lassen. Wir können nichts Neues erschaffen, wenn das Alte nicht gestorben ist. Das ist vielleicht erst mal nicht so schön und klingt vielleicht nicht positiv, aber ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Prozess. Ich kenne ehrlich gesagt auch niemanden, der sich in diesem Wahnsinn tiefgreifend verändert hat, ohne den spirituellen Aspekt einzubeziehen. Es geht gar nicht anders. Das, was hier passiert, ist so was von schlimm – dem kannst du nur mit Humor oder mit Spiritualität begegnen. Alles andere halte ich für unmöglich. ♦

von Lilly Gebert


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Fragebogen an Andreas Vettiger

In welcher Rolle fühlen Sie sich am wohlsten?


Auf der Bühne fühle ich mich am wohlsten in der Rolle des Chefs (Weissclown). Im Alltag probiere ich, möglichst keine Rolle zu spielen und mich selbst zu sein. Ich verwirkliche gerne kreative Projekte von der ersten Idee bis zur Schlussabrechnung und sehe mich auch als Netzwerker zwischen Kulturschaffenden und Kulturinteressierten. So entstehen immer wieder neue Kulturräume, Festivals oder – bei Aufführungsverboten – «gesundheitsfördernde oder religiöse Veranstaltungen» für Menschen, die dies wollen.


Was sehen Sie, wenn Sie in den Spiegel schauen?


Das Spiegelbild meines physischen Körpers. Oft realisiere ich bei dessen Anblick, dass ich mich noch rasieren sollte …


Was glauben Sie, woher Sie kommen?


Ich glaube, dass mein geistiger Wesenskern die Zeit überdauert und nur meine jeweiligen körperlichen Hüllen vergänglich sind. Die körperlichen Hüllen scheinen mir nötig, um als Mensch das Grundthema dieser Zeitschrift zu erforschen und erlernen; die Freiheit.


Wann fühlten Sie sich das letzte Mal so richtig frei?


Bei der täglichen Meditation fühle ich mich doppelt frei. Erstens, weil es jeweils ein freier Entscheid von mir ist, zu meditieren. Zweitens, weil während der Meditation, bei der Anschauung meines eigenen Denkens, ein Moment entsteht, wo komplette Freiheit erlebbar wird. Ich erlebe mich als Schöpfer meiner Gedanken.


Warum sollte man Ihnen zuhören?


Es sollten mir nur diejenigen zuhören, die mir zuhören wollen. Gerne habe ich Menschen, die mir zuhören, wenn ich uralte Volksmärchen und Weisheitsgeschichten erzähle oder meine Lieder singe. Das macht beides nur Sinn, wenn es ein zuhörendes Publikum gibt. Wenn jemand nicht nur gerne zuhören, sondern auch wieder mal ausgiebig lachen und staunen möchte, empfehle ich zudem, einer Aufführung von unserem Duo «Gilbert & Oleg» beizuwohnen.


Ihre erste Kindheitserinnerung?


Keine konkrete Ahnung mehr … ich genoss aber eine unbeschwerte Kindheit mit vielen Freiheiten und einem sicheren Hafen in der Familie.


Ihr grösster Erfolg?


Nicht der grösste, aber einer der schönsten Erfolge war ein Theaterprojekt mit 15 Jugendlichen im Jahr 2017. Es hiess «Die Glücksbringer vom Gleis 1 – ZiRZiNi, der Traum vom Frieden». Es entstand während einem Jahr ein gemeinsames Theaterstück mit Artistik und Musik, mit welchem wir zum Abschluss auf Tour gingen. Mir wurde bei diesem Projekt klar, welches gewaltige Potenzial in den jungen Menschen steckt, wenn man es nur weckt und ihnen hilft, sich zu entfalten. Das Projekt hat mich zutiefst berührt und ich wünschte mir, dass alle Kinder solche Momente erleben dürften. Ein Link zum Dokumentarfilm über die Glücksbringer (auch von einem Jugendlichen gemacht!) ist auf unserer Website zu finden.


Ein grüner Daumen oder zwei linke Hände?


Als Ausgleich zur Bühne liebe ich Gartenarbeiten oder Ausbauten im und am Haus. Es darf gerne auch mal ein selbstgebauter Zirkuswagen sein. Alles kreativ und ordentlich gemacht, aber nie perfekt … In unserem riesigen Garten liebe ich es, die Bäume zu pflegen. Da wir im Sommer meistens zwei bis drei Monate mit unserem fahrenden Theater durch die Schweiz tingeln, macht ein Gemüsegarten leider keinen Sinn.


Eher mass-los oder mass-voll?


Solange ich mich je nach Situation frei für das eine oder das andere entscheiden kann, ist mir beides recht.


Politik ist …?


… aus meiner Sicht eigentlich anders gedacht, als sie heute praktiziert wird. Für mich sollte die Politik einzig das Zusammenleben der Menschen regeln, dort wo dies benötigt wird. Unabhängig von Fähigkeiten oder Reichtum sollten in der Politik alle Menschen und ihre Interessen gleichwertig behandelt werden. Die Politik hat in der Wirtschaft, der Kunst, den Weltanschauungen und den Wissenschaften nichts zu bestimmen. Die Politik soll dies alles denen, die es benötigen und wollen, gleichermassen ermöglichen – und nicht aus Eigen-, Macht- oder Lobbyinteressen inhaltlich in diese Gebiete eingreifen.


Wie viel Freiheit ertragen Sie?


Freiheit ist nicht etwas, was ich ertragen muss. Freiheit ist mein Ziel.


Wie viel Macht beanspruchen Sie für sich?


Das Wort Macht ist eher mit negativen Gefühlen verbunden. Im Wort «Macht» ist aber auch das Verb «machen» drin. «Handeln» oder «Tun». Ich beanspruche möglichst viel Handlungsspielraum für alle. Ich möchte meine Macht und auch die der anderen Menschen zu einem Handeln aus Erkenntnis nicht eingeschränkt sehen. Dazu kommt mir ein schönes Zitat von Rudolf Steiner in den Sinn: «Leben in der Liebe zum Handeln und Lebenlassen im Verständnis des fremden Wollens ist die Grundmaxime des freien Menschen.»


Welches Buch sollte jeder gelesen haben?


«Die Philosophie der Freiheit»

Zu welcher Musik tanzen Sie sich frei?


Ich tanze gerne «Bal-Folk». Da kann ich meine Freiheit in Gemeinschaft mit anderen Menschen geniessen. Das war auch in der kulturarmen Zeit mit sozialen Einschränkungen immer wieder der beste «Booster» für meine Lebensenergie.


Ihr Lichtblick in finsteren Zeiten?


Liebe und Vertrauen.


Was wollen Sie noch erreichen?


So viel wie möglich.


Was geschieht nach dem Ende?


Anfang und Ende gibt es nur in Zeit und Raum. Ich denke, nach dem Ende wird es wieder so sein wie vor dem Anfang, nur anders …


Kommt es gut?


Es kommt so, wie wir es gestalten!

Andreas Vettiger ist Schauspieler, Märchenerzähler und Liedermacher. Er ist die strengere Hälfte des Komiker-Duos «Gilbert & Oleg», welches jeweils im Sommer mit ihrem eigenen Theater auf Rädern «Fahrieté» in der Schweiz unterwegs ist. Mit seiner Partnerin Priska pflegt er im Berner Jura die grosse Märchenlesebibliothek «Le Toit des Saltimbanques». Gemeinsam als «Priska & Jean Duconte» verwöhnen sie die Menschen mit ihren Liederstubeten oder in ihrem Märchen-B&B in Courtelary.

www.gilbert-oleg.ch
www.märchenundlieder.ch
www.saltimbanques.ch

von Redaktion


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Über Freiheit, Scham und Psycho-Clowns

Freiheitskämpfer Daniel Stricker ist auf Lesetour. In seinem «Buch der Schande» hat er die «Psycho-Clowns der Lügenpandemie mit ihren eigenen Worten» verewigt und damit den Corona-Wahnsinn in der Schweiz für die Nachwelt festgehalten. Über 8000 Exemplare hat er bereits verkauft, nun tingelt er mit seiner rosa Zipfelkappe durchs Land, um sein Werk zu präsentieren. Aber was erwartet einen an Strickers Lesung? Zwei Stunden Politiker-Bashing und ein Aufwärmen ihrer unsäglichen Corona-Dummheiten? Ich wollte wissen, ob es sich lohnt, Stricker live auf der Bühne zu sehen. Und ob ich seine Retrospektive des schweizerischen Covid-Faschismus ertragen würde, ohne mich zu retraumatisieren.

Vorweg: Meine schlimmsten Befürchtungen trafen nicht ein – obwohl Stricker selbst gleich zu Beginn warnte: «Nach diesem Auftritt werden die meisten von euch eine andere Meinung über mich haben – und zwar nicht unbedingt eine bessere.» Er betreibe mit dieser Show eigentlich gezielte «Selbstzerstörung», kündigte er an – wohl darauf anspielend, dass wir sicher keine Vorlesung in politischer Korrektheit zu hören bekommen würden.

Tragikomik und Stildiskussionen

Dass Stricker zu viel schimpfe, ist ja eine oft gehörte Kritik. Während es die einen abschreckt, lieben ihn die anderen dafür: Vielen Menschen spricht – und flucht – Stricker seit fast drei Jahren aus der geschundenen Seele. Stellvertretend für sie kotzt er den Ärger über die verlogenen «Massenmerdien» und den tagtäglichen Wahnsinn in der woken «Volksrepublik Psychopazien» am Küchentisch aus. Stricker-TV zu sehen hatte insofern geradezu kathartische Wirkung; es war Therapie in der Pandemie. Stricker nimmt denn auch Stellung zum häufigen Schimpf-Vorwurf: «Ich habe nie verstanden, wieso wir über Stil diskutieren, während vor aller Augen die grössten Verbrechen begangen werden.»

Auf YouTube pflegt Stricker seine derben Aussagen zu «entschärfen», indem er sie als «Satire» labelt. Auch in seinem «Buch der Schande» hat er sich bis zu einem gewissen Grade selbst zensiert – oder Tricks angewandt, um rechtlichen Konsequenzen vorzubeugen. So hat er seine kontroverseren Kommentare nicht abdrucken lassen, sondern per QR-Code platziert; virtuelle Worte lassen sich einfacher löschen, falls juristische Gewitterwolken aufziehen. Dass das Buch auch so noch genügend Potenzial für Strafanzeigen habe, nehme er jedoch in Kauf – letztlich würde er von der Publicity profitieren, wenn es bekämpft würde.

Zur Kostprobe zitiert Stricker spontan Mike Müllers berüchtigte «Frage an ein ungeimpftes A…loch» – die er einfach mal mit einer Gegenfrage «an ein geimpftes A…loch» gekontert hat. Müller war ja zweifellos in die grösseren Fettnäpfe getreten – aber Stricker hat noch viel asozialere Aussagen aus dem öffentlichen Seuchen-Diskurs zu bieten. So kriegt die «Elite» der Covideratio Helvetica durch alle Couleurs hindurch ihr wohlverdientes Fett weg – Roger Schawinski genauso wie Christoph Blocher, Eric Gujer nicht weniger als Daniel Koch. Ihre verbalen Entgleisungen sind nach wie vor unappetitlich – aber nicht unverdaulich. Denn dank Stricker, der mal mit subtiler Ironie, mal mit bissigem Humor seinen Senf dazugibt, schimmert auch in den übelsten Reminiszenzen das Lächerliche und Tragikomische hindurch.

Die Scham als Wurzel des Übels?

Strickers Urteil über die wahrhaften «Pandemie-Treiber» ist dabei hart und schonungslos. Es sei ja nicht so, dass in dieser Krise «beide Seiten ein bisschen recht» gehabt hätten: «Nein. Wir wollten einfach nur in Ruhe gelassen werden. Wir haben nichts anderes getan, als unsere Grundrechte zu verteidigen – und unsere Bürgerpflichten zu erfüllen. Alle anderen hätten sich unseretwegen ja drei oder vier Masken gleichzeitig anziehen können!»

Stricker beschränkt sich jedoch nicht darauf, die einzelnen «System-Clowns» vorzuführen, sondern versucht, in diesen zwei Stunden – ganz free-style – ein umfassenderes Bild der «Schande» zu zeichnen, und damit auch der Scham: In seinen Augen ein wichtiger Faktor, der die Einseitigkeit und Widerspruchslosigkeit im Corona-Diskurs überhaupt erst ermöglichte, denn: «Die Mainstream-Medien bringen Andersdenkende dazu, sich zu schämen.»

Insofern liege die Wurzel des Übels keineswegs bei einzelnen Personen, sondern in unserer schamerfüllten Kultur: In einer Kultur, in der sich zu viele Menschen über zu viele Dinge schämen, liesse sich der politische Debattenraum mittels Beschämung nur allzu leicht in den Würgegriff nehmen. Unliebsame Gegenpositionen einnehmen würden nur diejenigen, denen es nichts ausmache, beschämt zu werden – und die schamlos genug seien, sich einer unterdrückerischen Mehrheitsmeinung mit einem herzlichen «Fuck you» entgegenzustellen. Deshalb, plädiert Stricker, müssten wir bei der Kultur ansetzen, um die Menschen zu erreichen und die Freiheit zu verteidigen – sei es mit Büchern, Musik oder eben Humor.

Musikalische Genüsse und schlüpfrige Anekdoten

Strickers Lesung hat übrigens auch musikalische Genüsse zu bieten: Denn die Berner Sängerin und Songwriterin Andrea Pfeifer alias Yoki begleitet ihn auf seiner Tour. Wohl keine andere Musikerin hat die Melancholie der Corona-Diktatur hierzulande so feinsinnig verarbeitet wie Andrea Pfeifer. Mit ihren zarten und klugen Protestliedern erzeugt sie eine wunderbar berührende, schon fast intime Stimmung, die einem bisweilen einen kalten Schauer den Rücken hinunterlaufen lässt. Selbst nach dem lauten Glockengetöse der einmarschierenden Freiheitstrychler schafft sie es, nur mit ihrer Gitarre und ihrer Stimme bewaffnet, das Publikum innerhalb weniger Augenblicke in den Bann zu ziehen.

Welche Überraschungen erwarten einen noch an Strickers Lesung? Eine geballte Ladung witziger Anekdoten aus seinem Leben – denn genauso free-style wie Stricker aus seinem Buch zitiert, plaudert er aus dem Nähkästchen. So eröffnet uns Stricker spontan, wie ihm die Einreise in die USA gelang ohne «Schlumpfung». Oder wieso ihm Markus Somm «mangelnden Patriotismus» vorwarf, nachdem das Interview mit ihm völlig aus dem Ruder lief. Wir erfahren, wieso ihm sein «Augenöffner» Elon Musk so hoch und heilig ist und ob auch das Publikum Musk so bedingungslos liebt (nein, tut es nicht). Wir erfahren, wieso sich der Freiheitsrebell am Tiefpunkt seiner ganz persönlichen «Corona-Krise» sogar gewünscht hätte, von der Polizei verprügelt zu werden. Und was ihm Kraft gab, den ganzen Irrsinn zu überstehen (die Antwort ist rührend). Wir erfahren, was Stricker unter äusserer und innerer Freiheit versteht, und welche Freiheit er als die wichtigste betrachtet. Und auch, wie Stricker seine Unschuld verlor. Wobei er differenziert zwischen seinem «ersten Mal» und seinem «allerersten Mal» – und in lebhaften Details alles schildert, was ihm daran so peinlich war, dass er jahrzehntelang niemandem davon erzählt hat.

Fazit: Strickers Lesung ist keine Schlammschlacht der Schande, sondern eine sehr heitere und geistreiche Show, die wunderbar aufzeigt, wie wichtig es ist, sich frei äussern zu können – auch und gerade über schlimme, traurige und peinliche Dinge. Hartgesottene Stricker-TV-Fans kommen dabei genauso auf ihre Kosten wie noch «unverdorbene» Besucher. Erstere dürfen sich auf viele witzige Geschichten und pikante Anekdoten aus seinem Privatleben freuen. Und diejenigen, die Stricker noch nicht kennen, lernen ihn auf der Bühne gleich so richtig kennen: ungestreamt, unverblümt, im Ausdruck authentisch, frech und frei.

von Christian Schmid Rodriguez


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The show must go on

Wer sich mehr als 100 Jahre Freude auf die Fahne schreiben kann, hat vieles richtig gemacht im Leben. Der Zirkus Knie ist nach seinem 100-Jahr-Jubiläum und einer Zwangspause ins Jahr 2023 gestartet.

Es war pures Glück, das sich am ersten Tag des neuen Jahres unter dem Zirkuszelt ausbreitete. Als sich bei der Schlussrunde gut 5000 Zuschauer zu einer Standing Ovations erhoben und der Applaus nicht abklingen wollte, war die Freude über die unersetzlichen Zirkusmomente zu spüren. Mit strahlenden Augen und einem gewinnenden Lachen liessen mich die Artisten an ihrem Stolz über die atemberaubende Show teilhaben; die Stimmung rührte mich zu Tränen. Hier werden Emotionen verkauft. Dieses Metier versteht die Familie Knie wie niemand anderes.

Tief ergriffen fühlte ich mich, geborgen und verbunden inmitten von Tausenden von Menschen, als Teil von etwas Grossem. Die Qualität dieses Gefühls erfasse ich erst jetzt; ich hatte es lange nicht mehr erlebt. Dabei zu sein, wenn alle den Atem anhalten und mitfiebern, Auge in Auge mit den Artisten, den Luftzug ihrer Trapezkünste zu spüren und gemeinsam über die Missgeschicke der Komiker zu lachen – das sind elementare Erlebnisse, die kein Bildschirm ersetzen kann.

Scharen von Menschen, vom Kleinkind bis zur Grossmutter, standen Schlange am Zuckerwatte-Automaten, beim Wurststand oder vor den WCs. Menschliche Nähe war hier unausweichlich. Während drei Stunden fanden so viele Leute auf engstem Raum auf angenehme Weise zusammen. Es war schön, wieder einmal solche verbindenden Momente zu erleben: Wenn Tausende von Händen zu den gelungenen Kunststücken klatschen, tausend heitere Seelen über die Clowns lachen, wenn zur Musik die Lichter der Handys in der Luft hin und her schweifen und der Duft von Popcorn um meine Nase streichelt, dann entsteht eine wunderbare Stimmung, die sich wie Samt um mein Bewusstsein legt.

Kinder wie Erwachsene erleben hier, was Menschen gemeinsam schaffen können – Schaffen im Sinne künstlerischer Herausforderungen; schaffen aber auch im Sinne autonomer Unternehmensführung.

Stellen sie sich vor: Seit über 100 Jahren balanciert das Familienunternehmen Knie in einem öffentlichen Hochseilakt. Die Gefahr, das Gleichgewicht zu verlieren und auf der einen oder anderen Seite in die Tiefe zu stürzen, lauerte überall: Der Zweite Weltkrieg, die Weltwirtschaftskrise, die immer grössere Konkurrenz im Unterhaltungssektor – und zuletzt ein staatlich verordnetes Versammlungsverbot. Dazu kamen interne Auseinandersetzungen unter Familienmitgliedern und Misserfolge. Und das Risiko besteht auch weiterhin.

Tradition erhalten und gleichzeitig mit der Zeit gehen: Ist dieser Spagat machbar? Immer wieder musste ein Konsens erzielt, mussten neue Lösungen gefunden werden. Mit konsequenter Haltung, Zielstrebigkeit und der nötigen Portion Offenheit gelang es dem Unternehmen Knie, seine Geschichte fortzuführen und sich trotzdem immer wieder neu zu erfinden. In alldem gilt es, rund 140 Mitwirkende jeden Alters, aus verschiedenen Nationen und Kulturen, mit unterschiedlichsten Fähigkeiten und Gesinnungen unter ein Zirkuszelt zu bringen. Gelingen kann das nur, wenn alle am selben Strick ziehen, zusammenarbeiten und füreinander da sind. Was sie alle verbindet, ist ihr gemeinsames Ziel: Immer wieder eine perfekte Show darzubieten!

In der Familiengeschichte des Zirkus war Margrit Knie (1897 – 1974) eine sehr prägende Figur. Welch grossen Einfluss die Frau von Friedrich Knie sen. (1884 – 1941) auf das Unternehmen hatte, erfährt man in der zweiteiligen SRF-Doku «Schweizer Nationalzirkus Knie – 100 Jahre Tradition». Margrit Knie pflegte ihre Beziehungen sorgfältig und wirtschaftete überlegt. In politischen und religiösen Konflikten verhielt sie sich unparteiisch. So achtete sie beispielsweise peinlich genau darauf, ihre Lebensmittel gleichsam bei Katholiken wie bei Reformierten zu besorgen. Spaltung jeglicher Form war ihr zuwider. Das gab sie auch den kommenden Generationen mit. Ihr Enkelsohn Fredy Knie jun. umschrieb das sehr treffend und brandaktuell: «Wir sind eben richtige Schweizer, wir sind neutral.»

Die Neutralität war und ist auch für das Unternehmen ein Erfolgsrezept. Im Zirkus Knie werden alle gleich behandelt: Die Mitarbeitenden aus verschiedenen Ländern genauso wie die Zuschauer. So brachte die Familie Knie unter ihrem Zirkuszelt alle zusammen, bereitete dem unterschiedlichsten Publikum Freude und leistete so mehr Friedensarbeit als die Kirche, die in grossen Teilen des Landes tiefe Gräben grub, die sich durch unsere Gesellschaft zogen.

Während des Zweiten Weltkriegs war – ähnlich wie in den letzten Jahren – die Spieltätigkeit infrage gestellt. Wegen drohender Bombenangriffe wurde damals die Massnahme erlassen, bei Dunkelheit keine Lichter brennen zu lassen. Die Regierung erlaubte der Familie Knie die Aufführungen nur mit abgedunkeltem Zelt. General Guisan setzte sich höchstpersönlich dafür ein, dass überhaupt gespielt werden durfte. Er war sich bewusst, dass in schwierigen und unsicheren Zeiten heitere Seelennahrung wichtig ist und die Menschen Orte brauchen, um zusammenzukommen, seelisch auftanken und den Kummer vergessen zu können.

Ja, es war Ablenkung; und ja, es waren und sind immer noch Illusionen und Emotionen, die uns ein Zirkus verkauft. Aber was wäre die Welt ohne sie? Sind es nicht auch die Illusionen eines schönen, heiteren, friedvollen Lebens, die uns antreiben, ein solches überhaupt anzustreben? Und sind es nicht die Emotionen, die uns das Leben lebenswert erscheinen lassen? Führt uns der Zirkus eben nicht auch eine Realität vor Augen? Dass wir die Illusionen des Schönen und Guten mit vielen anderen Menschen teilen; dass diese Illusionen auch in anderen Menschen einen Zustand der Freude und des Glücks wachrufen? Dass gemeinsame Freude und Glück möglich sind?

Hinter all dem Glitzer, der Heiterkeit, der Akrobatik stecken viel bitterer Ernst und harte Arbeit. Über all die Jahre miteinander auszukommen, Streit auszutragen, wieder Lösungen zu finden, das hat die Dynastie Knie erfolgreich geschafft. Auch Schicksalsschläge wie der Freitod des beliebten, kleinwüchsigen Clowns Spidi mussten verarbeitet und überwunden werden. Menschen und Tiere, sind gekommen und gegangen: So veränderte sich auch die Zusammenarbeit von Tier und Mensch. Ausser den Pferden und Ponys sind Tiere nämlich gänzlich aus den Shows verschwunden.

Das Publikum sieht nur die Pailletten, das Lachen, die Manege, Künstler, aber der echte Zirkus ist viel mehr. Hier packen alle; und zwar die ganz unterschiedlichsten Menschen gemeinsam an, arbeiten und schaffen etwas miteinander. Was sie verbindet ist die Arbeit; ihr gemeinsames Wirken. Es ist ein Zusammenwirken von unzähligen Aspekten: Logistik, Tiere, Inspiration, Schaffenskraft, Zwischenmenschlichkeit und nicht zuletzt – Liebe. Die Liebe zu den Mitmenschen, den Tieren, der Umwelt und dem Leben selbst.

Die Familie Knie schuf sich über die letzten 100 Jahre ihre eigene Welt mit teils eigenen Regeln. So werden die Zirkuskinder ganz selbstverständlich unternehmensintern geschult. Die internationale Zusammenarbeit mit Künstlern geschieht ungeachtet geopolitischer Entwicklungen. Es geht um ein Miteinander in jeder Hinsicht. Es geht um die Verbindung von Mensch zu Mensch, um für Menschen das zu schaffen, was uns ausmacht: Die geteilte Freude am Leben.

Der Zirkus beschenkt uns mit Emotionen und Illusionen. Emotionen, die aus dem Herzen kommen und Illusionen einer friedlichen, fröhlichen Welt – damit wir an sie glauben und wissen, dass sie existiert. Insofern erinnert uns der Zirkus an die wahre Welt, an das, worum es eigentlich geht: Um ein funktionierendes Universum, das die elementaren Dinge im Leben abbildet, nämlich Zwischenmenschlichkeit, Toleranz und Lebensfreude. Während aussen herum ein anderer Zirkus spielt, ein falscher, einer, den man zwischendurch für ein paar Momente vergessen sollte.

Deshalb: The show must go on!

von Prisca Würgler


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Betrachtungen im Dom zu Arlesheim

Im Baselbiet in Arlesheim steht ein wunderschöner Dom. 1679 bis 1681 erbaut, erhielt sein Innenraum 1759 bis 1761 ein neues, von Tessiner und Venezianischen Künstlern gestaltetes Gesicht. Das von ihnen geschaffene Ensemble wurde vor wenigen Jahren sorgfältig renoviert. Der erhebende Anblick dieses Gesamtkunstwerks – das man sich von Musik erfüllt vorstellen darf –, regt mich an, einige seiner Qualitäten näher anzuschauen.

Die hier verwirklichte Stileinheit von Architektur, Malerei und Plastik stammt aus jener Epoche, in der monarchische Gesellschaftsstrukturen – die sich wenig später aufzulösen begannen – noch bestanden. Die von der Kirche vermittelte Lehre wurde von den Gläubigen noch als ein tiefsinniges Bild des Universums verstanden und weitgehend mitgetragen. Die im Dom gemalten oder in Stuck (einem Gemisch aus Gips und Marmorpulver) modellierten Gestalten aus Bibel und Mythos können uns heute, wo nur noch Zahlen «modelliert» werden, erfreuen und berühren.

Gleichzeitig stellen sich mir angesichts eines solchen Bauwerks Fragen: Kann das Lebensgefühl, das diesen Innenraum durchdringt, sich mir mitteilen, oder bleibt es mir fremd? Bin ich nicht vielleicht «gegen» eine solche Prachtentfaltung, die mancher als theatralische Inszenierung eines vereinnahmenden Katholizismus bezeichnen würde? Auch ich kann für Momente diesen Rokoko-Stil in kritischer Weise sehen – frage mich aber, was mich daran trotzdem so sehr anzieht?

Ich wohne in der nahe gelegenen Stadt. Dort wurden in letzter Zeit grosse und riesengrosse Bauten hochgezogen. Es sind Häuser oder Türme in Form von Quadern (allenfalls schräg angeschnitten oder abgetreppt), deren Fassaden mit gleichmässigen Gittern gerastert sind. Die Masseinheit, die diesen Gitterstrukturen zugrunde liegt, ist ebenfalls so gross, dass – mit ihr verglichen – das Mass der Menschen (ca. 170 cm Höhe), die sich im Bereich dieser Immobilien bewegen, als winzig erlebt wird. Auch wenn ich das eine oder andere dieser Bauwerke gelungen, dessen Design im Einzelfall schön finden kann, stelle ich doch fest, dass sie, aufgrund dieser wenig differenzierten Massstäblichkeit, in ihrem jeweiligen Stadtquartier stehen, ohne mit ihm verbunden, ohne in ihm verankert zu sein. Die im Stadtgefüge übrig gebliebenen älteren Häuser nähern sich – mit den bei ihrer Gestaltung angewandten Skalen verschiedener Gross- und Kleinformen – dem menschlichen Mass an, während sie neben den grossgerasterten Neubauten nun wie «geschrumpft» – und die Passanten sogar «verzwergt» – wirken.

Was bei einem Neubau meistens fehlt, sind Formelemente, die ausreichend klein sind, um Grund-Mass zu sein, um mit dessen Hilfe das Gesamtmass des Baus ermessen zu können – und um dessen Grösse in Beziehung zur eigenen Körpergrösse sehen zu können (Beispiel einer diesbezüglich geglückten Gestaltung ist die Fassade des 2016 eingeweihten Basler Kunstmuseums).

Der Arlesheimer Dom hingegen lebt von der Spannung zwischen der real gegebenen Höhe und Breite des Kirchenraums und den bei den Wandornamenten wie auch innerhalb der Malereien verwendeten sehr kleinen Form-Teilen. Somit bieten all diese architektonischen, skulpturalen und malerischen Gestaltungen ein äusserst reiches Spektrum verschiedenster Form-Grössen an. …

von Manfred E. Cuny


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Ich verurteile niemanden – ich stelle vor allem Fragen

Er spielt auf dem Bundesplatz genauso wie in Gartenbeizen oder auf Campingplätzen: Der Berner Liedermacher Boris Bittel. Sein Motto: Alles anders als alle andern.

Eigentlich hätte sein erstes Album Anfang 2020 erscheinen sollen, gemeinsam mit der Premiere des Schweizer Dokumentarfilms «Verdinger». Aber wir wissen alle, was dann geschah. Corona hat alles blockiert: «Du sitzt zu Hause auf deiner Debüt-CD rum, willst die schon lange rausgeben, und es klappt nicht.» Das sei schon frustrierend gewesen, erzählt Boris Bittel. Bremsen liess sich der Musiker dadurch nicht. Aktuell hat er viele Auftritte mit seinem Programm «Gschichte us em Lääbe». Daneben arbeitet der Berner zu 100 Prozent als Immobilienbewirtschafter.

Bittel geht nicht den klassischen Weg. Normal nehme man ja eine CD auf und gehe damit auf Tour. Er hingegen bringt die neuen Lieder lieber live unter die Leute. Ein Booking, Plattenlabel oder Management hat er nicht: «Ich bin unabhängig unterwegs und möchte unabhängig bleiben», sagt Bittel. «Mein Motto sind die 5A’s: Alles anders als alle andern.» Auch das macht ihn so sympathisch.

Boris Bittel will dort spielen, wo es für ihn stimmt: Zum Beispiel bei Martin Haslers Buchpräsentation von «Im Hexenkessel der Bundeshaus-Medien». Bei einem Graswurzle-Anlass. In Kirchgemeinden, an Altersnachmittagen. Es seien Leute von querbeet, die ihn buchen würden. Ob er nicht in eine bestimmte Schublade gesteckt wird? «Wenn ich kritische Lieder bringe, werde ich automatisch in eine Schublade gesteckt. Ich habe aber nicht nur kritische, sondern auch lustige Lieder.» Bittel singt über alles, was ihn beschäftigt. Über den bekannten Treffpunkt «Loebegge» in Bern genauso wie über unser Verhältnis zum Mobiltelefon («Händy»). Dabei stellt der autodidaktische Musiker vor allem Fragen – das sei ein gutes Werkzeug, um die Leute zum Denken anzuregen …

von Nadine Meier


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Die Wiederentdeckung der Schweiz

Swissness auf allen Kanälen: Die Schweizerinnen und Schweizer entdecken ihr Land – weil sie spüren, dass es ihnen abhanden kommt.

Im August haben zwei Schweizer Musiker etwas geschafft, was bisher nur Megarockstars aus dem Ausland gelungen ist: Die beiden Mundartrocker Gölä und Trauffer füllten das Zürcher Letzigrundstadion an zwei Abenden hintereinander bis fast auf den letzten Platz. 80’000 begeisterte Zuschauerinnen und Zuschauer aus der ganzen Schweiz feierten zweimal zwei Stunden lang unsere schweizerische Musikkultur, sangen aus vollen Kehlen Trauffers «Fräulein Marti» und Göläs «Schwan so wyss wiä Schnee» und verabschiedeten die Büetzer Buebe mit einem Applaus, der nicht enden wollte.

Sie applaudierten den Musikern, den Tänzerinnen und Tänzern, den Choreografen und all den andern, die mitgewirkt hatten – aber sie spendeten auch der Schweiz Applaus. Ihre Begeisterung galt auch der Eigenart unseres Landes, der Haltung: So machen wir es, und wir machen es gut. An diesen zwei Abenden waren 80’000 Menschen stolz auf die Schweiz. Und die Unzähligen, die so wie ich das Konzert später am Bildschirm sahen, waren es auch.

Nur eine Woche danach pilgerten 400’000 Menschen nach Pratteln an das vier Tage dauernde Eidgenössische Schwing- und Älplerfest. Nie zuvor hatte der traditionelle Anlass so viele Besucher erlebt. Es war ein einziges, alle bisherigen Dimensionen sprengendes Volksfest, und es gab keinen einzigen grösseren Zwischenfall. Auch hier feierten die Menschen nicht nur die Kämpfer im Sägemehl, sondern das eigentümlich Schweizerische dieses uralten Brauchtums. Wo sonst in einem kleinen Land kommen so viele Menschen zusammen, bloss um Männern zuzusehen, die sich an den Hosen zu Boden reissen oder einen 83 Kilogramm schweren Stein – den Unspunnenstein – so weit wie möglich von sich stossen?

Das sind nur zwei herausragende Superlative der letzten Monate für eine Entwicklung, die seit Jahren anhält und immer neuen Höhepunkten entgegentreibt: die unaufdringliche Begeisterung eines Volkes für die Sitten und Bräuche des eigenen Landes. In Scharen strömen die Schweizerinnen und Schweizer an die jährlichen Alpabzüge, wenn die Sennen im September mit ihren blumenbekränzten Kühen von den Bergen herunterkommen. Zu Tausenden schwärmen die Wanderfreudigen Wochenende für Wochenende in die Wandergebiete aus, besetzen die letzten Plätze in den Bergrestaurants und die letzten freien Betten in den Alpenclubhütten. Und wohin wir auch unsere Blicke wenden: auf Werbeplakaten, im Fernsehen, in den gedruckten Medien – überall wird die Pracht der Berge und Seen grossformatig und farbenfroh abgebildet, überall wird mit der Schweiz geworben, überall wird Reklame gemacht mit Bündner-, Glarner- und Walliserdeutsch, überall wird im Fondue gerührt, überall flattern und prangen Schweizerkreuze in Stadt und Land, vor bald jedem Haus, überall tönen die Glocken der Trychler, die Alphörner und die Juchzer …

von Nicolas Lindt


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In Stein gemeisselt

Alcide Rüefli beschreitet nun schon sein achtes Lebensjahrzehnt, doch sein Tatendrang und seine Energie scheinen ungebrochen. Beinahe sein ganzes Leben hat sich zwischen Granitblöcken und Sandstein abgespielt.

Unzählige Skulpturen zeugen von seinem künstlerischen Wirken. Die aktuellste Figur ist die seiner sehr eigenwilligen Justitia, die als Wahrzeichen einige Zeit den Platz über der Tellsplatte in Sisikon schmückte.

Wir haben den Steinbildhauer Alcide Rüefli in Grenchen, Kanton Solothurn, besucht. Rüefli ist ein Urgestein seiner Zunft. Und er steht felsenfest zu seinen Ansichten und seiner Einstellung, die er oft in ziemlich rauem Ton klarmacht. Mit einem unterschwelligen, manchmal nicht so leicht verständlichen Humor macht er aus seiner Meinung kein Hehl. Gerade wenn wir über die heutige Zeit sprechen, kommen oft nicht ganz druckreife zornige Ausdrücke daher. Doch Rüefli betont immer wieder, dass seine Äusserungen deckungsgleich mit der Bundesverfassung seien. Diese liegt griffbereit auf seinem Stubentisch, sie ist voll mit farbig markierten Zeilen, die ihm wichtig sind. Besonders Artikel Nr. 21, «Die Freiheit der Kunst ist gewährleistet», ist da ganz dick angestrichen.

Es ist ein buntes Heftchen geworden, diese Bundesverfassung, mit all den Artikeln, die in seinen Augen von der Politik ausgehebelt wurden. Und wenn er dann beginnt, diese zu zitieren, wird Rüefli meist ziemlich laut, worauf er sich aber umgehend lachend für seinen «groben» Ton entschuldigt.

Bei seinem eher ungewohnten romanischen Vornamen, Alcide, handelte es sich ursprünglich um einen Beinamen des griechischen Herakles. Vielleicht verpflichtet ihn dieser, die lange Geschichte der Steinbildhauerei vor Ort zu studieren. Ob es sich um die Werke der alten Ägypter, der Inkas, der Renaissance, der Gotik oder der Zeitgenossen handelt – Rüefli erweitert so stetig sein umfangreiches historisches Wissen. So betont und belegt er immer wieder, dass wir ohne seine Berufskollegen im Altertum keine Dokumente über die Frühzeit der Menschheit hätten: «Wir wüssten nichts mehr!» …

von Herbert Schweizer


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Fragebogen an Marco Rima

Was sehen Sie, wenn Sie in den Spiegel schauen?

Wenn ich morgens im Badezimmer stehe und in den Spiegel schaue, begrüsse ich mich jeweils mit den folgenden Worten: «Danke, o Herr, dass du so einen schönen Menschen geschaffen hast!» Und dann verlässt mein Sohn Nicolas (32) das Badezimmer, und zurück bleibt vor dem Spiegel ein untersetzter, älterer und weisshaariger Mann, der wohl auch schon mal bessere Tage erlebt hat – zumindest Aussehens-technisch!

Was glauben Sie, woher Sie kommen?

Meine Eltern haben mir gegenüber immer behauptet, ich sei die Frucht ihrer Liebe. Und um diese Frage auch noch gendergerecht zu beantworten, hat sich mein Vater, also Person 1, ergo der Samenspender, mit meiner Mutter, Person 2, der Person mit Uterus, fröhlich und in Liebe vereint. Und so wurde aus dieser Frucht dieser Liebe später ein ganz schönes «Früchtchen». Nämlich ich! Oder woher sollte ich denn sonst noch kommen?

Warum sollte man Ihnen zuhören?

Ich weiss es nicht … ich weiss nur, dass ich als König des Wikipedia-Halbwissens viel zu erzählen habe. Sehr viel Wissenswertes. Ich glaube Wissen macht sexy. Halbwissen ist nur halb sexy und nichts wissen ist dann gut, wenn man es mit der Mafia zu tun hat. Naja, als «Möchtegern-Intellektueller» ist man schon eine besondere Spezies. Warum? Ich versuche mich jeden Tag an meinen IQ von über 150 zu gewöhnen und ihn als solchen zu akzeptieren. Ich muss allerdings aufpassen, in welcher Situation ich mit meinem Wissen bzw. Halbwissen bei Frauen punkten kann. Gerade wenn es darum geht, sie mit einem klugen Spruch zu verführen bzw. ins Bett zu bekommen. Also hab‘ ich mich lässig vor die Auserwählte hingestellt und gesagt: «Die Observation der Lichtreflexe deiner Physiognomie führt bei mir unmittelbar zum exponentiellen Anstieg meines Reproduktionsorgans!» Gut, ich reüssierte mit dieser Anmache kaum, das heisst nie, aber Hauptsache, ich kam intelligent rüber.

Wann fühlten Sie sich das letzte Mal so richtig frei?

Am letzten Sonntag im Freibad …

Ihre erste Kindheitserinnerung?

Wenn ich als Kind aus der Wohnung gegangen bin, hörte ich meine Mutter immer sagen: «Komm‘ nach Hause, wenn es dunkel wird!» Gott sei Dank lebten wir damals nicht in Lappland. Man stelle sich das mal vor. Im Sommer wäre ich erst drei Monate später wieder nach Hause gekommen. Und ich erwiderte dann: «Ist gut, Mama, ich geh‘ in den Wald!» Was aber genauso viel bedeuten konnte wie: Vielleicht lümmle ich auch auf einer Baustelle rum, gehe zum See oder spiele mit meinen Freunden Räuber und Gendarm neben der Autobahn. Ich erinnere mich vor allem daran, dass ich angstfrei gross geworden bin und mich von dem Moment an, als ich über die Schwelle unseres Zuhauses gegangen bin, nur noch auf mich, meine Sinne (Sehen, Hören, Schmecken) und auf mein Bauchgefühl (Risikoeinschätzung) vertrauen konnte. …

von Redaktion


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