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Ich habe immer frei gelernt

Florian Knaus wurde in seinem ganzen Leben nie klassisch unterrichtet. Sein Antrieb zum Lernen waren stets die Neugier und die Freude. Heute begleitet er mit dem Bildungsverein «time4» andere Jugendliche in die Selbstbestimmung und Eigenverantwortlichkeit. Der 26-jährige Lebenskünstler erzählt, wie sein Bildungsweg verlief.

Klassisch unterrichtet wurde ich noch nie in meinem Leben. Ich habe immer frei gelernt und bin meiner Begeisterung und meiner Freude gefolgt. Als es Zeit gewesen wäre, mich einzuschulen, fanden meine Eltern, es sei doch noch etwas unpassend. Sie hatten bei meinen drei Geschwistern und mir beobachtet, dass wir mit grosser Begeisterung jeden Tag Neues entdeckten, lernten und die Welt erkundeten. Dieses freie natürliche Lernen wollten sie nicht unterbrechen. Deshalb entschieden sie, dass ich nicht die öffentliche Schule besuchen sollte. Stattdessen gründeten sie selbst eine Schule. So durfte ich zu Hause und in der Schule zusammen mit Kindern anderer Familien frei in die Welt hineinwachsen. Und mein grösstes Glück ist, dass sie mir diesen Weg ermöglicht haben.

Meine Mutter ist ursprünglich Primarschullehrerin und mein Vater unterrichtet als Dozent an höheren Fachschulen ICT (Informations- und Kommunikationstechnologie). Auf ihrem Weg orientierten sie sich unter anderem an Maria Montessori, die die Überzeugung teilte, die Aufgabe der Umgebung sei es nicht, das Kind zu formen, sondern ihm zu erlauben, sich zu offenbaren: «Es verfügt über einen inneren Bauplan und über vorbestimmte Richtlinien für seine Entwicklung.» Und diese gilt es nur noch zu entfalten, indem man seinen eigenen Interessen, seinen Begabungen und seiner Begeisterung folgt. Auch Rebecca und Mauricio Wild und ihr alternatives Kindergarten- und Schulprojekt Pesta in Tumbaco, Ecuador, hatten meine Eltern stark geprägt. Deren Schulform legte ein Schwergewicht auf die Begleitung echter Lebensprozesse, entspannte Umgebung, Verzicht auf Benotung und einen Schulalltag ohne Klassenstruktur. Dazu banden sie die Eltern durch Elternarbeit intensiv ein und legten Wert auf horizontale Teamarbeit statt autoritäre Strukturen.

Für mich gab es nie einen Unterschied zwischen Schule und Freizeit. Schule hiess einfach, dass die «Gspänli» da sind, während ich in der Freizeit selber abmachen musste, wenn ich jemanden treffen wollte. Die Schule bestand aus mehreren Räumen mit verschiedenen Lernumgebungen, unterschiedlichen Materialien wie Rechen- und Geometriematerial, Schulbüchern, einfach allem, was man in normalen Schulzimmern auch vorfindet. Dazu gab es ein Zimmer mit einer Nähmaschine und ganz vielen Stoffen, ein Zimmer mit einem Hochsitz, Legos, Spiele, ein Zimmer mit «Verchäuferli»-Dingen, Puppensachen, Knobelspielen, eine Metall- und Holzwerkstatt, einen grossen Gartenbereich mit vielen Tieren wie Enten, Hühnern, Hasen, Truthähnen, Geissen, zwei Pferden und einen Fussballplatz … Zudem konnten wir eine Küche nutzen, wo wir oft kochten und ein «Restaurant» und eine «Bar» betrieben. Alles war möglich!

In der Schule stand das natürliche, freie Lernen im Mittelpunkt. Die Freude und die Neugier waren der Antrieb. Entsprechend dem afrikanischen Sprichwort «Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht» machte ich meine Lern- und Entwicklungsschritte, sobald ich bereit war. Und es funktioniert.

Da ich im Alter von 15 Jahren bei meinen beiden älteren Brüdern beobachtet hatte, dass ihnen durch ihre klassischen Ausbildungswege – sie haben beide eine Lehre absolviert – viel wertvolle Zeit und viel Kreativität abhanden kam, entschied ich mich, keine Lehre zu absolvieren und auch keine weiterführende Schule zu besuchen. So viele Dinge hätten damit in meinem Leben keinen Platz mehr gehabt: der Sport mit dem Fussballspielen, die Musik mit dem Klavier-, Gitarre-, Schlagzeugspielen und das Singen, die Zeit mit Freunden … Stattdessen folgte ich meiner damaligen Leidenschaft, dem Mofa-Reparieren. Bald hatte ich den ganzen Garten voller Mofas und Velos, die ich reparierte und verkaufte. Ich sammelte auch Berufserfahrung bei einem Motorgerätemechaniker. Gleichzeitig vertiefte ich mich unter anderem mit Manfred Spitzer, Gerald Hüther, André Stern, Gordon Neufeld, Jean Piaget und anderen in dem Bereich der Psychologie und des Lernens. Mich faszinierte die Frage, wie Lernen wirklich funktioniert. Zudem durfte ich auf mehreren Reisen verschiedene Länder, Völker und Sprachen kennenlernen.

Mittlerweile arbeite ich an der Schule meiner Eltern als kantonal bewilligter und anerkannter Lernbegleiter. Via Validierungsverfahren konnte ich mich – ohne eine Lehre zu absolvieren – zum Fachmann Betreuung EFZ durcharbeiten. Zusätzlich engagiere ich mich zusammen mit einem Team bei time4 für Jugendliche, denen ich nach der obligatorischen Schulzeit eine Alternative zur herkömmlichen Berufslehre oder Mittelschule anbiete. Unterdessen begleiten wir bei time4 rund 30 Jugendliche bei ihren individuellen Entwicklungs- und Lernprozessen. Sie lernen so, wie ich es in meinem ganzen bisherigen Leben getan habe und entscheiden individuell was, wann, wo und wie sie lernen möchten. Dabei entwickeln sie sich zu freien, motivierten, selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Jugendlichen. Das macht so viel Freude! Eine schönere Aufgabe hätte ich mir nicht erträumen können! Dafür bin ich unendlich dankbar!

Ich gebe in Vorträgen in der ganzen Deutschschweiz auch meine Erfahrungen und Erkenntnisse aus meinem Lebensweg weiter, der durch Begeisterung und intrinsische Motivation, also Motivation aus sich selbst heraus, geleitet ist. Ob in Chur, Winterthur, Luzern oder Bern – es freut mich, dass ich bei meinen Auftritten auf immer mehr Menschen treffe, die sich für ein freies, selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Leben begeistern, und dass ich sie durch meine Worte weiter inspirieren und ermutigen kann! ♦

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Bei time4 planen die Jugendlichen ihre Grundbildung selbst. Das Angebot kann von einem bis acht Semester, als komplette Grundbildung oder als 10. Schuljahr genutzt werden. Der Non-Profit-Verein ist in der ganzen Deutschschweiz aktiv.

time4.ch


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