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Autor: Andreas Thiel

Wer bist du?

Die Aufforderung «Glaube was du siehst» steht in goldenen Lettern in den schweren Bleirahmen des Spiegels dieser materiellen Welt eingeprägt. Du schaust an dir hinab und vergleichst dich mit deinem Spiegelbild. Du siehst dich, aber du fühlst nicht, was du siehst. Dieser Spiegel ist kalt. Er hat dir nichts zu sagen. Er lebt nicht. Diesen Spiegel musst du nicht suchen. Er wird dir überall angeboten.

Der Schriftzug Erkenne dich selbst prangt auf dem schlichten Papierrahmen über
einem ganz anderen Spiegel. In diesem Spiegel erkennst du ein feinstoffliches Wesen, das einst die geistige Welt des Lichts verlassen musste und in die geistige Finsternis stürzte. In diesen Spiegel schaust du mit deiner Seele. Dein Blick ist die Liebe. Der Spiegel ist die Weisheit. Diesen Spiegel musst du suchen. Man findet ihn in alten Büchern.

Philosophie ist die Liebe zur Weisheit. Sie ist der Schlüssel zur höheren Erkenntnis. Ohne Liebe ist höhere Erkenntnis nicht möglich, denn sie ist das göttliche Grundprinzip. Die Erleuchtung ist die Rückerlangung der vollen Erkenntnis seiner selbst, seiner wahren Natur, seines Ursprungs. Die Erleuchtung steht am Ende deines Weges aus der Finsternis heraus zurück ans Licht. Du hast einen geistigen Tod erlitten, indem du die lebendige Welt des Lichts verliessest. Du warst geistig tot in geistiger Finsternis.

Und nun endlich befindest du dich auf dem Weg zurück. Dass der materielle Spiegel dir den Körper eines Menschen zeigt, heisst, dass du schon einen weiten Weg zurückgelegt hast in dieser materiellen Welt, durch das Mineral-, Pflanzen- und Tierreich. Das ist gut. Du bist dem Licht schon sehr nahe. Das, was du als Mensch noch lernen musst, und erst als Mensch lernen kannst, ist die Selbstbeherrschung. …

von Andreas Thiel


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Auf der Frontlinie zwischen Gut und Böse

Wie soll man für den Frieden kämpfen? Darf die Verhinderung des Krieges zur Anwendung von Gewalt führen? Kann die Verteidigung der Gewaltlosigkeit sogar zum kriegerischen Kampf verpflichten? Wann verpflichtet das Gebot der Gewaltfreiheit zum Kampf? Und ist Abseitsstehen beim Kampf gegen das Böse in jedem Fall feige? Die Bhagavad Gita gibt Auskunft.

Friedfertigkeit ist eine Tugend. Die Summe aller Tugenden ist die Liebe. Liebe ist das göttliche Grundprinzip. Tugenden sind göttliche Eigenschaften. Mit jeder Tugend pflegen wir das Göttliche in uns. Das Göttliche ist unsere wahre Natur. Wir sind Geschöpfe Gottes. Unser Grundprinzip ist die Liebe. Leider befindet sich das Göttliche in uns in einem schlechten Zustand. Wie es dazu kam, ist eine sehr lange Geschichte. Diese beginnt vor der Entstehung unseres Universums, weit vor unserer Zeit, in der geistigen Welt. Davon berichten die alten Schriften. Davon berichtet die Genesis im ersten Buch Mose. Davon berichten die zoroastrischen Hymnen. Davon berichten Homers Epen. Davon berichtet das Sanskritepos Maha Bharata.

Das bekannteste Buch der über zweitausend Jahre alten Maha Bharata ist die Bhagavad Gita, der «Gesang des Erhabenen». Dieses poetische Werk handelt von der Tugend der Friedfertigkeit. Unter den altindischen Schriften ist die Bhagavad Gita die wichtigste und umfassendste Abhandlung über die Philosophie der Gewaltlosigkeit. Und sie ruft zum kriegerischen Kampf auf. Wie kann das sein? Liest man diese philosophische Schrift im Zusammenhang der Maha Bharata, beantwortet sie durch reine Logik die Fragen, wer wann, wie, unter welchen Umständen und mit welchen Mitteln zum kriegerischen Kampf verpflichtet ist und wer sich neutral oder passiv verhalten darf oder muss.

Dramatischer Höhepunkt

Die Bhagavad Gita beinhaltet im Wesentlichen eine Belehrung über die Philosophie der Gewaltlosigkeit aus dem Munde des hohen göttlichen Wesens Krishna. Die Lektion gilt dem jungen Bogenschützen Arjuna. Sie wird ihm erteilt auf dem noch grünen Schlachtfeld zwischen den beiden sich gegenüberstehenden Heeren, unmittelbar vor der Schlacht. Krishnas philosophische Unterweisung in Gewaltlosigkeit ist also literarisch kunstvoll eingebettet in einen Moment der Ruhe vor dem Sturm. Dieser hochdramatische Kontrast ist eine dramaturgische Meisterleistung und sagt einiges aus über die Bedeutung der Bhagavad Gita. Sie befindet sich im zentralen Schwebepunkt des Spannungsbogens über dem gesamten Epos Maha Bharata.

Dramaturgischer Kontrast

An diesem Punkt des Epos stehen sich zwei verschwisterte Clans im Krieg gegenüber. Auf der einen Seite stehen die Getreuen, welche das Gute bewahren, und auf der anderen die Abtrünnigen, welche die alte Ordnung zerstören, um eine neue zu schaffen. Arjuna führt die Guten an. Der göttliche Krishna dient dem tugendhaften, aber noch jungen Arjuna als Wagenlenker. Abgestützt auf die um einiges ältere vedische Schrift «Katha Upanishad» darf man diesen Dienst allegorisch verstehen. Krishna führt Arjuna geistig, indem er ihm hilft, seine Sinne – das sind die Pferde – durch das Bewusstsein – also die Zügel – zu lenken, damit sein urteilsfähiger Verstand – das ist der Wagenlenker – seinen Körper – also den Wagen – richtig durchs Leben führe.

Die Streitwagenallegorie

Auf Arjunas Bitte lenkt Krishna den Wagen zwischen die beiden sich gegenüberstehenden Heere. Allegorisch gesehen steht der grobstoffliche Körper nun auf der Frontlinie zwischen Gut und Böse. Die Schlacht hat noch nicht begonnen. Arjuna, dessen Bewusstsein noch von den grobstofflichen Sinnen beherrscht wird, beklagt, dass sich hier Verwandte, Freunde und Nachbarn in Feindschaft gegenüberstehen. Eher möchte er, der tugendhafte Held, sich kampflos ergeben und dem Feind unterwerfen, als zulassen, dass sich hier Brüder, Väter und Söhne gegenseitig auf dem Schlachtfeld töten. Er möchte lieber als Mönch im Wald meditieren oder als Gärtner den Garten pflegen, als hier diesen augenscheinlich so sinnlosen wie blutigen Kampf zu führen. Und er bittet Krishna um Belehrung.
Krishna ruft Arjuna in Erinnerung, dass er Krieger ist. In Friedenszeiten geniesst er die Freiheit, in Wald und Garten seine Reit- und Bogenschiesskünste zu üben, während die Mönche im Wald für ihn meditieren und die Gärtner für ihn den Garten pflegen. Aber jetzt ist diese friedliche Welt bedroht. Und während die anderen weiterhin meditieren und den Garten pflegen mögen, muss er, der Krieger, kämpfen, um die Freiheit der anderen zu verteidigen.

Daraus lernen wir immerhin schon mal, dass sich nicht immer alle zum Kampf verpflichtet fühlen müssen, sondern nur jene, die gerade «Krieger» sind und deren Pflicht es ist, die anderen zu verteidigen.

Die Lehre der Gewaltlosigkeit gebietet die Verteidigung der Schwachen

Der Kampf im Namen der Gewaltlosigkeit folgt dem Grundsatz, möglichst niemanden zu verletzen, nicht einmal den Gegner. Wenn ein Aggressor dich schlägt, weiche aus oder stecke ein, aber schlage nicht zurück. Im schlimmsten Fall wirst du getötet. Was soll´s? Du warst ein Vorbild für andere und wirst mit gutem Karma wiedergeboren.

Anders sieht es aus, wenn der Aggressor einen Schwächeren bedroht. Dann ist es deine Pflicht, dazwischenzugehen und anstelle des Schwächeren die Schläge einzustecken. In einem solchen Fall darfst du dich allerdings nicht mehr töten lassen, weil du dann einen Schwächeren schutzlos hinterlassen würdest. Hier beginnt die Selbstverteidigung. Sie dient nur als Schutzschild für Schwächere und darf nicht die Verletzung oder gar Tötung des Aggressors beabsichtigen. Um diese Anweisung zu verstehen, hilft eine Betrachtung des Aikido. Eine der Grundtechniken des Aikido besteht darin, die Angriffskraft so umzuleiten, dass der Angreifer durch seinen eigenen Schwung zu Fall kommt. Der Verteidiger setzt nur ein Minimum an Energie und damit keine Gewalt ein. Trotzdem kann sich der Angreifer verletzen, wenn seine Angriffsenergie gross genug ist. Je tödlicher die Angriffsenergie, desto gefährlicher für den Angreifer.

Auf eine moderne Verteidigungsarmee übertragen bedeutet das die Inkaufnahme toter oder verletzter Gegner im Fall eines potenziell tödlichen Angriffs. Bei der Landesverteidigung muss demnach die Verletzung oder gar Tötung fremder Truppen in Kauf genommen werden, sobald solche mit tödlichen Waffen eine Grenze überschreiten. Damit ist die Lehre der Bhagavad Gita natürlich bei Weitem nicht erschöpft. Aber dass unsere ehemalige Verteidigungsarmee mit den jüngsten Armeereformen zu einer potenziellen Interventionsarmee umgebaut wurde, zeigt, dass die Politik längst den Pfad der Tugend verlassen hat.

Etwas mehr Schrift- statt Aktenstudium würde guttun. Unser Zustand zeigt, wie weit wir uns von Gott entfernt haben. Der Weg zurück führt nur über Tugenden. Um dies zu verstehen, ist höhere Erkenntnis nötig. Denn wenn die Zügel mit den Pferden verwechselt werden, das heisst «wenn das Bewusstsein mit den Sinneseindrücken verwechselt wird, laufen die Sinne dahin wie Wildpferde». Die Folge ist, dass wir «Lust geniessen und Kummer erleiden» werden.

Aber wer nach höherer Erkenntnis sucht, wird sie finden, denn sie liegt weder in versiegelten Truhen vergraben noch hinter geheimen Türen verborgen, sondern offen in unzähligen Schriften vor uns. ♦

von Andreas Thiel


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Macht Euch die Erde untertan

Dieser Satz ist die Lunte zur Menschheitsgeschichte, einer jahrtausendealten Geschichte nicht abreissen wollender Gewalt als logische Folge des fatalsten und folgenschwersten Irrtums der Schriftauslegung.

Ein erfolgreiches Leben misst sich daran, ob man diese Welt in einem besseren Zustand hinterlässt, als man sie vorgefunden hat. Bis hierhin sind wir uns einig, Klaus Schwab, Greta und die Klimakleber, die WHO und ich. Aber wie misst man den Einfluss eines einzelnen Lebens auf diese Welt? Welcher Mensch kann sich eines persönlichen Beitrags zu einem Sonnenaufgang oder Vulkanausbruch rühmen?

An indischen Universitäten verabschiedet man abends die Sonne singend mit dem Sonnenuntergangsmantra und begrüsst sie morgens mit dem Sonnenaufgangsmantra. An unseren Universitäten setzt man abends Tweets ab wie «Die Sonne geht unter – Schuld ist der Klimawandel», woraufhin Wissenschaftler mit Verweis auf computergestützte Dunkelheitssimulationsmodelle prognostizieren, dass die Nacht diesmal monatelang andauern werde, um dann den unerwarteten Sonnenaufgang zu kommentieren mit: «Das haben wir alle gemeinsam geschafft.»

Wer die Welt verändern will, muss sich selbst verändern. Das heisst, man kann die Welt nur um so viel verbessern, wie man sich selbst verbessert. Alles andere ist Selbstüberschätzung. Über andere zu herrschen ist nie eine höhere Berufung, sondern immer ein grössenwahnsinniges Hinabsinken unter seine eigenen Möglichkeiten. Wer Lust auf ein Regierungsmandat verspürt, folgt keinem höheren Ruf, sondern einem niederen Trieb. Denn Dummheit regiert die Welt.

Wer hingegen durch Selbstbeherrschung das Wunder vollbringt, sich selber in seinem Denken, Reden und Handeln zu verbessern, wird diese Welt gleichsam für alle Menschen verbessern, die mit ihm in Berührung kommen. Und erstaunlicherweise führt genau das dazu, dass man dann doch noch mehr als nur sich selbst zu verbessern vermag, nämlich indem man andere durch sein Vorbild dazu anleitet, sich ebenfalls selbst zu verbessern.

Der Irrtum ist so alt wie die Menschheit und geht zurück auf einen Satz in der Genesis: «Macht euch die Erde untertan.» Seit dieser göttlichen Befehlsausgabe versucht der Mensch die Welt zu beherrschen. Tausende von Jahren Krieg und Unterdrückung sind die Folge …

von Andreas Thiel

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Andreas Thiel etabliert durch seine sprachphilosophischen Betrachtungen eine durch Platon inspirierte neue Schule des Denkens, unter anderem mit seinem Format «Yoyogaga» auf kontrafunk.radio. 2023 erschien der Pilotfilm zu seiner staatsphilosophischen Filmserie «Les Sanspapiers», welche er zusammen mit Prof. Dr. iur. David Dürr produziert: lessanspapiers.ch


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Was ist Schönheit? Was ist Liebe?

Urteilsvermögen hat nichts mit Intelligenz zu tun. Intelligenz ist nicht einmal Voraussetzung dafür. Urteilsvermögen heisst Verstand. Das ist etwas ganz anderes.

Im Gegensatz zum Tier, das Dinge instinktiv wahrnimmt, kann der Mensch alles selbständig betrachten und beurteilen. Wäre der Mensch in seinem Denken nicht frei, könnte er nicht kreativ sein. Schon Jahrmillionen bevor es den Menschen gab, bauten Vögel ihre kunstvollen Nester. Trotzdem werden sie nie Kathedralen errichten. Aber sie werden auch nie Schlachthöfe bauen. Seit Jahrmillionen pfeifen, zwitschern und krächzen sie von den Bäumen. Trotzdem werden sie nie Oratorien komponieren. Aber sie werden auch keine elektronischen Verstärker aufstellen, um den ganzen Wald mit ihrem Gekrächze zu beschallen.

Der freie Wille unterscheidet uns vom Tier. Das Tier kann die Dinge nicht frei beurteilen, verfügt dafür über einen Instinkt. Der Mensch hingegen ist völlig frei in seinem Denken, was Voraussetzung ist für sein kreatives Schaffen. Diese Freiheit birgt die Gefahr in sich, dass er Fehler begeht. Dank seiner Freiheit kann der Mensch über sich selbst hinauswachsen aber auch unter sich selber hinabsinken. Den Unterschied macht seine Urteilskraft. Zu deren Bildung hat der Liebe Gott dem Menschen die Vernunftbegabung geschenkt. Wäre die Vernunft mehr als eine Begabung, handelte es sich um einen Instinkt, wie ihn Tiere haben, und ein solcher würde uns einschränken in unserer Willensfreiheit. Diese besondere Vernunftbegabung ist Grundlage unseres Urteilsvermögens und muss gefördert und geschult werden, damit wir Urteilskraft erlangen. Ob der Mensch seine Freiheit nutzt, um Opernhäuser zu errichten oder Foltergefängnisse zu bauen, ein Ballett zu choreographieren oder eine Militärparade, hängt davon ab, ob seine Vernunftbegabung während seiner Kindheit und Jugend gefördert oder vernachlässigt wurde.

Mit unseren materiellen Sinnesorganen wie Augen, Nase und Ohren beurteilen wir die Dinge nach deren materiellen Beschaffenheit. Materielle Messinstrumente wie Senkblei, Wasserwaage oder Rasterelektronenmikroskop verstärken unsere materiellen Sinnesorgane. Zur Beurteilung geistiger Eigenschaften bedarf es geistiger Sinnesorgane. Diese umfassen unter anderem das Gewissen und die Intuition und bilden unser Urteilsvermögen. Deshalb sagen wir über einen lieben Menschen, der in seinem Aussehen nicht gerade den Schönheitsidealen entspricht, er besitze innere Schönheit. Und aus demselben Grund interessiert sich ein guter Mensch wenig für Militärparaden, selbst wenn diese schön choreographiert sind.

In östlichen Lehren unterscheidet man zwischen Intelligenz und Verstand. Intelligenz wird als reine Rechenkapazität des Gehirns definiert. In unserer digitalen Welt ist jeder Toaster intelligenter, als wir es sind. Intelligenz, Gefühle und Triebe werden betrachtet als Kinder, die weder unterdrückt noch vernachlässigt werden dürfen, sondern der liebevollen Aufsicht, Erziehung und Förderung bedürfen. Der Verstand ist das erwachsene Element. Intelligenz ist bloss Hubraum. Verstand ist ein Kompass. Hubraum ist verheerend, wenn man in die falsche Richtung fährt. Wer versucht, die gesamte Menschheit mit mRNA-Technologie genetisch zu verbessern, muss über viel Intelligenz verfügen und darf keinen Verstand haben. Deshalb riet Pestalozzi, zuerst Herz und Hand zu schulen und dann erst den Kopf. Mit Herz ist die Urteilskraft gemeint. In unserem Bildungssystem wird aber zuerst der Kopf geschult und dann der Kopf und dann noch der Kopf. Das erklärt einiges. ♦

von Andreas Thiel


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Mitläufer sind solidarisch

Die Solidarischen werden stets dazu aufgerufen, die Unsolidarischen zu bekämpfen. Es ist mir kein Fall bekannt, in welchem Solidarität mit Unsolidarischen propagiert worden wäre. Damit steht die Solidarität im krassen Gegensatz zur Liebe, die selbst Feinden gilt.

Es gibt in der Geschichte der Menschheit zwei Grundmuster. Nennen wir sie Philosophien und Ideologien. Philosophien sprechen das Individuum an. Ideologien richten sich ans Kollektiv. Einer Philosophie kann jeder individuell folgen, wohingegen die Ideologie eine Gefolgschaft aller bedingt. Die individualistische Philosophie steht hier also der kollektivistischen Ideologie gegenüber.

Philosophien, wie wir sie unter anderem von Jesus, Buddha oder Zarathustra kennen, beinhalten Anleitungen zum besseren Leben, die jeder für sich individuell umsetzen kann – und zwar völlig unabhängig davon, ob andere mitmachen oder nicht. Sie bestehen aus philosophischen Grundsätzen wie «Wenn dich einer auf die Backe schlägt, halte die andere Backe auch noch hin» (Jesus), «Wenn Du die Welt verändern willst, verändere dich selbst» (Buddha) oder «Gut denken, gut reden, gut handeln» (Zarathustra).

Philosophien sind zeitlos. Jeder kann so oft wiedergeboren werden, wie er Zeit benötigt, um geistig voranzuschreiten, und jeder kann jederzeit durch gute Taten sein Vorankommen beschleunigen oder durch deren Unterlassung verlangsamen. In individualistischen Systemen pflegt jeder eine unbestimmte Anzahl an Du-Ich-Beziehungen, die auf bunten Bündelungen individuell gewichteter Attribute beruhen wie Geschlecht, Alter, Neigung, Beruf, Stellung, Nachbarschaft, Bildung, Vergangenheit, Zukunft, Interessen usw. Diese können sich zudem jederzeit verändern, indem sie enger, bedeutsamer oder lockerer werden oder sich wieder auflösen. Es herrscht Diversität, es entstehen individuell geprägte Sympathien und Antipathien, die Währung ist Vertrauen. Philosophien lehren immer, mit individuellem Verhalten möglichst wenig Schaden anzurichten, wobei, wie erwähnt, jedem so viele Leben zur Verfügung stehen, wie er benötigt, um sich zum Guten zu entwickeln.

Ganz anders sieht es aus mit kollektivistischen Ideologien. Ideologien gehen nur auf, wenn alle mitmachen. Und genau hier liegt der Hund begraben.

Egal, worum es sich handelt – es machen nie alle mit. Das führt zum Dilemma aller Ideologien, nämlich dass diejenigen, welche nicht an sie glauben, Schuld daran sind, dass sie scheitern. Diejenigen, welche nicht an die Impfung glauben, sind schuld daran, dass sie nicht funktioniert.

Ideologien sind «PARADISE NOW!»-Ideen. Sie begegnen uns als Religionen, Staats- und Wirtschaftstheorien oder zuweilen als Gesundheits- oder Umweltschutzbewegungen und verbreiten vermeintliche Anleitungen dazu, wie man die gesamte Menschheit oder die ganze Welt ultimativ retten könne bzw. müsse. Denn Ideologien gehen einher mit Weltuntergangsszenarien, welche eine Dringlichkeit nahelegen, jetzt sofort alles der Ideologie zu unterwerfen.

Mit ihrer Fokussierung auf ein Thema vereinfachen Ideologien die Welt und verkürzen den Denkhorizont. Die sich jeder Kontrolle entziehende Buntheit der individuellen Du-Ich-Beziehungen wird ersetzt durch ein kontrollierbares, kollektivistisches Wir-und-die-Anderen-Denken. Die unzähligen, unterschiedlichen und individuell kombinierten Attribute, welche Du-Ich-Beziehungen ausmachen, werden verdrängt durch ein einziges Attribut, welches die Gesellschaft unterteilt in Freunde und Feinde bzw. Gläubige und Ungläubige, Getaufte und Ungetaufte, Arbeiter und Kapitalisten, Parteimitglieder und Klassenfeinde, Linke und Rechte, Geimpfte und Ungeimpfte, Zertifizierte und Unzertifizierte, Klimaschützer und Klimaschädlinge, Gendergerechte und Genderungerechte – also in Träger der neusten Wahrheit und deren Leugner und Ignoranten. Individuell gewichtete Attribute wie Sympathien und Antipathien spielen keine Rolle mehr. Die Ideologie teilt die Welt in Freund und Feind, und wer mit dem Feind verkehrt, wird selber zum Feind erklärt. Feinde gilt es zu iden-tifizieren, um sie zu bekehren und im Falle von «Unbelehrbarkeit» zu bekämpfen, isolieren, vertreiben und in letzter Konsequenz zu eliminieren. Gehorsamkeit ist Voraussetzung, Einfalt die Folge, und die Währung heisst Angst. Da kollektivistische Systeme mit einem beschränkten Zeithorizont rechnen, gehört zu jeder Ideologie die Rechtfertigung von Kollateralschäden.

Allen Strömungen der Gesellschaft liegen diese Muster zugrunde: Individualismus oder Kollektivismus, Philosophie oder Ideologie. Da sich die Philosophien nicht eignen, um Macht auszuüben und Menschen zu kontrollieren, sind Politik und Medien geprägt von Ideologien. Selbst die Kirche musste, um weltliche Macht ausüben zu können, groteskerweise eine christliche Philosophie durch eine unchristliche Ideologie ersetzen.

Philosophien beruhen stets auf den gleichen alten Tugenden: Bescheidenheit, Geduld, Barmherzigkeit, Liebe und Verzeihung usw., wohingegen sich Ideologien oft auf angeblich neuste wissenschaftliche Erkenntnisse und technologische Machbarkeit – sei es in der Informations-, Rüstungs-, Umwelt- oder Gentechnologie – stützen.

Das Weltuntergangsszenario taucht in immer neuen Varianten auf, handelt aber verlässlich von der unumkehrbaren Verwüstung des Planeten oder einer dramatischen Reduzierung der Weltbevölkerung. Um den bevorstehenden Weltuntergang noch rechtzeitig abwenden zu können, müssen Kollateralschäden in Kauf genommen werden – was den Zynismus des Kollektivismus entlarvt, da man damit nichts anderes tut, als Kollateralschäden zu verursachen, während man beteuert, damit Kollateralschäden zu verhindern.

Der alles mobilisierende Kampfbegriff des Kollektivismus lautet «Solidarität». Im Gegensatz zur Liebe, die sich individuell auf Pflanzen, Tiere und Menschen mit individuellen Problemen und Bedürfnissen verteilt, gilt die Solidarität ausschliesslich dem aktuellen Generaltrend, vor dem jedes andere Problem oder Bedürfnis zurückzustellen ist. Mit anderen Worten: Wo Solidarität eingefordert wird, hat Liebe keinen Platz mehr.

Wer sich also den Vorwurf gefallen lassen muss, unsolidarisch zu sein, darf sich als Hoffnungsträger einer besseren Zukunft wähnen. Weil er offensichtlich nicht einer grassierenden Ideologie verfallen ist und sich damit die Fähigkeit bewahrt hat, seine Liebe nach den individuellen Bedürfnissen von Menschen und Umwelt in seiner Nähe auszurichten. ♦

von Andreas Thiel


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