Weltbeziehung und Urvertrauen
Der Resonanzbegriff bei Harmut Rosa
Regenbögen, Sternschnuppen, die Liebe: Die schönsten Dinge im Leben lassen sich nicht greifen. Sie sind unverfügbar. In sich, wie für uns. Wer mit ihnen in Resonanz gehen will, für den gilt nur eines: absolute Bedingungslosigkeit. Eine Bedingungslosigkeit, bedingt durch nichts anderes als die «Urvertrauen stiftende Erfahrung einer tragenden Weltbeziehung».
Wo der Glaube herrscht, die Welt verfügbar machen zu können, setzen wir «am Leben sein» mit «lebendig sein» gleich. Es gilt: Solange wir am Haben anstatt am Sein orientiert sind, bringen wir nicht nur die Welt auf Distanz zu uns, sondern uns gleichzeitig in eine Fremdheit mit uns selbst. Was bleibt, ist eine Beziehung der Beziehungslosigkeit. Wir sind zu sehr mit uns selbst beschäftigt, als dass wir die Dinge ihrem wahren Wesen nach erkennen könnten. Wir interpretieren und sezieren lieber, anstatt zu beobachten und abzuwarten. Unfähig, das Leben so zu nehmen, wie es ist, verkehren wir unser Gefühl, in die Welt geworfen zu sein, dahingehend, uns aus ihr hinauszuschleudern.
Es ist dieses «Fremdgesteuertwerden», der Reflex, Ohnmacht durch Kontrolle zu kompensieren, den der Soziologe Hartmut Rosa auf unsere Furcht vor Weltverlust zurückführt. Als «Grundangst der Moderne» versetze sie uns in einen «Agressionsmodus». Aus ihm heraus nähmen wir jede Unkoordinierbarkeit als Bedrohung wahr und liefen obendrein Gefahr, das Ausdehnen unserer eigenen Weltreichweite, also unserer Wahrnehmung dessen, was wir in dieser Welt alles unter Kontrolle und in Besitz nehmen könnten, auf Kosten anderer zu manifestieren. Wir stehen der Welt innerlich unverbunden, gleichgültig oder sogar feindlich gegenüber und befinden uns damit inmitten einer prinzipiellen Verwechslung von Erreichbarkeit und Verfügbarkeit sowie Symbiose und Verbindung. Dies mache uns nicht nur blind dafür, was es bedeute, uns von dieser Welt wahrhaft berühren zu lassen, – wir würden auch verkennen, dass unser insgeheimes Hoffen auf einen Zuwachs an Lebensstandard durch mehr Sicherheit und Macht nicht der Gier nach Mehr, sondern unserer Angst vor dem Immer-weniger entspränge.
Ein anderer Sinn für Verbundenheit
«Eine bessere Welt ist möglich, und sie lässt sich daran erkennen, dass ihr zentraler Massstab nicht mehr das Beherrschen und Verfügen ist, sondern das Hören und das Antworten.» – Hartmut Rosa, Resonanz
Ohne ein intaktes Weltverhältnis, so viel steht für Hartmut Rosa fest, kann es kein gelingendes Selbstverhältnis geben. Wer sich selbst nicht spürt, könne sich auch die Welt nicht anverwandeln. Und wem die Welt stumm und taub geworden sei, dem käme auch das Gefühl für sich selbst abhanden. Was wirkt wie eine Spirale der ausbleibende Begegnung, führt uns unweigerlich zu der Frage: Worin bestünde denn ein «gelingendes Weltverhältnis»? Was würde es bedeuten, wahrhaft mit uns und dieser Welt verbunden zu sein? Unserer immer alternativloser erscheinenden Beschleunigung setzt Rosa an dieser Stelle nicht den Begriff der Entschleunigung entgegen, sondern den der Resonanz. Ihre – wie er sie nennt – horizontalen, diagonalen wie vertikalen «Achsen» von Beziehungsqualitäten ermöglichten dem Menschen nicht nur eine als antwortgebend erfahrene Beziehungen zur Welt, zum Dasein oder zum Leben als Ganzem, sondern obendrein auch das besagte Urvertrauen, die Dinge so zu nehmen, wie sie kommen – und gehen.
Für Hartmut Rosa ist klar: Wolle der Mensch aus seiner Abgespaltenheit austreten, müsse er wieder lernen, sein In-Beziehung-Treten mit sich und der Welt als Totalität zu verstehen. Rosa teilt ihren Prozess des Zueinanderfindens in vier Phasen der Begegnung: den Moment der Berührung (Affizierung), den Moment der Selbstwirksamkeit (Antwort), den Moment der Anverwandlung (Transformation) und den Moment der Unverfügbarkeit (konstitutiv ergebnisoffen). Mit einem Menschen, einer Landschaft, einer Melodie oder einer Idee in Resonanz zu treten, bedeutet für ihn, «von ihm oder ihr gleichsam ‹inwendig› erreicht, berührt oder bewegt zu werden». Entscheidend sei hierbei das Gefühl, die Welt gehe einen etwas an. Folglich liesse sich dieser Moment der Affizierung auch als «Anrufung» übersetzen. Oder wie Rosa formuliert: «Plötzlich ruft uns etwas an, bewegt uns von aussen und gewinnt dabei Bedeutung für uns um seiner selbst willen.» Stumpfe Blicke fangen wieder an zu leuchten und in unseren Augen sammeln sich Tränen. Das Bedürfnis, der Welt zuzugehören, hat den «Panzer der Verdinglichung» durchbrochen. Mit unserem ganzen Körper und vollem Herzen zurück in ihren Bann gezogen, fühlen wir uns (selbst-)wirksam und lebendig mit ihr verbunden. Unsere Augen werden zu «Resonanzfenstern». Wir haben das Gefühl, mit der Welt im Dialog zu stehen.
Diese «Veränderung der Weltbeziehung» bezeichnet Rosa als entscheidendes Element der Resonanzerfahrung: «Wann immer wir mit der Welt in Resonanz treten, bleiben wir nicht dieselben. Resonanzerfahrungen verwandeln uns, und eben darin liegt die Erfahrung von Lebendigkeit. Wenn wir uns von nichts mehr anrufen und verwandeln lassen, oder wenn wir auf die zahlreichen Stimmen da draussen nicht mehr selbstwirksam zu antworten vermögen, sind wir innerlich tot, versteinert, kurz: resonanzunfähig.» Wer diese Anverwandlung erfahren wolle, so Rosa, müsse aufhören, alles um sich herum kontrollieren zu wollen. Lebendigkeit, Berührung und wirkliche Erfahrung entstünden aus der Begegnung mit dem Unverfügbaren. Eine Welt dagegen, «die vollständig gewusst, geplant und beherrscht wäre, wäre eine tote Welt.»
Wege zur Welt
Ohne eine «bidirektionale» – eine auf Gegenseitigkeit beruhende – Welterfahrung, keine Resonanz: So wie Unverfügbarkeit für Rosa die Bereitschaft impliziert, «sich auf nicht vorhersagbare Weise berühren und verändern zu lassen», impliziert Resonanz «Verletzbarkeit und die Bereitschaft, sich verletzbar zu machen». Kontrolle und Berührung schliessen einander nicht nur aus, gemeinsam begründen sie das Gesetz der Anziehung: Je intensiver wir etwas wollen, umso weniger gelingt es uns. Und je mehr wir etwas besitzen möchten, umso schneller verlieren wir es. Wo wir keinen Raum lassen, mit den Dingen wahrhaft in Kontakt zu treten, wo unsere Vorstellung und unser Wille bereits im Vorfeld jede Möglichkeit einer offenen, ehrlichen Begegnung unterlaufen, da schnüren wir selbst uns jedes Berührtwerden ab. Kurzum: Wo uns das Vertrauen fehlt, verfehlen wir das Leben.
Wer dies verstanden – oder besser noch: durchfühlt – hat, dem bleibt keine andere Wahl, als von sich aus neue Pforten zur Welt zu schaffen. Denn wem die Welt nicht mehr als Aggressionspunkt, sondern als Resonanzpunkt erscheint, wer ihr nicht in einem Modus der Aneignung begegnet, sondern dessen «Haltung des anverwandelnden und selbstwirksamen Hörens und Antwortens» auf eine «wechselseitige responsive Erreichbarkeit» gerichtet ist, für den verliere «das Steigerungsspiel» seinen Sinn und, wichtiger noch, seine «psychische Antriebsenergie».
Nur wer ohne Angst auf die Welt zugehen kann, dem steht es frei, sich ehrlich auf sie und ihre Teilnehmer einzulassen. Nicht im Sinne eines ideologisch aufgeladenen Objektbegehrens, sondern als menschliches Begehren, als Beziehungsbegehren. Und wie sollte es anders sein: Der Weg hin zu einer ehrlichen Beziehung zu unserer Mitwelt führt über uns selbst. Und dieser Weg zu uns selbst ist der Weg des Herzens. Und das ist ein Weg jenseits von Argumenten.
… oder, um es mit Udo Jürgens zu sagen:
Von jetzt an Sein statt Haben
Nicht das Gefühl vergraben
Einander finden
Anstatt Worte verlier’n ♦
von Lilly Gebert
Buchvorlage: Hartmut Rosa (2020): «Unverfügbarkeit» (Suhrkamp)
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