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Keine Bildung ohne Beziehung

Interview mit Matthias Burchardt

Was ist das Geheimnis gelingender Bildung? Ist es die Selbstbestimmtheit des Schülers, seinen Neigungen frei nachzugehen, oder doch die autoritäre Hand, die nicht müde wird, ihm Leistungsanforderungen zu stellen? Der Bildungsphilosoph Matthias Burchardt ist überzeugt: Wollen wir Bildung zurück auf die Pfeiler der Menschlichkeit stellen, ist Beziehung das Erste, was wir lernen müssen.

«DIE FREIEN»: Lieber Matthias, deiner Doktorarbeit hast du damals den schönen Titel «Erziehung im Weltbezug» verliehen. Was darf man sich darunter vorstellen?

Matthias Burchardt: Der Ansatz ist eigentlich der, dass sich der Mensch oft als isoliertes Wesen betrachtet hat. Insbesondere die Vorstellung des Subjektes in den Zeiten der Aufklärung hat uns auf uns selbst zurückgeworfen. Sie hat uns zwar viel Macht über die Natur und den Mitmenschen verliehen, aber uns zugleich auch einsam und verloren gemacht, sodass wir nicht nur in der Welt als Aussenseiter erscheinen, sondern auch gegenüber unseren Mitmenschen. Und meine Arbeit versucht eigentlich die Beziehungen, in denen wir stehen, wieder zum Thema zu machen. Da geht es nicht nur um den Weltbezug, sondern auch den Mit-Bezug, die soziale Dimension unserer Existenz, und um den Selbst-Bezug, also dass wir nicht nur einfach ein Ich sind, sondern auch eine dunkle oder eine Rückseite haben, die ich das Selbst nennen würde.

Inwiefern unterstützt die aktuelle Auffassung von Bildung derartige Formen von Beziehung?

MB: Ganz und gar nicht. In Deutschland werden OECD-Pläne ausgerollt, die nicht nur mit formalen Schulreformen verbunden sind, sondern auch mit einer neuen Formulierung des Bildungsbegriffs in Hinblick auf Kompetenzen. Hinzu kommt das «selbstgesteuerte Lernen». Das ist eine Modellierung des Lernprozesses, nach dem sich der Schüler gewissermassen unabhängig von Anleitung und pädagogischer Zuwendung einen Weg durch die Bildungslandschaften bahnen soll. Was dabei natürlich völlig fehlt, ist der Weltbezug im Sinne der Fachlichkeit. Die reine Kompetenzorientierung verzichtet auf das Wissen und die tatsächliche Weltbegegnung. Das selbstgesteuerte Lernen verzichtet auf die pädagogische Beziehung und das Verhältnis des Selbst zum Ich wird auch nicht als Bildungsdimension reflektiert.

Pläne, die auf Modellierungen und Steuerungsmechanismen beruhen … Inwieweit werden die Kinder in diesem Konzept überhaupt noch als Menschen gesehen?

MB: Also der Begriff der Selbststeuerung changiert zwischen zwei Aspekten: Er hat einmal eine scheinbare Emanzipations-Qualität, weil ich selbst steuere – also die Schule ist nicht mehr die «böse Schule» der autoritären Unterdrückung, sondern sie zwingt den Schüler fortan in einen Modus der Selbst-Unterwerfung. Nur ist diese Unterwerfung des «Sich-selbst-steuern-Müssens» eben kein pädagogisches Handeln, kein Bildungsprozess, sondern ein technokratischer und technomorpher. Also müssen wir, wenn wir die Schule kritisieren wollen, nicht nur darauf abheben, wie die Verhältnisse zwischen Lehrern und Schülern balanciert sind, sondern auch wie die Handlungsmodelle sind, – ob sie tatsächlich menschlich und frei sind, oder nicht doch technokratisch.

Seinem Wortursprung zufolge bedeutet Schule übersetzt so viel wie Musse. Also die Zeit, die wir mit dem verbringen können, was unseren eigentlichen Neigungen entspringt, ohne dabei durch die Handlungszwecke anderer fremdbestimmt zu werden. Brauchen wir, damit dieser ursprüngliche Gedanke von Schule und Bildung gelingen kann, eine andere Form von Beziehung?

MB: Ja, und auch eine andere Beziehung zu Zeit. Wir haben eine ziemlich starke Aufgabenverdichtung. Diese ganzen Arbeitsblätter, die der Schüler erledigen muss – er ist ja nicht nur mit Lernen beschäftigt, sondern bekommt obendrein die Lernorganisation aufgedrückt. Eigentlich ist mit den modernen Pädagogiken eine Form der Grossraumbüro-Mentalität von Projekt und Aufgabe in unsere Schulen eingekehrt. Seither herrscht in ihnen ein grosser Beschleunigungs- wie auch Pragmatismusdruck. Alles muss funktional und nutzbar sein, wohingegen die Musse Dinge gedeihen lässt, ohne dabei diesen äusseren Handlungsdruck zu erzeugen. Nicht um untätig zu bleiben, sondern um danach handlungsfähig aus der Schule herauszukommen. Denn die Schule ist eigentlich eine Schutzzeit. Sie wurde errungen, so wie auch die Idee der Kindheit kulturell geboren wurde und nun verteidigt werden muss.

Ich höre oft, das Einzige, was den Kindern fehle, um erfolgreich zu lernen, sei die Begeisterung. Wenn das Konzept Schule jetzt aber nicht darauf ausgerichtet zu sein scheint, dem Kind zu einem erfolgreichen Lernprozess zu verhelfen, stellt sich mir die Frage: Wem oder was dient sie dann?

MB: Begeisterung finde ich wichtig, aber es ist nicht das Einzige, was zählt. Es bedarf auch des Fleisses, der Geduld, der Übung, des Gehorsams, des Sich-Einlassens auf sachliche Erfordernisse und äussere Anforderungen, die allerdings dann nur gerechtfertigt sind, wenn

Schule wiederum ihre Bedingungen erfüllt, sprich eine verantwortungsvolle, behütende Lehrerschaft oder eine Atmosphäre, die mich von Druck befreit. Dass das Lernen nicht immer nur mit Lust und Freude zu tun hat, da bin ich mir nicht ganz sicher. Jeder, der mal ein Musikinstrument gelernt hat, weiss, dass es da auch Durststrecken gibt, über die man hinweg muss, um dann bei der Begeisterung zu landen. Wenn man nur mit der Begeisterung spielt, dann kommt man nicht weit.

Aber wem dient die Schule? Das ist eine gute Frage. Der Idee nach sollte sie der Entfaltung des Menschen als Individuum, als Person und als Subjekt dienen. Natürlich ist sie auch ein Ort, an dem so was wie staatsbürgerliches Handeln oder staatsbürgerliches Denken entfaltet wird. Das finde ich übrigens auch legitim. Aber sie ist eben kein Ort der Indoktrination. Und momentan dient sie eigentlich der Zubereitung des Menschen für bestimmte Verwertungszusammenhänge, dann aber auch eine Ideologisierung für bestimmte politische Konstellationen und vielleicht auch einer Beraubung von Aufklärungsmöglichkeiten und einer Desillusionierung in Hinblick auf die eigenen Handlungsmöglichkeiten im politischen Raum.

Kritisches Denken braucht Fantasie. Und für Fantasie brauchen wir die Verbindung zu unserer eigenen Vorstellungskraft. Wohin steuern wir, wenn uns beides genommen wird?

MB: Die Schule ist für mich grundsätzlich schon ein Ort, an dem so etwas entfaltet werden kann. Ich selbst bin sehr gerne zur Schule gegangen. Ich habe einen grandiosen Philosophie- und Deutschunterricht genossen, an dem ich zu dem Denker, zu dem Schriftsteller geworden bin, der ich heute bin. Das verdanke ich meinen Lehrern, die haben mich mit ganz viel Frischluft versorgt. Und das, obwohl es eine katholische Schule war, mit durchaus strengen moralischen Regeln.

Trotzdem gibt es den Vorwurf, dass Schule per se zerstörerisch sei. Das ist ein Narrativ, das von bestimmten Schulreformern immer wieder angeführt wurde, um die Bindung zwischen Schüler und Lehrer zu kappen. Da gibt es ein schönes Beispiel aus dem Kunstunterricht. Dort gibt es die Meinung, Kinder müssten sich selbst entfalten dürfen, man dürfe ihnen keine Anleitung geben und ihre Fantasie müsse völlig blühen. Was rauskommt, ist dann meistens eher bescheiden. Es sei denn, jemand ist von sich aus sehr begabt oder Autodidakt … Ganz anders sieht es aus, wenn man die Schüler pädagogisch anleitet. Gibt man den Kindern eine Wahrnehmungsschulung, guckt man genau hin auf die Wirklichkeit. Und wenn man ihnen die Techniken des Darstellens sorgsam beibringt und die Imaginationsmöglichkeiten darlegt, also das ganze Spektrum künstlerischen Tuns, erweitert dies ihr eigenes Spektrum der fantastischen Produktion und schränkt es nicht ein. Damit sind die pädagogische Anleitung und die Freiheit und Fantasie des Kindes nicht von vornherein konträr, sondern können in einer Ermöglichungsbeziehung stehen. Gleichwohl gibt es ein Interesse daran, die Fantasie und die Einbildungskraft zu limitieren, weil die Einbildungskraft natürlich das Vermögen ist, sich etwas vorzustellen, was nicht – oder noch nicht – wirklich ist. Das bedeutet auch, sich im politischen Raum Alternativen zum Gegebenen vorstellen zu können – «es könnte anders sein, es könnte besser sein». Und wenn ich das nicht lerne, dann fehlt mir die Übung, mir auch eine Alternative zur Realität vorzustellen. Man könnte sich also schon vorstellen, dass die Macht grosses Interesse an einer Unterdrückung oder Kanalisierung der Einbildungskraft hat.

Wie wird Schule zu einem Ort, den man lieben kann?

MB: Indem die Menschlichkeit wieder einkehrt, die personale Beziehung. Die Sachlichkeit muss wieder einkehren und die Fächer wieder selbst als Ausgangspunkt der Faszination zur Geltung kommen dürfen. Dazu muss der Unterricht als das grosse Drama, das grosse Ereignis einer Sachklärung, durch die ich zur Person und zum Menschen werde, in den Mittelpunkt rücken. Das könnte einerseits weniger sein in Richtung Stress und Schulorganisation, es könnte aber mehr sein an Qualität, Zumutung oder Zutrauen. Ich halte eben auch sehr viel vom Leistungsprinzip. Denn Leistung heisst für mich, sich an etwas zu bewähren. Ähnlich Schusters Leisten verlangen uns auch die Aufgaben der Welt Leistungen ab, an denen wir uns zu bewähren haben. Die Schule ist hierbei eine Art Bewährungsort, an dem ich mich an etwas, aber auch für etwas bewähren kann. Und wenn ich mich bewährt habe, bekomme ich Anerkennung, die nicht nur aus dem Lob der anderen, sondern aus der Begegnung mit der Sache herrührt. Ich bin dann zufrieden mit dem Werk, das ich vollbracht habe.

Unsere Auffassung von Leistung hängt oft auch stark davon ab, welche Beziehungsqualität wir in der Hinsicht von unseren Eltern erfahren haben. Je nachdem nehme ich Leistungsanforderungen vielleicht nicht als Überforderung wahr, sondern als Vertrauen, das man mir entgegenbringt, weil man an mich glaubt.

MB: Exakt. Übrigens bin ich auch für die Autorität. Autorität im Sinne einer Verantwortung, die jemand übernimmt, mit dem Ziel, sich selbst überflüssig zu machen. Darum geht es. Es muss jemand sein, an dem ich mich orientieren kann. Und Autorität wird nicht durch ein autoritäres Verhalten gestiftet, sondern durch die Anerkennung derjenigen, die sich mir anvertrauen. Und wenn ich weiss, der Lehrer will nicht über mich als Untertan herrschen, der nutzt die Autorität nur, um mich gross zu machen – gibt es was Besseres? ♦

von Lilly Gebert

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Matthias Burchardt ist akademischer Rat am Institut für Bildungsphilosophie an der Universität zu Köln und stellvertretender Geschäftsführer der «Gesellschaft für Bildung und Wissen». Er ist entschiedener Kritiker der PISA- und Bologna-Bildungsreformen. Zuletzt erschien von ihm der Aufsatz «G8 als Baustein eines Reformputsches gegen die humanistische Bildungskultur» im Sammelband «weniger ist weniger: G8 und die Kollateralschäden».


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