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Autor: Nicolas Lindt

Keine Zeit für Geschichten?

Wir leben in einer so dramatischen Gegenwart, dass nur noch Informationen zählen – und für Geschichten keine Musse mehr bleibt.

Als vor vier Jahren der Lockdown über die Welt hereinbrach, verstummte auch die Kultur. Keine Konzerte mehr, kein Theater, kein Kino, keine Lesungen, keine Comedy. Alles, was noch öffentlich stattfand, fand online statt. Aber auch online gab es keine Kultur mehr. Im wörtlichen Sinn. Es gab nur noch Propaganda.

Dann tauchten die ersten kritischen Stimmen auf. Kritische Ärzte, kritische Virologen, kritische Journalisten und wachsame Bürgerinnen und Bürger. Sie alle kämpften mit Information und mit Intuition, mit Kopf und mit Herz gegen die Propagandaflut an. Doch kritische Kulturschaffende fehlten.

Dann erklangen die ersten Stimmen, die ersten Akkorde von Musikern. Sie sangen und spielten gegen die Propaganda an, gegen die Lüge, für die Wahrheit und für die Freiheit. Sie wurden dankbar empfangen, denn Musik wärmt die Herzen, sie nährt die Hoffnung und befeuert den Mut.

Doch die Musiker, die an den Kundgebungen – den erlaubten und nicht erlaubten – die Bühne betraten, waren gering an der Zahl. Auch bei uns, in der Schweiz. Um sie zu zählen, brauchte man eine einzige Hand. So ist es immer noch.

Wo blieben die anderen? Wo blieben die Stars? Sie schwiegen. Aus Schwäche, aus Existenzangst. Oder sie machten mit, glaubten an die Impfpropaganda und fanden den Ausschluss der Ungeimpften leider notwendig. Sie liessen sich vor den Karren der Lüge spannen. Dieselben Bands, dieselben Sängerinnen und Sänger, deren Musik uns immer begleitet hatte, für die wir an Festivals und Konzerte gepilgert waren – dieselben Musiker verrieten all das, was uns heilig war. Indem sie über uns spotteten oder sich schweigend zu Mittätern machten. Wir konnten es nicht begreifen. Wie können Menschen, die etwas Künstlerisches, etwas Schönes gestalten, eine so menschenfeindliche Einstellung haben?

Weil Musiker keine besseren Menschen sind, nur weil sie gute Musik machen. Sie haben Talent. Sie besitzen die Fähigkeit, Melodien und Klänge, die eine Botschaft des Himmels sind, in Musik umzusetzen, in Kompositionen und Songs. Auch die Texte der Songs, die darin enthaltenen Bilder sind eine höhere Gabe. So entsteht jede Kunst. Wahre Kunst ist himmlische Inspiration. Kaum verlassen Musiker aber die Bühne, sind sie Zeitgenossen wie jeder von uns. Dann zeigt es sich, ob sie nur mit dem Kopf oder auch mit dem Herzen denken. Und wenn der Erfolg ihnen schmeichelt, vergessen sie manchmal das Herz.

So war es auch bei Corona. Der Mainstream macht aus Musikern Stars. Er propagiert und bezahlt sie. Er denkt für sie. Stars müssen liefern, damit sie Stars bleiben. Deshalb haben sie keine Zeit und keine Notwendigkeit für ein unabhängiges Denken. In den Arenen des Mainstreams zu singen und gegen den Mainstream, gegen die Impfung, gegen die Experten zu denken, das schafften sie nicht. Auch die meisten Filmemacher zogen das Schweigen vor. Die meisten Schauspieler. Die meisten bildenden Künstler. Und sogar die meisten Comedians. Gerade sie, die Hofnarren der Gesellschaft, nahmen ihre Bestimmung nicht wahr. Unter den Arrivierten waren es wenige Ausnahmen. In der Schweiz im Grunde nur eine einzige. Er musste büssen für seine Verweigerung.

Und schliesslich: Auch die Schriftsteller schwiegen. Es war ein dröhnendes Schweigen. Und es hält immer noch an.

Wenn ich von Schriftstellern spreche, meine ich damit Autoren, die Prosa schreiben. Romane, Erzählungen, Kurzgeschichten, literarische Essays, vielleicht auch Gedichte. So wie der Musiker aus höheren Sphären Musik empfängt, so werden dem Autor Geschichten geschenkt. Sie fliegen ihm zu. Doch kaum schiebt er die Schreibmaschine beiseite, ist auch er ein gewöhnlicher Zeitgenosse. Und aus dem einstigen Dichter, dem Schöngeist, ist ein Intellektueller geworden, der nicht an Gott, sondern an die Wissenschaft glaubt. Je grösser die Auf lagen seiner Bücher sind, umso mehr ergeht es ihm wie dem Musiker. Umso mehr muss er liefern. Umso weniger muss er sein Herz befragen.

Kein bekannter Belletristikautor in der Schweiz hat sich dem Mainstream in den letzten vier Jahren entgegengestellt. Keiner. Nicht einmal in ihren Romanen, in ihren Werken haben sie dem Staat widersprochen. Nur ein paar wenige gibt es, am Rande der Literaturszene, die sich zur Opposition und zur Freiheitsbewegung bekennen. Vom grossen Strom haben wir uns schon lange verabschiedet. Und wenige sind wir auch deshalb, weil wir keine Sachbücher schreiben. Wir bringen keine unterschlagenen Facts, keine signifikanten Zahlen, keine wichtigen Analysen, keine alternativen Gesellschaftsentwürfe. Auch spirituelle Bücher schreiben wir nicht. Wir formulieren höchstens Gedanken, wir zeichnen Bilder mit Worten, wir schmieden Verse, und vor allem: wir erzählen Geschichten.

Das ist zurzeit nicht gefragt, so kommt es mir vor. Zu Podiumsgesprächen wird eingeladen, Referate werden gehalten, Vortragsabende finden statt – aber keine Erzählabende. Die Freiheitsbewegung hat keine Zeit für Geschichten. Sie hat Wichtigeres zu tun. Ich begreife das. Die Welt ist im Aufruhr, sie treibt uns erbarmungslos vor sich her, da bleibt nach all den Informationen und Argumenten bloss noch Raum für Entspannung mit Comedy und Musik.

Wäre mein Bleistift doch eine Gitarre! Ich bin bloss ein Erzähler und ein Gedankengänger. Aber ich glaube an die heimliche Kraft von Büchern, die keine Sachbücher sind. Ich glaube an die Magie von Geschichten. Sie zeigen das Grosse im Kleinen, das Politische im Persönlichen, das Spirituelle im Menschlichen. Gute Geschichten werden vom Leben geschrieben.

von Nicolas Lindt

***

Nicolas Lindt ist Schriftsteller aus Wald und Segnas. In seinen Werken und in seinem Podcast «Fünf Minuten» erzählt er wahre Geschichten. Er tritt am Sommerfest von Graswurzle und Aletheia am 29. Juni in Stetten AG mit «Zeit für Geschichten» auf.
nicolaslindt.ch
fuenfminuten.ch


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Wenn die Sonne nicht wiederkäme

Das Buch ist nur noch antiquarisch erhältlich, obwohl es ein ewig gültiges Buch ist, eines, das nie vergriffen sein dürfte. «Wenn die Sonne nicht wiederkäme» heisst die Geschichte darin, geschrieben hat sie der Westschweizer Dichter Charles Ferdinand Ramuz 1937. Zwei Jahre später begann der Zweite Weltkrieg.

Der Schauplatz: Ein winziges Bergdorf im Wallis, weit über dem Tal, von Auge kaum sichtbar, halb verdeckt durch eine vorgeschobene Bergkuppe, umringt von hoch aufragenden Felszinken – derart, dass das Dörfchen den ganzen Winter ohne Sonne auskommen muss.

Am 25. Oktober jeweils, um die Mittagsstunde, war über dem Gebirge im Süden noch ein feuriger Streifen zu sehen, eine Funkengarbe, wie sie entsteht, wenn man mit einem Stecken in der Glut schürt; danach war für sechs Monate alles zu Ende. Erst am 13. April erschien die Sonne wieder.

Als sie am 25. Oktober des Jahres 1936 verschwindet, wird auch das Wetter schlecht. Und es bleibt schlecht. Eine trübe Stimmung legt sich über das kleine, sonnenlose Dorf, eine Stimmung, die nicht mehr weggehen will. In anderen Wintern, bei schönem Wetter, war wenigstens der blaue Himmel zu sehen. Aber diesmal bleibt alles grau und verdüstert. Immer nur Nebel. Und dazwischen heftiger Schneefall, der alles zudeckt. …

von Nicolas Lindt


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Warum sollen wir heiraten?

Noch vor gar nicht so langer Zeit wäre diese Frage ziemlich sinnlos gewesen. Wollten zwei, die sich liebten, zusammenbleiben, mussten sie heiraten. Eine Alternative dazu gab es nicht.

Das hat sich glücklicherweise geändert. Man kann auch zusammenbleiben, ohne zu heiraten. Man kann auch unverheiratet eine Familie gründen.

Warum also trotzdem heiraten?

Weil es mit Kindern einfacher ist, wenn die Eltern verheiratet sind? Weil es immer noch Sitte ist? Weil man es sich immer gewünscht hat?

Die meisten Paare, die heiraten wollen, würden sagen: Weil wir uns lieben. Das ist der Hauptgrund. Was aber will ein Paar damit ausdrücken? Ich versuche hier eine Antwort zu geben:

Wir wollen heiraten, weil wir uns nicht nur erotisch anziehen, sondern eine Verbindung zueinander empfinden, die weit über das Sinnlich-Körperliche hinausgeht. Wir wollen heiraten, weil wir diese Verbindung für ein unschätzbares Geschenk des Lebens halten und uns vor Zeugen versprechen möchten, alles dafür zu tun, um dieser Kostbarkeit Sorge zu tragen. …

von Nicolas Lindt


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Die Versuchung der Utopie

Die Sehnsucht nach dem Paradies auf Erden ist so alt wie die Menschheit. Aber sie war schon immer ein Irrweg.

In meiner Kindheit war die Welt für mich in Ordnung. Das ist sie für jedes Kind, das in einigermassen normalen Verhältnissen aufwachsen darf. Und auch wenn die Welt aus erwachsener Sicht nicht in Ordnung war, auch wenn der Vater zuwenig verdiente oder die Mutter vor lauter Traurigkeit immer weinte – dann gehörte auch dies zur kindlichen Ordnung. Die leere Haushaltskasse und die Tränen der Mutter, das war einfach so.

Dann wird das Kind älter, sein Bewusst-sein entwickelt sich, es beginnt zu vergleichen mit anderen Kindern und lernt: Meine Kindheit könnte auch anders sein. Der Tisch könnte reicher gedeckt sein. Die Mutter könnte auch lachen. Die Ordnung, in der das Kind lebt, bekommt Risse. Es wünscht sich eine Familie, in der die Eltern keine Probleme haben. Es wünscht sich, dass alles gut ist. Aber das geht nicht, denn es hat sich entschieden, auf diesen Planeten zu kommen, gerade weil die Welt ein Problemplanet ist. Probleme sind Erfahrungen, und wir möchten Erfahrungen machen. Wir möchten lernen. Deshalb ist das Kind hier.

Dann wird aus dem Kind ein junger Mensch auf seinem dornigen Weg zum Erwachsensein. Der junge Mensch entdeckt die Welt ausserhalb seiner kindlichen Ordnung. Er beginnt zu erkennen, dass er nicht nur das Kind seiner Eltern ist, sondern ein Erdenbürger. Und er sieht nicht mehr nur die Probleme in seiner unmittelbaren Welt, er sieht die Probleme der grossen Welt. Und so wie er sich eine Kindheit ohne Probleme gewünscht hat, so wünscht sich der junge Mensch nun, dass die grosse Welt keine Probleme mehr hat.

Wenn es Krieg gibt, wünscht er sich Frieden. Er wünscht sich Gerechtigkeit, wo es Ungerechtigkeit gibt. Er wünscht sich Toleranz anstelle von Intoleranz. Und er wünscht sich Liebe statt Hass.

Manche Frohnaturen unter den jungen Menschen machen sich nicht so viele Gedanken über die Schlechtigkeit auf der Welt. Sie lassen sich davon nicht beeindrucken. Sie wollen jung sein und das Leben geniessen. Sie haben recht. Sie sollen geniessen dürfen. Denn es werden Tage kommen, an denen das Leben sie prüfen wird, ob sie erkennen, dass ihr Glück eine Gnade ist. Ob sie die Kraft, die das Leben ihnen geschenkt hat, zu teilen bereit sind.

Andere junge Menschen können sich an ihrem Jungsein nicht freuen. Sie leiden darunter, dass ihre Hoffnungen für eine bessere Welt nicht in Erfüllung gehen. Sie empfinden so grossen Weltschmerz, dass sie …

von Nicolas Lindt

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Nicolas Lindt ist Schriftsteller und gestaltet den täglichen Podcast «5 Minuten». Im Juli erscheint sein neues Buch «Heiraten im Namen der Liebe»

nicolaslindt.ch


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Vom Kopf zum Herzen zur Freiheit

Ein Herzensmensch ist ein Mensch, der nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Herzen denkt. Das verstehen Kopfmenschen nicht.

Ein Wort wurde zum Modewort in der Freiheitsbewegung und begegnet uns seither nahezu täglich: das Herz-Wort. Vom Herzdenken ist die Rede, von Herzensgrüssen, Herzensentscheiden und Herzenswünschen, wir benützen das Wort in Sätzen wie: «Du musst auf dein Herz hören» oder «Lass’ dein Herz sprechen», und eine Sängerin aus der Bewegung tingelt quer durch die Schweiz und freut sich darauf, «viele von euch Freigeistern und Herzensmenschen wiederzusehen».

Das Herz ist der gemeinsame Nenner, könnte man sagen, der uns alle verbindet. Diese Gemeinsamkeit ist inzwischen so selbstverständlich geworden, dass wir darüber gar nicht mehr nachdenken, was ein Herzensmensch eigentlich ist. In einem Satz könnte man sagen: Ein Herzensmensch ist ein Mensch, der nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Herzen denkt. Er prüft die Information, die der Kopf erfasst, mit dem Herzen. Das Herz ist die spirituelle Mitte des Menschen. Im Herzen sitzt die Intuition. Herzdenken ist intuitives Denken, und Intuition kommt aus dem Lateinischen. Intuitio bedeutet «unmittelbare Anschauung», intueri «genau hinsehen, anschauen». Man könnte auch, mit etwas Vorsicht, von «kritischem Denken» sprechen.

Kritisches Denken ist hinterfragendes, suchendes Denken. Wer kritisch denkt, trägt den Keim dazu möglicherweise schon in sich, wenn er zur Welt kommt. Wie wohl die meisten, die diese Zeilen lesen, habe auch ich schon als junger Mensch das Denken der Erwachsenen hinterfragt. Ich habe «selber» zu denken begonnen. Damit landete ich bei der Linken, deren Utopie mich begeisterte – bis ich merkte, dass die linke Ideologie jede eigenständige Haltung ausschliesst. Wieder setzte sich der Keim meines kritischen Denkens durch, und ich löste mich von der Linken. Von Dogmen war ich für immer geheilt. Ich begab mich auf den «Weg zu einem persönlichen Denken». Er führte mich in die Spiritualität, die mich seither begleitet und nährt.

In der Freiheitsbewegung ist die Spiritualität stark verankert. Aber von all den Tausenden, die auf dem Zenit der Bewegung in Bern auf die Strasse gingen, interessieren sich längst nicht alle für Spirituelles. Trotzdem sind sie Herzensmenschen. Weil sie selbstständig denken. Weil sie auf auf ihr Inneres hören. Weil sie auf ihren gesunden Menschenverstand vertrauen und versuchen, ihren eigenen Weg zu gehen. In all diesen Menschen liegt eine grosse Kraft, die zurzeit etwas schläft, so wie jede Bewegung ihre ruhigeren Zeiten erlebt. Doch diese Kraft wird wieder erwachen, wenn die Not es gebietet.

Wenn wir aber die Menschen in der Freiheitsbewegung als Herzensmenschen bezeichnen – was sind dann die andern? All jene, die sich bedenkenlos impfen liessen und bedenkenlos alles glauben, was der Mainstream ihnen erzählt, ob es sich um Corona handelt, um die Ukraine oder ums Klima? All jene, die Tür an Tür mit uns wohnen, im gleichen Volleyballclub mit uns spielen, sogar zur gleichen Familie gehören und dennoch, so scheint es, einer anderen, unbegreiflichen Welt angehören? Was sind dann sie?

Für mich war die Antwort von Anfang an klar: Sie sind Kopfmenschen. Denn der Kopf ist das Gegenstück zum Herzen. Wie die Herzensmenschen erfassen auch die Kopfmenschen eine Information mit dem Verstand. Darin sind alle Menschen gleich. Aber dann denken die Kopfmenschen nicht mehr weiter. Sie prüfen die Information nicht mit dem Herzen. Sie übernehmen sie einfach.

Vielleicht haben auch sie dieses «Gen» schon in sich getragen. Oder sie finden das Mainstreamdenken bequemer. Was immer dazu geführt haben mag, dass es Herzensmenschen und Kopfmenschen gibt: Die beiden Verhaltensweisen stehen sich diametral gegenüber. Und wie nie zuvor trat dieser Gegensatz in der Corona-Zeit an die Oberfläche. Deshalb der Schock, das gegenseitige Unverständnis, warum die anderen so «falsch» denken. In Krisenzeiten offenbaren die Menschen, wie sie wirklich sind.

Doch von «Kopfmenschen» spricht in der Freiheitsbewegung niemand, obwohl das Wort existiert und im Wörterbuch der deutschen Sprache als «einseitig vom Verstand bestimmter Mensch» definiert wird. Dennoch zögern wir, kopfgesteuerte Menschen so zu bezeichnen.

Dieses Zögern hat damit zu tun, dass die Bedeutung des Kopfes in unserer westlichen Welt nach wie vor dominant ist. So wie sich die Frauen in ihrer Emanzipation noch immer viel zu sehr von patriarchalen, männlichen Werten beeinflussen lassen, lassen sich Herzensmenschen noch immer viel zu sehr von der Allmacht des Kopfes beeindrucken. So wie die Frauen noch viel zu wenig ihrer Spiritualität vertrauen, so unterschätzen Herzensmenschen noch viel zu sehr ihre Herzenskraft.

Vor allem intellektuell begabte, akademisch gebildete Freiheitsbewegte möchten den Kopf nicht den Kopfmenschen überlassen. Sie befürchten, als Herzensmenschen nicht ernstgenommen zu werden. Sie möchten keine «Esoteriker» sein, die nur ihrem «Bauchgefühl» folgen – obwohl das Bauchgefühl im Grunde ein anderes Wort für Intuition ist. Sie möchten nicht, dass die Kopfmenschen sie belächeln und ihnen sagen: Was soll das ganze Gefasel vom «Herzen»? Das Herz ist eine biologische Pumpe, mehr nicht. Was zählt, ist der Kopf. Die Intelligenz. Die Logik. Der Scharfsinn!

Einverstanden. Ohne Kopf kann der Mensch nicht leben. Die Intelligenz ist sein Grundkurs, die Logik sein Bachelor, der Scharfsinn sein Master. Aber der Kopf ist nichts als ein Mittel zum Zweck. Das Gehirn ist ein Werkzeug, ein Instrument, das die Aufgabe hat, dem Herzen zu dienen. Mehr nicht. Im Herzdenken ist der Kopf inbegriffen. Der Kopf ist Schritt 1. Schritt 2 ist das eigene Denken. Das Nachdenken. Das persönliche Denken. Aber Kopfmenschen verstehen das nicht. Weil sie über den ersten Schritt nicht hinauskommen. Deshalb sind sie Kopfmenschen. Deshalb dürfen wir sie so nennen. Sie so zu nennen ist keine Wertung. Wir sind nicht besser als sie, nur anders. Wir sagen nur, wie sie denken.

Werden sie immer Kopfmenschen bleiben? Die Gedanken sind frei. Jeder Mensch kann ein Herzensmensch werden, wenn er es will. Das haben die letzten Jahre gezeigt. Es gab viele Überläufer, und sie werden in Zukunft noch zahlreicher sein. Doch der Kopfmensch muss wissen: Selber zu denken, braucht Mut. Und Verzicht. Und Bereitschaft zum Zweifel. Und Willenskraft. Ein Herzensmensch ist kein Zustand. Sondern ein Weg. Und vor allem ist es eine Verpflichtung. ♦

von Nicolas Lindt


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Die Wiederentdeckung der Schweiz

Swissness auf allen Kanälen: Die Schweizerinnen und Schweizer entdecken ihr Land – weil sie spüren, dass es ihnen abhanden kommt.

Im August haben zwei Schweizer Musiker etwas geschafft, was bisher nur Megarockstars aus dem Ausland gelungen ist: Die beiden Mundartrocker Gölä und Trauffer füllten das Zürcher Letzigrundstadion an zwei Abenden hintereinander bis fast auf den letzten Platz. 80’000 begeisterte Zuschauerinnen und Zuschauer aus der ganzen Schweiz feierten zweimal zwei Stunden lang unsere schweizerische Musikkultur, sangen aus vollen Kehlen Trauffers «Fräulein Marti» und Göläs «Schwan so wyss wiä Schnee» und verabschiedeten die Büetzer Buebe mit einem Applaus, der nicht enden wollte.

Sie applaudierten den Musikern, den Tänzerinnen und Tänzern, den Choreografen und all den andern, die mitgewirkt hatten – aber sie spendeten auch der Schweiz Applaus. Ihre Begeisterung galt auch der Eigenart unseres Landes, der Haltung: So machen wir es, und wir machen es gut. An diesen zwei Abenden waren 80’000 Menschen stolz auf die Schweiz. Und die Unzähligen, die so wie ich das Konzert später am Bildschirm sahen, waren es auch.

Nur eine Woche danach pilgerten 400’000 Menschen nach Pratteln an das vier Tage dauernde Eidgenössische Schwing- und Älplerfest. Nie zuvor hatte der traditionelle Anlass so viele Besucher erlebt. Es war ein einziges, alle bisherigen Dimensionen sprengendes Volksfest, und es gab keinen einzigen grösseren Zwischenfall. Auch hier feierten die Menschen nicht nur die Kämpfer im Sägemehl, sondern das eigentümlich Schweizerische dieses uralten Brauchtums. Wo sonst in einem kleinen Land kommen so viele Menschen zusammen, bloss um Männern zuzusehen, die sich an den Hosen zu Boden reissen oder einen 83 Kilogramm schweren Stein – den Unspunnenstein – so weit wie möglich von sich stossen?

Das sind nur zwei herausragende Superlative der letzten Monate für eine Entwicklung, die seit Jahren anhält und immer neuen Höhepunkten entgegentreibt: die unaufdringliche Begeisterung eines Volkes für die Sitten und Bräuche des eigenen Landes. In Scharen strömen die Schweizerinnen und Schweizer an die jährlichen Alpabzüge, wenn die Sennen im September mit ihren blumenbekränzten Kühen von den Bergen herunterkommen. Zu Tausenden schwärmen die Wanderfreudigen Wochenende für Wochenende in die Wandergebiete aus, besetzen die letzten Plätze in den Bergrestaurants und die letzten freien Betten in den Alpenclubhütten. Und wohin wir auch unsere Blicke wenden: auf Werbeplakaten, im Fernsehen, in den gedruckten Medien – überall wird die Pracht der Berge und Seen grossformatig und farbenfroh abgebildet, überall wird mit der Schweiz geworben, überall wird Reklame gemacht mit Bündner-, Glarner- und Walliserdeutsch, überall wird im Fondue gerührt, überall flattern und prangen Schweizerkreuze in Stadt und Land, vor bald jedem Haus, überall tönen die Glocken der Trychler, die Alphörner und die Juchzer …

von Nicolas Lindt


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