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Autor: Armin Stalder

«Bitcoin bedeutet finanzielle Souveränität»

Der Berner EDU-Grossrat Samuel Kullmann ist überzeugter Anhänger der Kryptowährung Bitcoin. Er gehört zu den wenigen Politikern in der Schweiz, welche dieses Thema in die öffentliche Debatte einbringen.

Samuel Kullmanns Einstellung zum Bitcoin kontrastiert das Bild, welches die Mainstreammedien von der Kryptowährung zeichnen. Ihre Vorwürfe lauten meist gleich: Bitcoin sei wegen der Kursausschläge bloss Spekulationsobjekt, werde wegen der Anonymität zur Finanzierung krimineller Aktivitäten missbraucht, und sei letztlich durch keinen realen Wert gedeckt. Kullmann widerspricht, für ihn ist der Bitcoin «ein grosser Durchbruch.» Seit fast zehn Jahren beschäftigt er sich genauer mit dem Finanzsystem. Es begann im Januar 2015, als die Schweizerische Nationalbank (SNB) den Mindestkurs von 1.20 Franken pro Euro aufhob: «Dies führte zu extremen Kursschwankungen. Da fragte ich mich: Was passiert da genau?» Die SNB habe das nur gemacht, weil die Europäische Zentralbank (EZB) begann, für 60 Milliarden Euro monatlich Staatsanleihen zu kaufen. «Das klang ungesund.» Kullmann kam zum Schluss, dass es besser ist, unabhängiger von den Banken zu werden, denn die systemische Instabilität sei gross: Seit der Finanzkrise 2008 hätten allein westliche Grossbanken Strafzahlungen in der Höhe von 400 Milliarden Dollar leisten müssen.

Kullmann, der sich auch mit Gold und Silber auseinandergesetzt hat, weil sich damit Ersparnisse aus dem Bankensystem herausnehmen liessen, erwarb seinen ersten Bitcoin Ende 2016 – «für ungefähr 800 Franken». Mit der Lektüre von «Der Bitcoin-Standard» des Wirtschaftswissenschaftlers Saifedean Ammous habe er sein Verständnis für die Kryptowährung vertieft. Im April 2024 hat der 37-Jährige ein eigenes Buch zum Thema herausgegeben.

Unsicheres Fiatgeld

Das Hauptproblem im gegenwärtigen Finanzsystem laut Kullmann: Geld werde per staatliches Dekret zu Geld, «das aber durch nichts mehr gedeckt ist, wie es beim Goldstandard noch war. Durch Druck von Banknoten und Münzprägung gibt die SNB neues Fiatgeld heraus. Das entspricht aber weniger als zehn Prozent der Geldmenge.» Der Rest existiere nicht physisch, sondern entstehe durch Verschuldung. «Wenn sich Private, Unternehmen oder Staaten verschulden, schaffen Geschäftsbanken aus dem Nichts neues Geld, Buchgeld genannt.» So sei in den vergangenen 40 Jahren die Geldmenge des Frankens im Durchschnitt zwischen vier und fünf Prozent jährlich gewachsen. «Dieser Wert geht zulasten der Kaufkraft. Die meisten Leute wissen das nicht», sagt Kullmann. …

von Armin Stalder

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Weitere Infos zu Samuel Kullmanns Bitcoin-Engagement: kullmann-services.ch


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«WHO cares?»

Der Gesundheitsökonom Konstantin Beck wirft in seiner Vorlesung an der Universität Luzern einen kritischen Blick auf die Corona-Zeit. In seinem neusten Buch «WHO cares?» warnt er vor weiteren Fehlentwicklungen in der Gesundheitspolitik und den aktuellen Plänen der Weltgesundheitsorganisation.

Auch mehr als zwei Jahre nach dem politisch erklärten Ende der Corona-Pandemie fehlen Anzeichen einer Aufarbeitung weitgehend. Mehr als Beteuerungen von den damals Verantwortlichen sind kaum zu vernehmen. Es scheint die Überzeugung vorzuherrschen, man habe die Krise insgesamt gar nicht so schlecht gemeistert.

Anders sieht dies Dr. Konstantin Beck, Titularprofessor für Versicherungsökonomie an der Universität Luzern. Unter dem Titel «Gesundheitsökonomie – Aufarbeitung der Covid-19-Politik» hat er im Frühlingssemester eine Vorlesung lanciert mit dem Ziel, mit aktuellem Datenmaterial das Geschehen seit März 2020 einzuordnen. Das thematische Spektrum ist breit: Probleme bei der Übersterblichkeitsberechnung, Stärken und Schwächen epidemiologischer Modellierung, statistisches Framing oder die politische Rolle von Wissenschaft werden ebenso diskutiert wie Verfassungsgrundsätze, Kosten-Nutzen-Analyse der Corona-Massnahmen und das Verhalten von Behörden und Medien.

Corona ist nach wie vor kontrovers. Die Universität lasse ihm aber Freiraum in der Bestimmung seiner Themen innerhalb seines Fachbereichs, sagt Beck. Nach aussen rechtfertigen müsse er sich aber selbst. «Ich bin Ökonom und Statistiker. Über Virenmutationen zu sprechen wäre nicht seriös. Worüber ich spreche, kann in der Regel aus statistischen Quellen abgeleitet werden. In der Vorlesung geht es auch darum, Studenten beizubringen, was aus der Quellenlage herausgelesen werden kann und was nicht.» Beck legt viel Wert darauf, dass die Lehrveranstaltung mit Inputs arbeitet, die Erkenntnis fördern. Dazu lade er gelegentlich andere Fachleute in die Vorlesung ein, etwa den ehemaligen Chefarzt der Infektiologie Professor Pietro Vernazza. «Wir analysieren dann zum Beispiel ein epidemiologisches Modell und erklären, weshalb es bei Masern funktioniert, aber nie bei einer Grippe.» Die Vorlesung stosse auf viel Resonanz, erklärt Beck. Noch nie seien so viele Gasthörer gekommen wie jetzt. Diese seien in der Regel wesentlich älter als die Studenten, es ergeben sich spannende Diskussionen zwischen den Generationen, die normalerweise nicht so viel miteinander ins Gespräch kommen, so Beck. Gerade beim Thema Corona sei es wichtig, Diskussionen anzustossen.

Diffamierung statt Diskussion

Beck sieht eine Gesellschaft, die gespalten ist: «Diejenigen, die Massnahmen eher befürworten, berufen sich auf Studien, etwa zur Impfung, und sagen den anderen: Wenn ihr die Wissenschaft infrage stellt, seid ihr Neandertaler.» Die anderen wiederum würden sagen: Die Aussagen der Wissenschaft sind falsch, wir sehen die Evidenz in der Statistik. «Beide Gruppen haben recht», so Beck, «deswegen können beide auf ihren Positionen beharren.»

Die Informationen, die zur Politik und zu den Medien gelangen, seien oft Zusammenfassungen von wissenschaftlichen Erkenntnissen, die bereits verzerrt dargestellt werden und dann von Politik und Medien wiederum verzerrt wiedergegeben würden. «Wenn man die wissenschaftlichen Artikel bis zuletzt durchliest, finden sich oft starke Relativierungen der Aussagen», stellt Beck fest. Die erste Gruppe berufe sich auf solche Zusammenfassungen, die zweite liegt seiner Meinung nach bezüglich der Inhalte oft richtig.

Dieser Umstand ist gemäss Beck der Grund für die Spaltung: «Die zweite Gruppe ist nicht unwissenschaftlich, sondern liest die Artikel vielleicht einfach genauer. Ich vermute, dass die Zusammenfassungen nicht zufällig unvollständig sind. Das dürfte in einem Peer-Review-Prozess nicht vorkommen. Das ist ein Armutszeugnis der medizinischen Wissenschaft.» Dass die Peer-Review-Verfahren offenbar nicht sauber funktionieren, sei alarmierend, insbesondere weil im Bereich der Gesundheit bestimmte Aussagen unmittelbare gesundheitliche Konsequenzen haben können. Dieser Missstand wurde jedoch schon vor Corona festgestellt: Es gibt etliche Studien zu methodischen Problemen, die veranschaulichen, wie häufig statistische Fehler und Tricks in medizinischen High-Level- Publikationen enthalten sind – etwa der berühmte Artikel «Why Most Published Research Findings Are False» des renommierten Gesundheitswissenschaftlers und Statistikers John P. A. Ioannidis aus dem Jahr 2005.

von Armin Stalder

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Prof. Dr. Konstantin Beck ist Titularprofessor für Versicherungsökonomie an der Universität Luzern und gesundheitspolitischer Berater.

Konstantin Beck: «WHO cares? – Die Schweizer Pandemiepolitik und der Einfluss der WHO – ein populärwissenschaftlicher Positionsbezug», 2024, 166 Seiten, Edubook/Merenschwand. CHF 17.- plus Versand.


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Autotraum – ausgeträumt?

Ein Auto bedeutet Freiheit. Zumindest gehörte es lange zu den heilsbringenden Versprechungen von materiellen Konsumwünschen. Wie der Fernseher oder der Kühlschrank galt das Auto während des «Wirtschaftswunders» in der Nachkriegszeit als Baustein eines guten Lebens.

Zunehmend wird das Auto als Feind wahrgenommen. Zu viele schädliche Emissionen: Lärm, CO₂. Antwort der Politik: 30er-Zonen, Dezibel-Beschränkungen, Abgasvorschriften.

Vorbei scheint die Zeit des Autos als Spassmobil, als aufregende gestaltungspotente Innovation, die jedes ästhetische und technische Bedürfnis zu befriedigen wusste. Das Auto hat seinen Nimbus der Unschuld verloren.

Am Auto lässt sich nachvollziehen, wie sich der Zeitgeist über einen bestimmten Zeitraum verändert. Es ist die materialisierte Form von Ideologie. Weitere  Beispiele sind Architektur, Mode oder Musik. Insofern kann das Auto stellvertretend für eine breite Entwicklung gesehen werden.

Magische Illusionen

Das SUV (Sport Utility Vehicle) scheint als einziger Fahrzeugtyp noch an Träume appellieren zu können. Der Name suggeriert Sportlichkeit und Geländetauglichkeit. Meistens sind solche Autos weder sportlich noch geländetauglich.

Doch sie sind ein erträgliches Geschäftsmodell für Hersteller: Wegen ihrer Massigkeit und ihrem Gewicht sind sie ressourcenintensiver im Unterhalt, belasten Strassen stärker, brauchen grössere Reifen, verursachen mehr Bremsstaub, erzielen höhere Durchschnittspreise.

Verkaufsargument: Übersicht durch höhere Sitzposition. Wirklich? Eher trifft das Gegenteil zu: Grosse Autos sind unübersichtlich. In seiner panzerartigen Erscheinungsweise soll es Durchsetzungskraft ausstrahlen, um sich im Verkehr mächtiger zu fühlen. Wenigstens auf der Strasse soll der soziale Aufstieg demonstriert werden. Die Selbstüberschätzung führt zu falschem Sicherheitsempfinden.

Die Bauform eines SUV entspricht der Quadratur des Design-Kreises. Sie führt zu einem Luftwiderstand eines Containers und soll – im Fall des SUV-Coupés – sportlich wirken. Aerodynamik bezieht sich jedoch auf Keilförmigkeit. Mit Marketing lassen sich semantische Widersprüche in magische Illusionen verwandeln.

Zeitlose Ikonen wie Citroën DS oder VW Käfer? Kaum ein Hersteller wagt ein Abenteuer, jegliche Formen offenbaren assimilierte Standards eines massentauglichen Universalgeschmacks. Innen wie aussen. Aussen ein Möchtegern-SUV, innen viel Klinisches. Die Bedienelemente erinnern eher an Smartphones.

«Smarte» Zukunft

Das Auto der Zukunft soll «smart» sein. Mithilfe künstlicher Intelligenz bereitet es ein komfortables Fahrerlebnis. Lästige Manöver wie Einparken werden überflüssig. Autofahren der Zukunft als supercool-smartes Sorglospaket.

All dies ist Ausdruck einer rationalistischen Denkweise, eines ökonomischen Prinzips, das wesentlich einem puritanischen Kalkül entspricht: kalt, seelenlos, unpolitisch. Doch das Verantwortungsproblem bleibt.

Das Auto der Zukunft soll niemandem mehr gehören («Carsharing») und dank digitaler Überwachungstechnologie den Einstieg für diejenigen blockieren, deren ökologischer Fussabdruck das Monatskontingent bereits überschritten hat.

Hauptsache es wird «grün». Denn angeblich herrscht Klimakrise. Und das Auto: auserkoren, die Welt zu retten. Besser gesagt: ihre Besitzer, durch «nachhaltigen» Konsum, damit das Genussdiktat nicht hinterfragt werden muss.

Ein «grünes» Auto ist ein gutes Auto, weil es vorgaukelt, von seinen ursprünglich gefährlichen Komponenten gesäubert zu sein. Man fährt ein Elektroauto, um etwas «Gutes» zu tun. Was tust du, um die Natur zu bewahren? Die Sinnfindung wird durch eine sentimentale Form der Identifikation auf das Auto projiziert. Die Werbung verkauft schon längst immaterielle Werte, die der Selbstverwirklichung dienen sollen. Die tatsächlichen Eigenschaften eines Autos wie Funktionalität oder Ausstattung sind dabei unwichtig geworden. Die Form des Blechs darf grotesk sein, solange die Energieeffizienz vermeintlich stimmt.

Unsterbliches Geheimnis

Mit der «richtigen» Haltung den Planeten retten: So «benutzerfreundlich» wie heute haben Menschen noch nie Probleme gelöst. «Nachhaltigkeit» ist das Gebot der Stunde. Tu nur noch das, was umweltverträglich ist. Schon die Kirche hat mit dem schlechten Gewissen gute Geschäfte gemacht.

Diese quasireligiöse Moral beeinflusst das Verhalten mannigfaltig. Dadurch erhalten scheinbar freie Handlungen unterschwellig eine noch strengere Anweisung. Selbstbestimmung entpuppt sich als aufgezwungener Glückskommunismus. Man macht etwas nicht nur für sich, sondern auch für ein kolportiertes höheres Gut.

Unmündigkeit ist unsexy. Gilt auch beim Autofahren. Man will nicht durch Technologie fremdgesteuert werden. Die Kulturpuritaner vergessen das oft. Es geht um Subjektivität, Kontrolle ist alles. Mit ihr ist die sinnliche Erfahrung des Autofahrens verknüpft. Ausserdem lebt mit der Kultur des Autos ein göttlicher Traum: die Allbeweglichkeit. Es sind diese auratischen Geheimnisse, die das «Auto» unsterblich machen. ♦

von Armin Stalder


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Kunst für eine gemeinsame Vision

An der New Earth Expo 2024 wird das einmalige Kunstprojekt «Art Im-Puls» zu bestaunen sein: Individuelle Kreationen auf Leinwand werden zu einem neuen Kunstwerk zusammengefügt. Einzigartige Inspirationen verschmelzen zu einer neuen gemeinsamen Vision. Bis jetzt sind laut Projektleiterin Janine Landtwing rund 150 individuelle Kreationen in Arbeit.

Landtwing betreibt das Atelier «Soul Alchemy Lab» in Cham und knüpft mit «Art Im-Puls» ideell an ein Projekt an, das sie vor einigen Jahren durchführte. 69 Künstler von fast allen Kontinenten hatten sich daran beteiligt. Dieses Mal soll es noch umfangreicher werden.

Die Idee des Projektes: Möglichst viele Menschen sollen im Sinne des Kernthemas der Expo, Souveränität, ihre Einzigartigkeit ausdrücken und in der Form eines Werks einbringen, das dann co-kreativ in das gemeinschaftliche Gesamtbild eingefügt wird. Dadurch wird das Abbild eines Weges in eine neue Welt greifbar.

So setzt das Kunstprojekt eingebettet im übergeordneten Thema der Expo neue Impulse für das spielerische Mitwirken an einer neuen Welt, ein gesünderes Miteinander und einen friedvollen Lebensraum.

Das neue Bild, bestehend aus den vielen einzelnen, entsteht gleichzeitig physisch und online. Seit Dezember kann der Fortschritt auf der Homepage der New Earth Expo verfolgt werden.

Künstlerische Vorkenntnisse sind zum Mitmachen nicht nötig. So beteiligen sich neben Künstlern auch Schulklassen bei «Art Im-Puls». Die Freude am Kreieren, die Motivation, an etwas Gemeinsamen mitzuwirken, steht im Vordergrund, sagt Landtwing.

Es sei spannend, diesen Prozess mit Menschen zu gestalten und im Voraus nicht zu wissen, was letztlich aus den vielen einzelnen Werken entstehe. Das Projekt biete einen Raum, aus dem sich selber etwas kreiere.

Die Expo hat sieben Schwerpunktthemen: Gesundheit und Wohlbefinden, neue Gemeinschaften und Formen des Zusammenlebens, Vernetzung, Politik und Gesellschaft, Kunst und Kreativität, Souveränität der Menschen, Nachhaltigkeit und Umweltschutz. Jedes davon hat eine Hintergrundfarbe. Alle Einzelwerke werden durch einen Kreis am Rand mit dem nächsten Bild verbunden. Diese Verknüpfung verbindet die Einzigartigkeit mit dem Gesamten.

Wer am Kunstprojekt mitwirken will, kann sich über nachfolgenden Link anmelden. Das Werk muss bis zum 8. April 2024 bei Janine Landtwing ankommen, damit das Gesamtbild bis zur Expo fertiggestellt werden kann. Zur Anmeldung:

newearth.soulalchemy.art/de/newearthexpo

von Armin Stalder


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«Geschichte ist zum guten Teil eine Illusion»

Interview mit Christoph Pfister

Der Historiker und Autor Christoph Pfister gilt als einer der bekanntesten Vertreter der Geschichts- und Chronologiekritik. Seiner Ansicht nach ist die offizielle Geschichtsschreibung zu grossen Teilen verfälscht. Über unsere Vergangenheit liessen sich kaum verlässliche Aussagen treffen.

Die menschliche Zivilisation sei wesentlich jünger als wir meinen. Das Mittelalter sei eine Erfindung. – Dies sind einige der Thesen der Chronologiekritik, wie sie Christoph Pfister vertritt. Von den Geschichtswissenschaften werden sie abgelehnt, sie sehen die Beispiele als widerlegt an und anerkennen entsprechende Positionen nicht. Ich traf den 79-jährigen Historiker in Freiburg zum Gespräch.

«DIE FREIEN»: Herr Pfister, Sie sind Vertreter der Geschichts- und Chronologiekritik. Was verstehen Sie darunter?

Christoph Pfister: Normalerweise denken wir, was über die menschliche Geschichte gelehrt und geschrieben wird, sei wahr. Geschichte muss auch auf verlässlichen Angaben basieren. Wenn man historische Inhalte untersucht, ist zu erkennen, dass dies häufig nicht stimmt. Ein Beispiel: Bei jüngeren Gebäuden wie dem Empire State Building in New York, das 1931 fertiggestellt worden ist, gibt es ausreichend Aufzeichnungen darüber, wer es wann und wie und so weiter gebaut hat. Bei älteren Gebäuden, einer gotischen Kirche etwa, sind Datierungen fragwürdig. Und wenn man es nicht weiss, dann wird über das Alter spekuliert und es werden Behauptungen aufgestellt.

Was kritisieren Sie hauptsächlich am orthodoxen Geschichtsverständnis?

CP: Unser geläufiges Geschichtsbild kann so kaum stimmen. Die Zeiträume sind viel zu weit gezogen. Fakten sind zwar unzweifelhaft, ihre Interpretation und das Ergebnis dagegen sind strittig. …

von Armin Stalder


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Die Rückkehr des Todes

Der Tod ist das grosse Tabu unserer Gesellschaft. Diese Behauptung stellte der Soziologe Jean Ziegler 1975 in seinem Buch «Die Lebenden und der Tod» auf. Ein halbes Jahrhundert später gilt festzuhalten: Zieglers These hat durch die vergangenen zwei Jahre an Dringlichkeit gewonnen, denn in der Konfrontation mit etwas potenziell unkontrolliert Gefährlichem offenbart sich, welche Werte wirklich zählen.

Die pandemiepolitischen Überreaktionen erfolgten vielfach in einem irrationalen, aktivistischen Panikmodus. Erklären lässt sich dies mitunter dadurch, dass sich etwas verdrängt Geglaubtes – der Tod – seinen Weg aus der Dunkelkammer des kollektiven Gedächtnisses bahnte und sich in direkter Konfrontation für jeden Einzelnen als omnipräsentes Risiko offenbarte.

Viele Menschen in westlichen Staaten, die während der vergangenen 70 Jahre ohne Kriegserfahrung aufgewachsen sind, verspürten in der allgemeinen Hysterie womöglich zum ersten Mal in ihrem Leben die Angst vor dem Tod. Diese Angst schaltete jedes kritische Nachdenken über das Geschehen aus, und sie legte eine tiefsitzende Pathologie unserer Kultur frei.

Die Politik behauptete zwar, Leben zu retten. Damit meinte man jedoch eine reduzierte Auffassung von Leben, eine, die sich auf das nackte biologische Leben (Giorgio Agamben) beschränkt. Dieses allein hat aber keinen sinnvollen Inhalt. Es ist absurd zu behaupten, Leben retten zu wollen, wenn dabei dessen Sinn zerstört wird.

Diese Reaktion zeugt von unserem inexistenten Verhältnis zum Tod, dem blinden Fleck in unserer Kultur. Pathologisch ist dies deswegen, weil der Tod eine Konstante des Lebens darstellt und ein integrativer Teil desselben ist. Das ist gewiss – doch wir verleugnen es.

Die Rückkehr des Todes erscheint derart bedrohlich, weil wir ihn abspalten. Der Tod zwingt uns, über die Sinnhaftigkeit oder Sinnlosigkeit unseres eigenen Lebens nachzudenken. Das Gutheissen repressiver Massnahmen dürfte nicht zuletzt darin gründen, dass man auch dieser Aufgabe aus dem Weg gehen will. Der moderne Mensch ist unfähig, sich mit sich selbst zu beschäftigen, oder wie es Blaise Pascal formulierte: «Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.»

Die Angst – die zur politischen Manipulation missbraucht wird – liesse sich reduzieren, wenn wir zu akzeptieren lernen würden, dass menschliches Leben befristet ist. Denn das Bewusstsein über die eigene Endlichkeit macht unser Leben einzigartig, eben weil nichts wiederkehrt und jeder Moment eigen ist. Das Schöne liegt im Vergänglichen.

Als Abwehr einer akuten Lebensgefahr kann Angst nützlich sein. Doch sie darf nicht zum permanenten Zustand werden. Eine während zwei Jahren immer weiter eskalierende Drohkulisse hat nichts mehr mit einem affektiven Schutz zu tun. Vielmehr mündet die Verdrängung des Todes in Gewalt – auch rhetorischer, symbolischer und psychischer – gegenüber vermeintlichen Sündenböcken, die als physische Manifestation der Todesgefahr gesehen werden.

Es ist diese verdrängte Angst vor dem Tod, die es verunmöglicht, zum Leben zurückzukehren. Wir werden lernen müssen, mit dem Tod zu leben. Es scheint, als gäbe es zum jetzigen Zeitpunkt zwei Möglichkeiten, mit dieser Tatsache umzugehen.

Die technologische Verwaltung

Die transhumanistische Ideologie gibt vor, die biologische Existenz technologisch konservieren zu können. Diesen Glauben hat man der Menschheit in den vergangenen zwei Jahren schmackhaft zu machen versucht. Doch ein Glaube, der uns von fremden Autoritäten aufgezwungen wird – ein Dogma –, kann keine Befreiung und auch keine Erlösung sein. Dogmen haben in der Geschichte der Menschheit noch nie dem Einzelnen genützt. Diese Zweckreduktion des Lebens kann keine Zukunft haben, denn die menschliche Existenz besteht nicht nur aus rationalistischem Kalkül, sondern zum Beispiel auch aus Intuition oder moralischem Gewissen. Diese Fundamente der menschlichen Existenz sind nicht eingrenzbar, und auch dies gilt es auszuhalten.

Die Transhumanisten sehen im Menschen bloss eine vergängliche Apparatur, die schwach ist und überwunden werden muss. Aber dieses Evolutionsnarrativ haben sie sich selbst konstruiert. Dabei geht verloren, dass sich mit dem Bewusstsein über die eigene Endlichkeit auch die Einsicht entwickeln kann, sein Leben sinnvoll gestalten zu müssen. Das transhumanistische Ziel des ewigen Lebens nimmt dem Leben seinen Zusammenhang und seinen Sinn. Dabei ist das Leben für den Menschen nicht vom Sinn zu trennen, ohne dass er zum Tier degradiert wird.

Diese Wahnvorstellung des ewigen Lebens speist sich aus der Angst vor dem Tod und dessen Verdrängung. Man glaubt, dieser Angst mit technologiebasierter «Human Augmentation» begegnen zu können. Die transhumanistische Heilslehre schöpft ihre Suggestionen aus der Komplexität der heutigen Welt und zielt darauf ab, Menschen ein verwaltetes, delegiertes Leben führen zu lassen.

Im politischen Feld ist mittlerweile offenkundig, dass der Staat sich heute in diese Richtung bewegt. In seiner technokratischen und expertokratischen Massnahmen-Manie war nicht zu erkennen, dass man bereit ist, die individuelle Lebensgestaltung zu respektieren. Auch ein sinnhaftes politisches Ziel war nicht zu identifizieren. Der Sinn fehlte überhaupt gänzlich. Diese ultimative Rechtfertigung aller Repressalien trieb sich so selbst ad absurdum. Doch durch das kollektive Bedürfnis nach Sicherheit sah sich der Staat legitimiert, den Wert des biologischen Überlebens absolut – und damit totalitär – zu setzen.

Doch über den Wert des Lebens kann keine Politik entscheiden; dies muss ein offener Prozess auf individueller und gesellschaftlicher Ebene bleiben. Im Kosmos Platons ist der Mensch nicht das Beste, hat aber eine ewige Seele, die ohnehin unsterblich ist. Wer wie die Transhumanisten selbst Hand am Schicksal anlegen will, wird überheblich. Auf die Hybris folgt die Ernüchterung.

Die aufgeklärte Selbstbestimmtheit

Die andere Möglichkeit fusst in einer radikalen Selbstreflexion, die zu Selbsterkenntnis führt. Es ist im Kern ein aufklärerischer Gedanke, ein Bekenntnis dazu, dass niemand anderes als der Einzelne selbst den Sinn seines Lebens bestimmen kann. Dieser Sinn kann seine Entfaltung auf verschiedene Weise finden: zum Beispiel im Glauben, in der Spiritualität. – Es ist die Verantwortung jedes Einzelnen, sein Koordinatensystem zu kennen, zu überprüfen und anzupassen. Diese Aufgabe scheint unumgänglich zu sein. Anthropologische Erkenntnisse legen nahe, dass ein Glaubenssystem jenseits des Materialismus fundamental für das menschliche Leben ist. Doch mit Technologie werden wir uns nicht einfach der Natur entledigen können. Technologie löst keine Sinnfrage. So hat doch gerade die Technologie der Moderne – nebst ihren zweifellos nützlichen Errungenschaften – zu unfassbaren Beschleunigungs- und Zerstörungsorgien beigetragen.

Jean Ziegler schlägt vor, jeden Tag durch Gedanken, Taten und Träume so viel Glück und Sinn wie möglich für sich und die anderen zu erschaffen. Auf diese Weise soll die Angst vor dem Tod, der Negation des Lebens, gemindert werden.

In der Akzeptanz von Ängsten und Verletzlichkeit sowie der Integration des Todes ins diesseitige Bewusstsein liegt ein grosses existenzialistisches Potenzial für den Menschen. Wenn wir Jean-Paul Sartres «Der Mensch ist zur Freiheit verdammt» als lebenspraktischen Leitfaden wählen, akzeptieren wir keine aufoktroyierten Einschränkungen mehr, die dem Menschen seine Fähigkeit und sein Bedürfnis absprechen, sein Leben selbst zu gestalten. Dann lassen wir auch nicht mehr zu, dass man uns für transhumanistische Pläne instrumentalisiert.

Die Angst vor dem Tod kann wohl verdrängt werden, doch nicht ohne Konsequenzen. Die Verdrängung führt zu einer latent psychotischen Realitätsflucht und zur Entfremdung des Selbst von der Wirklichkeit. Der Mensch muss also der Verdrängung der Angst entsagen, denn sie hält ihn in Gefangenschaft.
Ein mündiger Mensch wählt nie mehr freiwillig den Zustand der Entmündigung, der Angst und der Schuld. Der mündige Mensch bedient sich nach Immanuel Kant nicht mehr der Anleitung eines anderen, sondern benutzt seinen eigenen Verstand. Das Projekt der Aufklärung gibt es nicht umsonst: Es setzt Mut und Entschlossenheit voraus. ♦


von Armin Stalder
Credit (Bild): pexels.com – Cottonbro


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