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Autor: Lilly Gebert

Kosmische Lebensgefühle

Im Gespräch mit Uli Fischer

Wer sind wir im Zusammenspiel mit der Natur und ihren Wesenheiten? Schöpfer oder doch Zerstörer? Erschaffer oder Weltenhasser? Wie können wir unser Bewusstsein entwickeln, ohne die Natur, und damit das Leben als solches, zu verraten? Wir sprachen mit dem Autor und Musiker Uli Fischer über die «kosmische Aufgabe» des Menschen.

«DIE FREIEN»: Lieber Uli Fischer, wie lässt sich das heutige Verhältnis des Menschen zur Natur beschreiben?

Uli Fischer: Allgemein gesprochen kann man von einem manipulativ-machtförmigen Umgang des modernen Menschen mit der Natur sprechen. Wir verhalten uns übergriffig, kontrollierend, nutzend-vernutzend, grob und subtil destruktiv – und in vieler Hinsicht vollkommen ahnungslos oder ignorant in Bezug auf die wirklichen Zusammenhänge, die wir meinen nach Gutdünken umgestalten zu dürfen und zu können. Das ist dann in der Konsequenz Transnaturismus/Transhumanismus: Alles ist freigegeben zur grossen Verbesserung – mit den fatalen Folgen der Machtausdehnung und Kontrolle bis in den letzten Winkel des Gestirns.

Wie erklärst du dir diese Abgespaltenheit des Menschen vom Naturzusammenhang?

UF: Ich gehe von diesem Grundgedanken aus: Wir selbst gehen als seelische Wesen aus den Naturreichen hervor, haben diese Stufen der Bewusstseinsentwicklung seelisch «hinter uns», sonst wären wir als Menschen nicht präsent und wären auch nicht in Urresonanz mit der Natur. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling hat sinngemäss gesagt: «In der Natur sehen wir unsere eigene Bewusstseinsentwicklungs-Geschichte.» Wenn wir diesen Aspekt nicht zumindest ansatzweise gelten lassen, dann haben wir gar keine Möglichkeit, etwas in der Tiefe von unserem Mensch-Natur-Verhältnis zu verstehen. Tat tvam asi. Das alles bist du – aber wie?

Lässt sich hier noch von «kosmischem Schicksal» sprechen, oder ist das bereits selbst gewählte Verdammnis?

UF: Wir sehen hier wahrscheinlich zwei Seiten einer Medaille und können beides bejahen. Prinzipiell gehen wir zunächst von einem selbst geschaffenen Schicksal aus, das in eine Verdammnis führen kann. Wenn wir uns kollektiv gegen ein Mitschöpfertum entscheiden, dann ist ein Bewusstseinsregress die logische Folge. Wenn uns ein Einsehen in Sinn und Mitwirkungsmöglichkeit respektive -pflicht im schöpferischen Plan der Erde gelingt, dann entwickeln wir transformatorische Kraft.

Du schreibst von einem «schöpfungsnotwendigen Denken». Wie sähe dieses aus?

UF: Gemeint ist, dass wenn wir uns Sinn und Zweck der Schöpfung annähern, dass dann auch unser Denken und Handeln an diese Erkenntnishorizonte schöpferisch angepasst werden könnte und müsste. Schöpfungsgemässes Denken ist vielleicht korrekter. Wir können der höheren Intelligenz dieses Weltprozesses zuarbeiten im Rahmen der Talente und Erkenntnismöglichkeiten – wenn wir die höhere Intelligenz als eine Wirklichkeit akzeptieren und unsere gegebenen Wirkungsmöglichkeiten leben.

Worin besteht für dich dieser Weg, des Menschen Augen wieder für die Fülle der Schöpfung zu öffnen?

UF: Für mich ging es auf meinem Weg – durch das Zeichnen und Malen, Musizieren, Gedichte schreiben, Meditieren und so weiter – darum, selbstheilend empfänglicher zu werden für die kosmischen Impulse. Mit unterschiedlichem Erfolg. Das materialistische Weltbild, das mir in Kindheit und Jugend vermittelt wurde, konnte ich überwinden. Ein spirituelles Grundverständnis des Weltganzen ist mir prinzipiell erwachsen. Doch dann beginnt der eigentliche Weg der konkreten Ausgestaltung des Weges. Und da gab es jede Menge Umwege, auch Abwege, Rückkehr und Besinnungen. Ich befürworte heute eine transzendentale Naturphilosophie, die den Menschen auf dem Weg sieht zu einem umfassend mitschöpferisch tätigen Wesen, dessen Ziel auch die Erreichung der höchsten spirituellen Verwirklichung ist, wie es beispielsweise Buddha Shakyamuni angedeutet hat. Dieser Weg ist ein Heilungsweg auch für die Natur, weil sie uns «folgt» und uns den Rücken freihält, uns trägt. Wir brauchen das Lebensgefühl natürlicher Fülle, jenseits der Scheinfülle und des Scheinmangels. Den mittleren Weg zwischen Mangelmanagement und Raubtiermentalität. Das geht einerseits mit Selbstbescheidung, die die ursprüngliche Fülle wieder erkennbar werden lässt, und andererseits mit Unvoreingenommenheit den Chancen und Möglichkeiten des Lebens gegenüber. Daran arbeite ich, manchmal erfolgreich, manchmal weniger. Meine Lebensaufgabe habe ich noch nicht genau bestimmen können; von dieser Bestimmung und der Erfüllung hängt sicher auch das Gefühl der natürlichen Fülle ab. Und dieses Gefühl ist wichtig und will gepflegt werden. ♦

von Lilly Gebert

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Uli Fischer beschäftigt sich mit Musik, Literatur und transzendentaler Naturphilosophie, komponiert und singt eigene Lieder. Seine Essays erscheinen u.a. bei Manova. ulifischer.de


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Geomantie – Der Weg einer neuen Herzenskultur

Nymphen, Waldfeen, Elementarwesen: Sind sie für viele im Reich der Märchen und Sagen verschwunden, erachtet die Geomantie unsere Vergessenheit ihnen gegenüber als Wurzel unseres materialistischen Weltbildes und des damit ins Wanken geratenen Gleichgewichts dieser Erde. Mit ihr wieder in Kontakt, so die Geomantie, kommen wir nur, indem wir wieder lernen zu fühlen.

Manchmal braucht es nicht viel: ein kleiner Windhauch, ein besonderer Lichteinfall und uns beschleicht die Ahnung, uns umgäbe etwas Grösseres, etwas, das wir längst vergessen haben. Wir bekommen Gänsehaut, in unseren Augen bilden sich Tränen. Denn gleichzeitig ahnen wir: Mit unserem Verstand ist hier kein Fortkommen. Und doch haben wir einen anderen Weg, auf die Welt zuzugehen, nie gelernt.

Dieser «Sackgasse» widmet sich die Geomantie. Als uralte Weissagekunst, die – anders als die Chiromantie – nicht aus der Hand, sondern aus der Erde liest, legt sie den Fokus auf das Sinnliche. Durch das mit ihm einhergehende Körperbewusstsein versucht sie den Menschen zurück ins Gefühl und damit zurück in die Verbundenheit mit der Natur und der Erde als solcher zu befördern. Anders als moderne Wissenschaften blickt die Geomantie nicht auf Materie, sondern auf das, was feinstofflicher Natur ist; auf die Atmosphäre, die Mystik, das Spezielle, das einen Ort umgibt. Ihre Praktik, das Land nach genauen astronomischen Gesichtspunkten zu vermessen und mithilfe von Ritualen und Wallfahrten in seiner Energie aufrechtzuerhalten, reicht bis in die Steinzeit zurück.

Die Geomantie trägt Sehnsüchte von dem Wunsch nach einem Gemeinwesen, das im Einklang mit der Natur und ihren Kräften lebt, bis hin zur Hoffnung auf eine Rückkehr zum heidnischen Übermenschentum. Gemäss ihrer Lehre waren die germanischen Ahnen noch fähig, Kraftorte und Kraftlinien, die sogenannten «Leylines», wahrzunehmen. Als architektonische Idee eines mehr energetischen Koordinatensystems, das mit seinen meridian-ähnlichen Verbindungslinien die Landschaft durchzöge, sind sie Ausdruck von Weltverständnis, das sich ständig neu entfaltet und entwickelt. Kraftorte hingegen gelten als Plätze, die von Gott selbst bestimmt wurden; an denen er Kontakt mit Menschen aufgenommen hatte, an denen Menschen verstorben waren oder gar ein Engel einem Heiligen den Platz als Wunderquelle im Schlaf offenbarte. Als geografisch fixierte Schnittstellen zwischen Alltag und Schicksal, zwischen Gott und Mensch, zwischen Leben und Tod, errichtete man an ihnen Hinkelsteine, sogenannte «Menhire», deren Bezeichnung sich dem Bretonischen entlehnt, und wo sie in Carnac in ihren kilometerlangen Reihen oder kreisförmig als Stonehenge den Archäologen bis heute ein Rätsel sind.

Fühlen, was ist

Der Geomant hat es sich durch seine «Erdstrahlfühligkeit» zum «Auftrag» gemacht, Energiezentren auf der Erdoberfläche auszumachen und künstliche Veränderungen der Landschaft an ihre geometrische Verbindung mit anderen Zentren zurückzuerinnern. Sein «Alltag» besteht oftmals darin, Energien von Verstorbenen, von Unerlöstem, von Unterdrückung, kurzum: von Desintegration, aufzuspüren und nachzugehen, um sie den vor Ort lebenden Menschen mitzuteilen, sie zu übersetzen und sie schliesslich zu befreien. Diese Form der Erdheilung gab es in allen alten Kulturen, die eben nicht rein rational, sondern ganzheitlich aufgestellt waren: Priester oder Schamanen gehen mit Glocken oder Räucherwerk durch Räume und bereinigen so jene alten Energien, die es von sich nicht geschafft haben, ins Licht zu gehen.

von Lilly Gebert

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Lesetipps:

Marko Pogacnik: «Schule der Geomantie», 1996, 480 Seiten, Droemer Knaur.

Ulrich Magin: «Geheimwissenschaft Geomantie. Der Glaube an die magischen Kräfte der Erde», 1996, 175 Seiten, Beck.


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Ein Idyll für Naturliebhaber und Gleichgesinnte

Roni Brunner von «Suoni della natura» im Gespräch

Roni Brunner stammt ursprünglich aus dem Aargau. Anfang 2021 kaufte er gemeinsam mit seiner Partnerin Katharina sein 4,5 Hektar grosses Grundstück im Herzen Italiens, unmittelbar angrenzend zur Toskana. Dort sind die beiden mittlerweile zu 100 Prozent energieautark: Die Energie für ihre Ferienstudios fliesst aus ihren Solaranlagen, das Wasser aus einem 120 Meter tiefen Brunnen. Die Oliven- und Obstbäume sowie ihr Garten sind biologischen Anbaus.

Zeitgleich mit der Eröffnung seines Natur- und Erlebnisortes «Suoni della natura» begann Roni Brunner bei «DIE FREIEN» zu inserieren. Nun, zwei Jahre später, haben wir nachgehakt und uns erkundigt, welche Früchte die rund ein Dutzend Inserate getragen haben.

«DIE FREIEN»: Lieber Roni Brunner, wie sind Sie auf unsere Zeitschrift aufmerksam geworden?

Roni Brunner: Wenn ich mich recht erinnere, bin ich, schon bevor die erste Ausgabe herauskam, über Corona-Transition auf «DIE FREIEN» aufmerksam geworden. Dort wurde das Heft vorgestellt und angekündigt, dass die erste Ausgabe in Arbeit sei. Ich bestellte dieses sofort und überlegte mir, dass ich dort gerne inserieren möchte.

Wie kam es zur Entscheidung, bei uns zu inserieren? Welcher Impuls war im Vordergrund?

RB: Der Impuls, das waren ganz klar die Personen, die die Zeitschrift anspricht. Mir schien es, als wäre die Schnittmenge zwischen den Menschen, die sich bei euch wohlfühlen, und denen, die auch ich gerne um mich habe – und die ich auch gerne als Gäste habe –, sehr gross.

Was hat das Inserat für Sie und Ihren Natur- und Erlebnisort bewirkt?

RB: Wir konnten etliche Anfragen und Buchungen realisieren, die auf das Inserat bei euch zurückzuführen sind. Wir sind nicht bei den grossen Anbietern wie Airbnb vertreten, an deren Klientel sind wir auch gar nicht interessiert. Deshalb fragen wir unsere Gäste immer, wie sie uns gefunden haben. Und es ist wirklich schön zu sehen, welch Netzwerke sich durch das Inserat gesponnen haben und weiterhin spinnen.

Was war die schönste Begegnung, die dank Ihrem Inserat bei «DIE FREIEN» zustande kam?

RB: Eine lustige Episode war, dass jemand, der aus dem weitesten Bekanntenkreis kam, seinen Aufenthalt bei uns gebucht hat. Da er in dem Nachbardorf von dem Ort lebt, aus dem wir kommen, und in dem wir Flyer auflegen, dachten wir natürlich zuerst, er sei darüber auf uns aufmerksam geworden. Dann stellte sich aber heraus, dass er das Inserat bei euch im Heft gesehen hatte. Das war lustig.

Wem würden Sie empfehlen, bei uns zu inserieren?

RB: Beispielsweise Restaurant- oder Gästebetriebe, die sich denen gerne anbieten würden, die sich, ich sag mal, der «Schwurblerszene» angetan fühlen. Eben die, die für sich einen anderen Weg gewählt haben und auf diesem «bewusste» Gäste suchen.

Das kann ich gut nachvollziehen. Es entsteht ja auch eine gewisse Unbeschwertheit oder Leichtigkeit, wenn man sich darauf einstellen darf, dass man bestimmte Themen nicht vor vorgehaltener Hand besprechen muss, sondern ganz frei und offen reden darf.

RB: Ja genau. Wir sind zum Beispiel auch vegetarisch unterwegs. Das ist ja keine Bedingung, aber es zieht schon eher «bewusstere» Menschen an, die dann vielleicht auch aufs Fleisch verzichten oder anderweitig ähnliche politische, gesellschaftliche Ansichten vertreten und mit uns teilen. Diesen Austausch auf Augenhöhe schätze ich sehr.

Wie weit reicht dieser Austausch?

RB: Im Kleinen sind wir im permanenten Austausch darüber, wie wir Prozesse einleiten oder unterstützen könnten, die langfristige Veränderungen mit sich ziehen können. Vor Ort gibt es immer wieder Begegnungen, aus denen sich wirklich gute Diskussionen ergeben. Man fühlt sich gegenseitig unterstützt und genährt und hat es einfach gut miteinander. Beispielsweise haben sich schon Yoga-Gruppen um eine Yoga-Lehrerin entwickelt, die sagte, dass sie gerne ganz frei und freiwillig Kurse anbieten würde – es haben sich mittlerweile schon mehrere Menschen angeschlossen. So entsteht alles sehr organisch und wird von den Menschen und ihrer gemeinsamen Begegnung getragen.

Dieses schöne Gefühl von eigenverantwortlichen und von ihren inneren Neigungen angetriebenen Menschen, die aus sich heraus und um sich herum eine Kreativität entfalten – das wünscht man sich!

RB: Ja genau. Auch Musiker, Kunstschaffende, Landart-Künstler haben bereits den Weg zu uns gefunden. So ergibt sich eine ganz eigene Klientel, die sich nicht länger durch Äusserlichkeiten, sondern durch eine grosse Innerlichkeit definiert – und wiederum auch nicht definieren lässt.

von Lilly Gebert

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Katharina Zweifel & Roni Brunner
Località Manziano 16, 05010 Parrano, TR, Italia
Anfrage nach Verfügbarkeit: contact@suonidellanatura.info
suonidellanatura.info
Tel.: +41 (0)79 316 83 15


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Weltbeziehung und Urvertrauen

Der Resonanzbegriff bei Harmut Rosa

Regenbögen, Sternschnuppen, die Liebe: Die schönsten Dinge im Leben lassen sich nicht greifen. Sie sind unverfügbar. In sich, wie für uns. Wer mit ihnen in Resonanz gehen will, für den gilt nur eines: absolute Bedingungslosigkeit. Eine Bedingungslosigkeit, bedingt durch nichts anderes als die «Urvertrauen stiftende Erfahrung einer tragenden Weltbeziehung».

Wo der Glaube herrscht, die Welt verfügbar machen zu können, setzen wir «am Leben sein» mit «lebendig sein» gleich. Es gilt: Solange wir am Haben anstatt am Sein orientiert sind, bringen wir nicht nur die Welt auf Distanz zu uns, sondern uns gleichzeitig in eine Fremdheit mit uns selbst. Was bleibt, ist eine Beziehung der Beziehungslosigkeit. Wir sind zu sehr mit uns selbst beschäftigt, als dass wir die Dinge ihrem wahren Wesen nach erkennen könnten. Wir interpretieren und sezieren lieber, anstatt zu beobachten und abzuwarten. Unfähig, das Leben so zu nehmen, wie es ist, verkehren wir unser Gefühl, in die Welt geworfen zu sein, dahingehend, uns aus ihr hinauszuschleudern.

Es ist dieses «Fremdgesteuertwerden», der Reflex, Ohnmacht durch Kontrolle zu kompensieren, den der Soziologe Hartmut Rosa auf unsere Furcht vor Weltverlust zurückführt. Als «Grundangst der Moderne» versetze sie uns in einen «Agressionsmodus». Aus ihm heraus nähmen wir jede Unkoordinierbarkeit als Bedrohung wahr und liefen obendrein Gefahr, das Ausdehnen unserer eigenen Weltreichweite, also unserer Wahrnehmung dessen, was wir in dieser Welt alles unter Kontrolle und in Besitz nehmen könnten, auf Kosten anderer zu manifestieren. Wir stehen der Welt innerlich unverbunden, gleichgültig oder sogar feindlich gegenüber und befinden uns damit inmitten einer prinzipiellen Verwechslung von Erreichbarkeit und Verfügbarkeit sowie Symbiose und Verbindung. Dies mache uns nicht nur blind dafür, was es bedeute, uns von dieser Welt wahrhaft berühren zu lassen, – wir würden auch verkennen, dass unser insgeheimes Hoffen auf einen Zuwachs an Lebensstandard durch mehr Sicherheit und Macht nicht der Gier nach Mehr, sondern unserer Angst vor dem Immer-weniger entspränge.

Ein anderer Sinn für Verbundenheit

«Eine bessere Welt ist möglich, und sie lässt sich daran erkennen, dass ihr zentraler Massstab nicht mehr das Beherrschen und Verfügen ist, sondern das Hören und das Antworten.» – Hartmut Rosa, Resonanz

Ohne ein intaktes Weltverhältnis, so viel steht für Hartmut Rosa fest, kann es kein gelingendes Selbstverhältnis geben. Wer sich selbst nicht spürt, könne sich auch die Welt nicht anverwandeln. Und wem die Welt stumm und taub geworden sei, dem käme auch das Gefühl für sich selbst abhanden. Was wirkt wie eine Spirale der ausbleibende Begegnung, führt uns unweigerlich zu der Frage: Worin bestünde denn ein «gelingendes Weltverhältnis»? Was würde es bedeuten, wahrhaft mit uns und dieser Welt verbunden zu sein? Unserer immer alternativloser erscheinenden Beschleunigung setzt Rosa an dieser Stelle nicht den Begriff der Entschleunigung entgegen, sondern den der Resonanz. Ihre – wie er sie nennt – horizontalen, diagonalen wie vertikalen «Achsen» von Beziehungsqualitäten ermöglichten dem Menschen nicht nur eine als antwortgebend erfahrene Beziehungen zur Welt, zum Dasein oder zum Leben als Ganzem, sondern obendrein auch das besagte Urvertrauen, die Dinge so zu nehmen, wie sie kommen – und gehen.

Für Hartmut Rosa ist klar: Wolle der Mensch aus seiner Abgespaltenheit austreten, müsse er wieder lernen, sein In-Beziehung-Treten mit sich und der Welt als Totalität zu verstehen. Rosa teilt ihren Prozess des Zueinanderfindens in vier Phasen der Begegnung: den Moment der Berührung (Affizierung), den Moment der Selbstwirksamkeit (Antwort), den Moment der Anverwandlung (Transformation) und den Moment der Unverfügbarkeit (konstitutiv ergebnisoffen). Mit einem Menschen, einer Landschaft, einer Melodie oder einer Idee in Resonanz zu treten, bedeutet für ihn, «von ihm oder ihr gleichsam ‹inwendig› erreicht, berührt oder bewegt zu werden». Entscheidend sei hierbei das Gefühl, die Welt gehe einen etwas an. Folglich liesse sich dieser Moment der Affizierung auch als «Anrufung» übersetzen. Oder wie Rosa formuliert: «Plötzlich ruft uns etwas an, bewegt uns von aussen und gewinnt dabei Bedeutung für uns um seiner selbst willen.» Stumpfe Blicke fangen wieder an zu leuchten und in unseren Augen sammeln sich Tränen. Das Bedürfnis, der Welt zuzugehören, hat den «Panzer der Verdinglichung» durchbrochen. Mit unserem ganzen Körper und vollem Herzen zurück in ihren Bann gezogen, fühlen wir uns (selbst-)wirksam und lebendig mit ihr verbunden. Unsere Augen werden zu «Resonanzfenstern». Wir haben das Gefühl, mit der Welt im Dialog zu stehen.

Diese «Veränderung der Weltbeziehung» bezeichnet Rosa als entscheidendes Element der Resonanzerfahrung: «Wann immer wir mit der Welt in Resonanz treten, bleiben wir nicht dieselben. Resonanzerfahrungen verwandeln uns, und eben darin liegt die Erfahrung von Lebendigkeit. Wenn wir uns von nichts mehr anrufen und verwandeln lassen, oder wenn wir auf die zahlreichen Stimmen da draussen nicht mehr selbstwirksam zu antworten vermögen, sind wir innerlich tot, versteinert, kurz: resonanzunfähig.» Wer diese Anverwandlung erfahren wolle, so Rosa, müsse aufhören, alles um sich herum kontrollieren zu wollen. Lebendigkeit, Berührung und wirkliche Erfahrung entstünden aus der Begegnung mit dem Unverfügbaren. Eine Welt dagegen, «die vollständig gewusst, geplant und beherrscht wäre, wäre eine tote Welt.»

Wege zur Welt

Ohne eine «bidirektionale» – eine auf Gegenseitigkeit beruhende – Welterfahrung, keine Resonanz: So wie Unverfügbarkeit für Rosa die Bereitschaft impliziert, «sich auf nicht vorhersagbare Weise berühren und verändern zu lassen», impliziert Resonanz «Verletzbarkeit und die Bereitschaft, sich verletzbar zu machen». Kontrolle und Berührung schliessen einander nicht nur aus, gemeinsam begründen sie das Gesetz der Anziehung: Je intensiver wir etwas wollen, umso weniger gelingt es uns. Und je mehr wir etwas besitzen möchten, umso schneller verlieren wir es. Wo wir keinen Raum lassen, mit den Dingen wahrhaft in Kontakt zu treten, wo unsere Vorstellung und unser Wille bereits im Vorfeld jede Möglichkeit einer offenen, ehrlichen Begegnung unterlaufen, da schnüren wir selbst uns jedes Berührtwerden ab. Kurzum: Wo uns das Vertrauen fehlt, verfehlen wir das Leben.

Wer dies verstanden – oder besser noch: durchfühlt – hat, dem bleibt keine andere Wahl, als von sich aus neue Pforten zur Welt zu schaffen. Denn wem die Welt nicht mehr als Aggressionspunkt, sondern als Resonanzpunkt erscheint, wer ihr nicht in einem Modus der Aneignung begegnet, sondern dessen «Haltung des anverwandelnden und selbstwirksamen Hörens und Antwortens» auf eine «wechselseitige responsive Erreichbarkeit» gerichtet ist, für den verliere «das Steigerungsspiel» seinen Sinn und, wichtiger noch, seine «psychische Antriebsenergie».

Nur wer ohne Angst auf die Welt zugehen kann, dem steht es frei, sich ehrlich auf sie und ihre Teilnehmer einzulassen. Nicht im Sinne eines ideologisch aufgeladenen Objektbegehrens, sondern als menschliches Begehren, als Beziehungsbegehren. Und wie sollte es anders sein: Der Weg hin zu einer ehrlichen Beziehung zu unserer Mitwelt führt über uns selbst. Und dieser Weg zu uns selbst ist der Weg des Herzens. Und das ist ein Weg jenseits von Argumenten.

… oder, um es mit Udo Jürgens zu sagen:

Von jetzt an Sein statt Haben
Nicht das Gefühl vergraben
Einander finden
Anstatt Worte verlier’n

von Lilly Gebert
Buchvorlage: Hartmut Rosa (2020): «Unverfügbarkeit» (Suhrkamp)


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Erkenntnis durch den Klang

Das Theatrum Phonosophicum ein Kulturtipp aus dem Herzen Italiens

Der Starrheit des deutschen Universitätslebens überdrüssig, zogen die Klangkünstlerin Shushan Hyusnunts und der Musikphilosoph Leopoldo Siano nach Neapel. Ihr Wunsch? Eine neue Kultur des Klangs und der Stille. Mit ihrem theatrum phonosophicum wollen sie transformieren – den Menschen, sein Hören, sein Sein.

«DIE FREIEN»: Liebe Shushan, lieber Leopoldo, gemeinsam betreibt ihr das Projekt «theatrum phonosophicum». Wofür steht dieses?

Shushan Hyusnunts: Das theatrum phonosophicum ist das «Theater der Phonosophie». Die phonosophia verstehen wir als «Erkenntnis durch den Klang». Das theatrum phonosophicum ist ein Forschungs- und Lebensprojekt, das die Erschaffung von Erfahrungsräumen fördert, in denen altes traditionelles Wissen mit experimentellen Praktiken (lecture-performances, Installationen, Klangkunst, Akusmatik, «deep listening» usw.) kombiniert wird. Ein Wissen, das deshalb nicht nur ein «Buchwissen» ist, sondern mit allen Sinnen erfahren werden kann. Daher der Anspruch auf die Synthese der Künste, auf das Gesamtkunstwerk (vom antiken griechischen Theater bis zu Richard Wagner und den Avantgarden). Kern des theatrum phonosophicum ist das Hören verstanden als «Seinserfahrung» und die anthropologische Auseinandersetzung mit dem Klang, mit den Klängen im Raum, mit der Landschaft bzw. mit dem soundscape und den akustischen Archetypen.

Leopoldo Siano: Das Wort phonosophia entdeckte ich einmal zufällig in einem Aufsatz über Morton Feldman. Blitzartig begriff ich, dass es genau das Wort war, das wir suchten, um unsere Arbeit präzis zu bezeichnen. Wir kommen beide aus der sogenannten Musikwissenschaft, aber dieses Fach – akademisch verstanden – wurde uns allmählich immer enger. Später entdeckten wir, dass das lateinische Wort phonosophia ein Neologismus des Jesuiten und Barockgelehrten Athanasius Kircher war … Wie gesagt, ist für uns die Hörtätigkeit zentral, allerdings wird das Hören in sehr breitem Sinne verstanden: als Hören der Welt, als Hören des unaufhörlichen Ereignisses des Seins.

SH: In der Barockzeit wurde das Wort theatrum unzählige Male als Titel von wissenschaftlichen Traktaten verwendet, die als Darstellung einer gewissen Disziplin gedacht waren. Es gab ein theatrum botanicum und ein theatrum anatomicum, also ein Theater der Botanik und ein Theater der Anatomie, ein theatrum chemicum, theatrum memoriae, ein theatrum instrumentorum und so weiter. Und gab es sogar ein theatrum fungorum, ein Theater der Pilze …

LS: Das letzte hätte John Cage sehr gut gefallen können! Es ging also um den Versuch, das angesammelte Wissen wie auf einer Bühne, sinnlich darzustellen. Und das versuchen wir auch mit dem theatrum phonosophicum.

Was war der ausschlaggebende Impuls, in dieser Form als Kulturschaffende tätig zu werden?

LS: Ich habe zehn Jahre an der Universität zu Köln gelehrt, wo auch Shushan studiert und dann für ein paar Semester unterrichtet hat. Allerdings war uns die akademische Welt immer steriler geworden, es wurde uns dort immer unbehaglicher: Mit der zunehmenden Digitalisierung und der Einführung der Gendersprache wurde es noch schlimmer. Im Allgemeinen haben wir die grosse Kluft zwischen den meisten Universitätsleuten und dem Leben gespürt. Wir waren auf der Suche nach einem «gelebten Wissen». Wir waren müde, nur Vorträge zu halten, Aufsätze zu schreiben und bei Tagungen aufzutreten. Wir suchten eine «Theorie der Praxis». Das theatrum phonosophicum ist eine Art philosophisches Instrument, wobei das Wort «Philosophie» etymologisch, also ernst genommen wird: als Liebe, als «Liebe zur Weisheit» – verstanden auch als «Kunst des Bewusstseins» oder, wenn man will, als «praktische Daseinstechnik». Wir haben das Bedürfnis gehabt, die Philosophie durch die Sinne zu (er)leben. Da ist für uns unter anderen der «philosophe-artiste» Peter Kubelka ein grosses Vorbild gewesen. Im Italienischen sind die Wörter «Wissen» (sapere) und «Geschmack» (sapore) etymologisch miteinander verbunden. Das Wissen soll nach etwas «schmecken» … Daher ist der Wunsch entstanden, ein aktionistisches Pendant zu haben: Statt einfach Vorträge zu halten, haben wir begonnen, lecture-performances, Klang-Aktionen, Installationen oder «Install’Aktionen» zu machen… Eine lecture-performance ist für uns eine Art story-telling, eine Hybridform zwischen einem Vortrag und einem poetischen Ritual, in dem wir auch Musikinstrumente, aufgenommene Klänge, verschiedene Objekte, Substanzen, Speisen verwenden. Wir wollen nicht einfach über ein Thema sprechen, sondern das jeweilige Thema den Zuhörern unmittelbar erleben lassen. Und dies nicht nur über den Intellekt, sondern über alle Sinne … Mit einer lecture-performance will man nicht nur die Menschen «in-formieren», sondern eher trans-formieren. Immer mehr gefällt uns der Satz von John Cage: «I like it better when something is being done than when something is being said.»

Wen oder – viel spannender – was möchtet ihr mit eurem Projekt erreichen?

LS: Wie Mary Bauermeister sagte, ist jede Existenz ein «unvollendetes Projekt» … Ob wir etwas «erreichen» wollen? Ja, wir wollen uns selbst und so viele Menschen wie möglich zum «lebendigeren Leben» durch das Erwachen aller Sinne führen, vor allem durch den Klang. Es geht um Seinssuche und Seinsfindung. Idealerweise ist das theatrum phonosophicum ein Projekt ohne Ende. Wir wollen es immer mehr verwirklichen, indem wir immer mehr Menschen einbeziehen. Als Musikwissenschaftler waren wir müde, nur am Schreibtisch zu sein. Das Schreiben ist uns zweifelsohne noch sehr wichtig, aber das genügte uns nicht mehr. Wir hatten das Bedürfnis, bestimmte Erfahrungen mit anderen Menschen zu teilen: aber nicht nur mit Wörtern, sondern körperlich, sinnlich, im Raum.

SH: Wir wollen Menschen erreichen, denen unsere Arbeit hilfreich sein kann, um das eigene kreative Potenzial zu entfalten.

Vom 21. bis 23. Juni veranstaltet ihr in Attigliano zusätzlich das Festival «PHONOSOPHIA». Mit diesem möchtet ihr «eine neue Kultur des Klangs und der Stille (total listening) fördern». Was steht hinter diesem Anliegen und wie genau lässt sich «Wissen» durch Klang vermitteln?

SH: Ja, in Attigliano werden wir in wenigen Tagen die erste PHONOSOPHIA eröffnen, ein Fest der «Erkenntnis durch den Klang». Das Festival findet anlässlich der Sommersonnenwende und der Johannisnacht statt. Es liegt uns sehr am Herzen, den Tag und das Jahr rituell zu zelebrieren. Für die Sonnenwenden und die Tagundnachtgleichen gefällt es uns sehr, Feste oder Aktionen des theatrum phonosophicum zu organisieren. Im Laufe der letzten Jahren haben wir mehrere long-durational performances gehabt, bis zu vier Stunden – oder sogar 24 Stunden mit Fabula. Jetzt geht es zum ersten Mal um ein ‘Fest, das drei volle Tage dauern wird. Die lange Dauer ist sehr wichtig für die Vertiefung, für das Eintauchen. Wir werden unterschiedliche Veranstaltungsformate haben: lecture-performances, soundwalks, Nachtspaziergänge in einem «Zaubergarten», Install’Aktionen, Ausstellungen, den Vortrag eines Astrophysikers über die Sphärenharmonie, poetische Lesungen, Klang-Rituale etc.

LS: Das Festival findet in Attigliano, beim Simmetria-Institut statt. Das ist ein sehr besonderer Ort. Das Institut ist eine Forschungsstätte und ein Museum der Mythen, der Riten und der Symbole – eine beeindruckende Sammlung von Kunstwerken verschiedener Kulturen und Epochen! Die Bibliothek des Instituts umfasst mehr als 8000 Bände: vor allem pythagoreische, hermetische, alchemistische Literatur, aber auch viele Bücher über westliche und östliche Philosophie, Mathematik, Geometrie, Mystik etc. Es ist ein Ort, an dem die ganzheitliche Erforschung des Menschen und der spirituellen Traditionen der Welt gepflegt wird, vergleichbar mit der Eranos-Stiftung in der Schweiz. Das 2020 eröffnete Simmetria-Institut wurde konzipiert und gegründet vom unermüdlichen Claudio Lanzi, Forscher, Verleger und Meditationslehrer, unterstützt von seinem Team bzw. seiner Stiftung.

SH: Um zur Frage zurückzukommen: Im theatrum phonosophicum wird der Klang – im Sinne von Marius Schneider und der kosmogonischen Mythen, die in verschiedenen Traditionen zu finden sind – als Ursprung und Essenz aller Dinge betrachtet. Die Welt ist eine Art «versteinerte Musik», ein Schwingungsgewebe, was auch von der modernen Physik bestätigt wird. Die Klänge können vieles beschwören, aber vor allem kann der Klang wirken. Die Erfahrungen, die man durch die Musik und im Allgemeinen durch den Klang macht, sind meistens unaussprechlich. Man ist ständig auf der Suche nach der unerschöpflichen schöpferischen Quelle, nach der sophia, die im Klang selbst ist.

2022 ging es für euch von Deutschland aus nach Armenien, jetzt seid ihr seit dem Frühling 2023 in Italien. Flieht oder sucht ihr?

LS: Wir fliehen nicht! Deutschland ist für uns beide sehr wichtig gewesen. Obgleich wir nicht mehr in Deutschland sind, sprechen Shushan und ich miteinander immer noch deutsch. Wir tragen Deutschland in uns, aber es geht um ein «inneres Deutschland», ein «geheimes Deutschland», um Stefan George zu zitieren… Es ist das Deutschland der Dichter, der Philosophen, der Mystiker und nicht zuletzt der Musiker. Das Deutschland von Meister Eckhart, von Bach, von Goethe, Novalis, Nietzsche, Wagner, Stockhausen, Beuys etc. Aber dieses Deutschland hat mit dem heutigen Deutschland wenig zu tun. Während der Zeit der planetarischen «Pandemenz» war uns in Deutschland sehr ungemütlich, sogar unerträglich geworden. Bestimmte Probleme wurden sichtbarer. Wir haben verstanden, dass die Zeit reif war, um Deutschland endgültig zu verlassen. Wir haben also – jenseits der kleinbürgerlichen «Vernünftigkeit», der inneren Stimme und der Logik des Herzens, also einem «Herzensruf» folgend – einen grossen Schritt gemacht und sind kein kleines Risiko eingegangen …

SH: Es war gewissermassen doch eine Art «Flucht» von Deutschland … (Schmunzeln)

LS: «Denke ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht», so Heine … Wir sind also nach Armenien umgezogen, wo wir uns freier fühlten. Die vielen armenischen Freunde empfngen uns mit grosser Herzlichkeit und Wärme. Sie haben an unsere Arbeit geglaubt. An der State Philharmonia of Armenia, im legendären «Ground Floor» – ganz im Herzen der Altstadt Jerewans – initiierten und kuratierten wir die multisensorielle Veranstaltungsreihe Theatrum Phonosophicum. Es waren Monate von reger Tätigkeit und Austausch mit vielen jungen kreativen Menschen, die bei unseren Veranstaltungen und Workshops («The Art of Listening») mitmachten. Anfang 2023 – als wir gerade dabei waren, im künstlerischen-kulturellen Feld Armeniens Fuss zu fassen, kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel, die Einladung von der Stiftung Morra, nach Neapel umzusiedeln, wo wir jetzt seit einem Jahr diese Forschungsresidenz im Museo Archivio Laboratorio Hermann Nitsch machen.

Merkt ihr Unterschiede in der Art, wie ihr und eure Arbeit wahr- beziehungsweise angenommen werdet?

LS: Ja, freilich. In Deutschland war uns immer schwieriger geworden, über das Wesen unserer Arbeit zu kommunizieren. Einerseits waren die meisten, die uns als akademische Musikwissenschaftler kannten, nicht bereit zu erkennen, dass wir auch etwas anderes machten. Darüber hinaus ist das deutsche Publikum ziemlich verkrampft, selbst die jüngeren Menschen, die meisten Studenten, sind lauwarm und verkopft geworden, mit geringem authentischem Interesse für die Kunst und die Kultur. Und der Prozess der immer zunehmenden Digitalisierung der Existenz hat die Gehirne und die Weltwahrnehmung vieler Menschen umstrukturiert. Die Corona-Zeit war schliesslich der letzte Schlag …

SH: Aber man muss sagen, dass wir dank der Corona-Krise durch einen langsamen schmerzhaften inneren Prozess gegangen sind, um tiefer zu uns selbst zu gelangen, um zu machen, was wir wirklich machen wollten. So haben wir den Mut gehabt, Abstand von der Universitätswelt zu nehmen, um unser theatrum phonosophicum zu betreiben. Dafür war Deutschland für uns ein unfruchtbarer Boden geworden.

LS: In Armenien haben wir hingegen die grosse Aufgeschlossenheit des Publikums sehr genossen.In Armenien gibt es viel weniger ideologische Voreingenommenheit und Verkrampfungen. Das Publikum ist intuitiver. Vor allem sind sehr viele jungen Armenier zu unseren Veranstaltungen und Workshops gekommen, mit weit offenen Augen und offenem Herzen, gierig nach Wissen, nach neuen Entdeckungen und Erfahrungen. Ein fruchtbarer Boden, um das Feuer der Erkenntnis anzuzünden! In Italien geniessen wir ebenfalls das südliche Temperament der Menschen. Hier lebten übrigens die Vorsokratiker: Parmenides, Empedokles, Pythagoras … Von Neapel waren auch Giordano Bruno, Giambattista Vico und viele andere Philosophen, Dichter und Musiker. Cogito ergo Sud! Es gibt hier eine jahrtausendelange philosophische Tradition, mit der wir uns sehr verbunden fühlen. Ausgerechnet an diesen Orten hat übrigens Parmenides seine «Seinsphilosophie» konzipiert. Die Weisheitsbotschaften der Mythen und der vorsokratischen Philosophie sind hier noch zu spüren, in der Natur, in den Felsen, in den Landschaften …

Inwieweit erfüllt euch das, was ihr jetzt macht, an dem Ort, wo ihr jetzt seid?

LS: Wir fühlen uns nun hier sehr wohl. Wir fühlen uns «angekommen». Nicht nur, weil ich selber Italiener bin und nach fast zwei Jahrzehnten im Ausland, wieder in der «Heimat» bin. Es geht eher um eine tiefere, archaische Verbindung mit dem Süden Italiens, mit dem Magna Grecia, mit dem «Grossen Griechenland», mit den hiesigen mythischen Landschaften, mit dem Meer, den Wäldern, den Vulkanen … Wir wollen also im Süden bleiben. Nach vielen «Wanderjahren» ist es uns nötig, endlich Wurzeln zu schlagen. Als Mary Bauermeister hörte, dass wir Deutschland verlassen wollten, unterstützte sie sofort unser Vorhaben, sie sagte: «Ihr gehört dem Süden!». Wir spüren, dass wir hier etwas zu tun haben. Die Orte, wo wir arbeiten und wirken, sind uns sehr wichtig. In Deutschland haben wir lange Zeit in Kürten, ländlich, im Dorf von Karlheinz Stockhausen und der «astronischen Musik», gewohnt: Es war eine sehr produktive Zeit, mehrere Bücher sind dort geschrieben worden und viele neue Ideen und Projekte entstanden …

SH: … aber wir haben in Neapel erkannt, dass wir jetzt am richtigen Ort sind. Und dies gilt auch für mich, auch wenn ich nicht Italienerin bin, fühle ich mich hier im Süditalien ebenfalls zu Hause. Wir sind immer sehr viel gereist, haben aber im Moment sehr wenig Reiselust, weil es hier unglaublich viel zu entdecken und zu tun gibt.

LS: Neapel ist ein Kosmos an sich, eine buchstäblich magische Stadt, und sie befindet sich inmitten von zwei Gegenden, die uns sehr am Herzen liegen: die Campi Flegrei und der Cilento. Idealerweise möchten wir diese zwei herrlichen Gegenden durch den kosmopolitischen élan des theatrum phonosophicum miteinander verbinden, dieser Raum soll unser Wirkungsfeld sein. ♦

von Lilly Gebert

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Am Festival PHONOSOPHIA (21. bis 23. Juni 2024 in Attigliano, Italien) findet eine Vielzahl an Performances, Diskussionen, Klangspaziergänge, Workshops und kreative Retreats statt, an denen international führende Persönlichkeiten der künstlerisch-kulturellen Szene teilnehmen. Zum Programm (auf Italienisch und Englisch).

Shushan Hyusnunts (*1989) ist Musikwissenschaftlerin und Klangkünstlerin.

Leopoldo Siano (*1982) ist Musikphilosoph und Sound-Aktionist.


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Die Welt als Klangkosmos

Interview mit Jochen Kirchhoff

Klassische Musik ist ein Weg der Bewusstseinsentwicklung, sagt der Berliner Philosoph Jochen Kirchhoff. Indem sie das Höhere und Tiefere anklinge, führe sie uns in unsere eigenen kosmischen Tiefen oder Höhen.

«DIE FREIEN»: Lieber Jochen, die Welt scheint aus dem «Takt» geraten. Wie erklärst du dir diese Verschiebung zwischen uns und dem Klangkörper dieser Erde?

Jochen Kirchhoff: Das ist natürlich eine grundsätzliche Frage. Was ist dieser Klangkörper der Erde? Ich gehe ja davon aus, dass es eine kosmische Harmonie gibt und dass die Erde in dieser eingebaut ist; im Grunde genommen als Klangkörper, der eine hohe Ausrichtung ins Kosmische hat. Wie die Diskrepanz zu erklären ist, das liegt daran, dass die Menschheitsentwicklung in den letzten Jahrhunderten sich dramatisch verändert hat. Diese Menschheit scheint in einen Katastrophenkurs verliebt zu sein, den man nicht letztgültig erklären kann. Es gibt da eine gefährliche Entwicklung, die sich seit Jahrhunderten zuspitzt. Und das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass irgendetwas fundamental schiefgelaufen ist. Da müssten wir mal darüber reden, was könnte schiefgelaufen sein? Erklärungsversuche gibt es, aber dafür müsste man in die Geschichte und ihre Grundfragen überhaupt einsteigen: Gibt es das Böse? Gibt es irgendwelche Widersachermächte, die eingreifen und das Ganze verunmöglichen? Und was hat das Ganze wiederum mit der Musik zu tun?

Wenn wir jetzt schon von diabolischen Kräften sprechen: In deinem Buch «Klang und Verwandlung» unterscheidest du zwischen «hypnotischer» Musik, die uns «knechtet», und «meditativer» Musik, die uns «erweckt». Woran machst du dieses «Doppelgesicht der Verwandlung» fest?

JK: Das geht letzten Endes zurück auf meine jahrzehntelange Musikerfahrung. Ursprünglich kam ich ja vom Jazz, bin dann aber zur sogenannten Klassik übergewechselt, habe auch eine Gesangsausbildung gemacht, und habe dann einfach verstanden, oder gefühlt, oder gewusst – durch mein Hören –, dass das eine wirkliche Öffnung bedeutet, wenn man «richtig» hört. Und als ich dann auch andere Musik gründlich studiert habe, musste ich feststellen, dass es Musik gibt, die das Bewusstsein nicht erweitert, sondern verkleistert. Hierzu gehört beispielsweise technische Musik, die im Grunde genommen den Menschen ruiniert. Da öffnet sich gar nichts. …

von Lilly Gebert

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Jochen Kirchhoff (*1944) studierte Philosophie, Geschichte und Germanistik, war viele Jahre Dozent für Philosophie an der Humboldt-Universität und der Lessing-Hochschule in Berlin. Sein Hauptinteresse galt stets dem Mensch-Kosmos-Verhältnis in erkenntnistheoretischer, naturphilosophischer und spiritueller Hinsicht.


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5G

Sie umgibt uns wie die Luft zum Atmen: Funkstrahlung. Anders jedoch als im Märchen von der vernetzten Welt, erweist sich die Mobilfunktechnologie als Elektrosmog-Dystopie. Warum die Zukunft, die uns 5G verspricht, alles andere als eine strahlende sein wird, erklären uns der Theologe Werner Thiede und Rebekka Meier vom «Verein Schutz vor Strahlung».

Welchen Einflüssen hat sich der Mensch nicht schon ausgesetzt? Radioaktivität, FCKW, Fluorid, Aluminium und jetzt auch noch Elektrosmog. Man hätte meinen können, die Vergangenheit habe uns gelehrt, jeder technologischen Neuerung gegenüber erst einmal kritisch eingestellt zu sein. Doch im Gegenteil: Wie selbstverständlich werden 5G-Masten selbst im noch so kleinsten Dorf errichtet und das eigene Zuhause in eine lückenlos vernetzte Datenautobahn verwandelt.

Um mehr über die Risiken von 5G auf unsere Gesundheit zu erfahren, sprach ich mit Rebekka Meier, der Präsidentin des Schweizer Vereins «Schutz vor Strahlung».

«DIE FREIEN»: Frau Meier, welchen Einfluss hat Elektrosmog auf unsere Gesundheit?

Rebekka Meier: Elektrosmog ist der umgangssprachliche Begriff für Strahlung, die von normalen Stromleitungen, WLAN-Sendern, Smartphones und weiteren technischen Geräten und Installationen ausgeht. Strom im Kabel schwingt niederfrequent mit 50 Hertz, also 50 Schwingungen pro Sekunde, und erzeugt Strahlung in der direkten Umgebung der Stromkabel. Im WLAN-Router und der Handyantenne wird der Strom auf Hochfrequenz bis zu 3800 Millionen Schwingungen pro Sekunde beschleunigt und über die Luft ausgebreitet.

Niederfrequenz kann zu Verhaltensveränderungen führen, Ängste auslösen oder das räumliche Gedächtnis beeinflussen. In der Nähe von Hochspannungsleitungen wurden vermehrt Leukämiefälle bei Kindern beobachtet.

Die hochfrequenten Felder dringen in den Kopf und den Körper ein und beeinflussen die Hirnströme, also unser Denken. So kann die Kommunikation zwischen Gehirn und Beinen oder Armen gestört werden. Durch hochfrequente Strahlung können Kalzium-Ionen unkontrolliert in die Zellen einströmen und die unterschiedlichsten Symptome auslösen. Durch den entstehenden oxidativen Stress sind bei einem Anteil der Menschen mit Vorerkrankungen wie Krebs, Parkinson, Alzheimer, wie auch bei ganz jungen Menschen negative Effekte zu erwarten – beispielsweise eine Beschleunigung der Krankheit oder Entwicklungsstörungen. Dauerhaft erhöhter oxidativer Stress durch Dauerstrahlung führt bei jedem Menschen zu einer schnelleren Alterung, Müdigkeit und Erschöpfung. …

von Lilly Gebert

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Dr. theol. habil. Werner Thiede ist ausserplanmässiger Professor für Systematische Theologie an der Universität Erlangen-Nürnberg, evangelischer Pfarrer im Ruhestand und Publizist. Sein neuestes Büchlein «Himmlisch wohnen. Auf-erweckt zu neuem Leben» ist 2023 erschienen.
werner-thiede.de

Rebekka Meier ist Präsidentin des Vereins Schutz vor Strahlung, der sich für die Interessen von besonders empfindlichen Bevölkerungsgruppen und Anwohnern von Mobilfunkanlagen einsetzt und Unterstützung beim Engagement gegen geplante Antennen bietet.
schutz-vor-strahlung.ch


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Die «Guru-Falle»

Spiritueller Materialismus als Antwort auf verzerrte Zeiten

Der Reiz von «Spiritualität» verfliegt, sobald uns niemand mehr zuhört, wenn wir von ihr sprechen. So zumindest das Bild, das die moderne Wohlfühl- und Wellness-Spiritualität vermittelt: Sie dient nicht mehr der Erkenntnis, der Annäherung an eine tiefere Wahr-heit, sondern unserem Ego. – Dem, was sie eigentlich auflösen sollte.

Das Geschäft mit der Hoffnung

Vom Motivationscoaching zum Selbstliebe-Workshop: Der Markt für Persönlichkeitsentwicklung boomt. Doch war es früher noch die Reise in den indischen Ashram, bucht der «Suchende» heute Seminare für sein «Soulupdate». Unter dem Motto «Alles ist möglich, wenn du nur daran glaubst» entsteht die Vorstellung, es hänge allein vom «richtigen Mindset», also unserer Bereitschaft, in uns zu investieren, ab, ob wir unsere Ziele erreichen oder nicht. Der dabei entstehende Strudel finanzieller Verschuldung samt seinen fast zwanghaften Reinungsritualen als eine Art moderner Ablasshandel wird dabei meist ebenso vernachlässigt, wie die Frage danach, inwieweit uns all dies letztendlich dorthin führt, wo wir eigentlich hinwoll(t)en – zu uns selbst.

Und das ist auch das Problem: Dem Einzelnen zu wahrer Erkenntnis zu verhelfen, rechnet sich nicht. Insofern ein Coach als moderner «Guru» von der Sehnsucht und Unzufriedenheit seiner Kunden profitiert, ist dieser auch nicht daran interessiert, diese zu erfüllen bzw. aufzulösen, sondern erzeugt stattdessen fortwährend neue. Mit dem Versprechen von Freiheit, innerer Ruhe und spiritueller Erfüllung erweckt er nicht nur Gefühle des Mangels, sondern präsentiert sich obendrein als «Schlüssel», diese zu beheben. Er generiert Abhängigkeiten, in denen jedes «Scheitern» dem Betroffenen selbst angelastet wird: Gefangen in der vermeintlichen Endlosschleife seines Unterbewussten, in der immer wieder neue «Widerstände» auftauchen,
die es mittels Abschluss eines weiteren Seminars zu überwinden gilt, findet sich der – zum Kunden verkommene – «Schüler» in einer Art Schuldumkehr wieder. …

von Lilly Gebert


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Die Stunde der kosmischen Entscheidung

Es geht ein Riss durch die Welt und ihre Herzen. Aus Sorge, dass der Mensch sich selbst nicht aus dem Blick verliert, trägt der Romantiker sein Gefühl auf der Zunge und sich selbst zu Grabe. Gibt es keinen anderen Weg, mit unserer Zerrissenheit umzugehen? Wo bleibt das «Dazwischen», die Grenze zwischen icht und Schatten? Ein Aufruf zur transzendentalen Vernunft.

Was hält die Welt in ihrem Innersten zusammen? Kaum eine andere Frage hat die Philosophie je so beschäftigt, und tut es noch. Atome, Materie, die gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse, unser Verstand, das Bewusstsein, die Ideen? – Welchen Bewegungskräften unterliegen wir? Werden wir von etwas durchströmt, oder durch etwas gesteuert? Der Streit um die Urfrage, das Sein alles Seienden, fand seinen Höhepunkt gegen Ende des 18. Jahrhunderts, als sich in Deutschland, genauer gesagt in Jena, eine Strömung entwickelte, die man später Idealismus nennen sollte. Seine Akteure, unter ihnen die Philosophen Hegel, Schelling und Fichte sowie die Dichter Schiller, Hölderlin und Novalis, träumten davon, dem Leben mehr Bedeutung zu verleihen und die edle Ruhe gegen ein Leben voll tieferer Empfindungen einzutauschen. Sie wollten sich nicht länger auf die Wahrnehmung und Urteilskraft anderer verlassen, sondern machten es sich zur Aufgabe, die Dinge selbst zu untersuchen.

Gemeinsam mit ihren Gefühlsverwandten, den Romantikern, vertraten sie die Ansicht, dass die Welt immer kälter werde und ihre Bewohner seelisch verarmten. «Der Lärm von Vernunft und Wissenschaft» mache die Menschen taub für den Traum, die Fantasie, das Unbewusste. Nicht nur bezweifelten sie, dass der Fortschritt immer das «Bessere» mit sich bringe; den Widerspruch von rauer Verstandesherrschaft und der Verletzlichkeit des Einzelnen empfanden sie als Epochenkrise. …

von Lilly Gebert


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Weltversöhnung

Vom inneren Frieden in Zeiten des Nichtzuhauseseins

Was bringt uns zum Denken? Die Antwort Hegels: Versöhnung. Versöhnung womit? Mit den Dingen, wie sie sind. Was aber, wenn einem der einmalige Schrecken des Totalitarismus jegliche «Instrumente für das Verstehen» genommen hat? Dann steht man vor denselben Fragen, die sich bereits Hannah Arendt gestellt hat.

Als Hannah Arendt 1943 zum ersten Mal von Auschwitz erfuhr, erwiderte sie: «Das hätte nicht geschehen dürfen.» Und doch war es geschehen. Und sie wusste, es hätte wieder geschehen können. Also verschrieb sie sich einer Welt, die offensichtlich nicht in Ordnung war. Über die innere Zerreissprobe, den Totalitarismus verstehen zu wollen, suchte sie Versöhnung. Nicht mit den totalitären Verbrechen, aber mit der Welt, in der sie geschahen. Mit einer Welt, die von menschlichen Wesen errichtet wurde und die nur menschliche Wesen ändern können. Einer Welt, in der man sich oft alleine fühlt, in der man aber nicht alleine ist. …

von Lilly Gebert


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