Was ist Schönheit? Was ist Liebe?

Urteilsvermögen hat nichts mit Intelligenz zu tun. Intelligenz ist nicht einmal Voraussetzung dafür. Urteilsvermögen heisst Verstand. Das ist etwas ganz anderes.

Im Gegensatz zum Tier, das Dinge instinktiv wahrnimmt, kann der Mensch alles selbständig betrachten und beurteilen. Wäre der Mensch in seinem Denken nicht frei, könnte er nicht kreativ sein. Schon Jahrmillionen bevor es den Menschen gab, bauten Vögel ihre kunstvollen Nester. Trotzdem werden sie nie Kathedralen errichten. Aber sie werden auch nie Schlachthöfe bauen. Seit Jahrmillionen pfeifen, zwitschern und krächzen sie von den Bäumen. Trotzdem werden sie nie Oratorien komponieren. Aber sie werden auch keine elektronischen Verstärker aufstellen, um den ganzen Wald mit ihrem Gekrächze zu beschallen.

Der freie Wille unterscheidet uns vom Tier. Das Tier kann die Dinge nicht frei beurteilen, verfügt dafür über einen Instinkt. Der Mensch hingegen ist völlig frei in seinem Denken, was Voraussetzung ist für sein kreatives Schaffen. Diese Freiheit birgt die Gefahr in sich, dass er Fehler begeht. Dank seiner Freiheit kann der Mensch über sich selbst hinauswachsen aber auch unter sich selber hinabsinken. Den Unterschied macht seine Urteilskraft. Zu deren Bildung hat der Liebe Gott dem Menschen die Vernunftbegabung geschenkt. Wäre die Vernunft mehr als eine Begabung, handelte es sich um einen Instinkt, wie ihn Tiere haben, und ein solcher würde uns einschränken in unserer Willensfreiheit. Diese besondere Vernunftbegabung ist Grundlage unseres Urteilsvermögens und muss gefördert und geschult werden, damit wir Urteilskraft erlangen. Ob der Mensch seine Freiheit nutzt, um Opernhäuser zu errichten oder Foltergefängnisse zu bauen, ein Ballett zu choreographieren oder eine Militärparade, hängt davon ab, ob seine Vernunftbegabung während seiner Kindheit und Jugend gefördert oder vernachlässigt wurde.

Mit unseren materiellen Sinnesorganen wie Augen, Nase und Ohren beurteilen wir die Dinge nach deren materiellen Beschaffenheit. Materielle Messinstrumente wie Senkblei, Wasserwaage oder Rasterelektronenmikroskop verstärken unsere materiellen Sinnesorgane. Zur Beurteilung geistiger Eigenschaften bedarf es geistiger Sinnesorgane. Diese umfassen unter anderem das Gewissen und die Intuition und bilden unser Urteilsvermögen. Deshalb sagen wir über einen lieben Menschen, der in seinem Aussehen nicht gerade den Schönheitsidealen entspricht, er besitze innere Schönheit. Und aus demselben Grund interessiert sich ein guter Mensch wenig für Militärparaden, selbst wenn diese schön choreographiert sind.

In östlichen Lehren unterscheidet man zwischen Intelligenz und Verstand. Intelligenz wird als reine Rechenkapazität des Gehirns definiert. In unserer digitalen Welt ist jeder Toaster intelligenter, als wir es sind. Intelligenz, Gefühle und Triebe werden betrachtet als Kinder, die weder unterdrückt noch vernachlässigt werden dürfen, sondern der liebevollen Aufsicht, Erziehung und Förderung bedürfen. Der Verstand ist das erwachsene Element. Intelligenz ist bloss Hubraum. Verstand ist ein Kompass. Hubraum ist verheerend, wenn man in die falsche Richtung fährt. Wer versucht, die gesamte Menschheit mit mRNA-Technologie genetisch zu verbessern, muss über viel Intelligenz verfügen und darf keinen Verstand haben. Deshalb riet Pestalozzi, zuerst Herz und Hand zu schulen und dann erst den Kopf. Mit Herz ist die Urteilskraft gemeint. In unserem Bildungssystem wird aber zuerst der Kopf geschult und dann der Kopf und dann noch der Kopf. Das erklärt einiges. ♦

von Andreas Thiel

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