Skip to main content

Monat: April 2023

Jeder Mensch hat nur zwei Leben

Was ist meine Aufgabe? Das ist eine sehr gute Frage, die sich wohl die meisten Menschen erst stellen, wenn sie in eine Krise geraten, einen Schicksalsschlag erlitten haben oder Nahtoderfahrungen überlebt haben. In meinem Fall habe ich mir diese Frage schon mit etwa sechs Jahren gestellt und die Antwort darauf erst weniger intellektuell, denn durch mein Handeln selber gegeben.

Mit sechs Jahren flog meine damalige Familie auseinander und ich erlebte ein jähes Ende meiner Kindheit. Mein Vertrauen in Eltern als Vorläufer von Institutionen oder dem Staat wurde bis ins Mark erschüttert. Seit dieser Zeit empfinde ich mich als Rebell und orientierte mich an Rebellen. Aber was sind Rebellen?

Für mich sind es Personen, denen es nicht gegeben ist, als Opportunist leben zu können. Rebellen müssen einfach dort den Mund aufmachen, wo Unrecht geschieht. Sie müssen sich einmischen, auch wenn das ihrer persönlichen Karriere wenig förderlich ist. «Meine» Rebellen verstehen Freiheit nicht dahingehend, dass sie tun können, was sie wollen, sondern dass sie nicht tun müssen, was sie nicht wollen. «Meine» Rebellen sind bereit, für ihre Ideale zu leiden. Einen Preis zu bezahlen. Sie sind bereit, für ihre Ideale zu sterben, aber nie darauf aus, ihre Ideale Dritten aufzuzwingen.

Meine Aufgabe ist es, die Menschen um mich herum daran zu erinnern, dass sie frei sind. Sie wurden frei geboren und haben das Recht, frei zu entscheiden. Ihr Massstab sollte ihr innerer Kompass sein, ihr Gewissen. Der Mensch weiss, was richtig und was falsch ist. Er spürt, wenn etwas gerecht oder im höchsten Masse ungerecht ist. Der Mensch lernt aber auch sehr schnell, dass zwischen Anspruch an sich und tatsächlichem Alltag oft ein himmelweiter Unterschied ist. Viele von uns fristen ihr Dasein als Opportunisten wider Willen. Sie wurden über den Angst-Hebel an eine zutiefst bigotte Gesellschaft angepasst und sind im Kern sehr unglücklich damit. Meine Aufgabe ist es, mich selber und damit andere zu erinnern, dass ein anderes, ein wahrhaftigeres Leben möglich ist. Ein Leben, bei dem jeder Tag der letzte sein kann, ohne dass man das Gefühl hätte, mein Leben hatte mit dem, was ich leben wollte, gar nichts zu tun. Ich habe am Leben vorbei gelebt.

Meine Aufgabe für mich besteht darin, mich immer wieder an «meine» Rebellen zu erinnern, ihren Mut, ihre Aktionen, ihre Berufung, ihre Spiritualität. Seit 1986 mit einem Presseausweis «bewaffnet», habe ich mich immer von Menschen, die mir imponierten, leiten lassen: Malcom X, Rosa Parks, Abie Nathan, Martin Luther King, Rudi Dutschke, Georges Gurdjieff, Jesus von Nazareth, Eugen Drewermann, Noam Chomsky, Howard Zinn, Daniel Ellsberg, Emma Goldman, Bruno Gröning, Bertold Brecht, Muhammad Ali, Sidney Poitier, Franz Jägerstätter, Khalil Gibran, Julian Assange Edward Snowden. Catweazle! Sie alle haben mein Tun, meine Art, das Leben zu hinterfragen und zu interpretieren, zu arbeiten, stark, um nicht zu sagen im Wesentlichen, geprägt. Bis heute.

Das Leben, so sehe ich es, kann nur dann als Erfüllung erlebt werden, wenn der Einzelne bereit ist, seinen eigenen Weg zu riskieren. Für eine höhere Sache. Eine Überzeugung. Ein Ideal. Sei du selbst, sonst ist es ein anderer. Aber finde vor allem heraus, wer du selbst bist!

Das ist meine Aufgabe, und die versuche ich zu erfüllen. Nicht, damit Dritte es bemerken und ich Follower generiere, sondern weil ich das Abkommen von diesem Pfad, meinem Weg, als verschwendetes Leben interpretiere.

Es gibt einen grossen Unterschied zwischen Haltungsjournalismus und Journalismus mit Haltung. Ich bevorzuge Letzteres und lehne Ersteren ab. Haltung bedeutet, sein Handwerk zu beherrschen, in meinem Fall die Sprache, sich aber nie zum Hofberichterstatter machen zu lassen. Ich mag es nicht, Teil einer Gruppe zu sein, wenn der Preis dafür darin besteht, seine Ideale wie Mode zu wechseln. Zeitgeist-Journalismus. Das führt zum politischen Klimawandel und der ist zu 100 Prozent menschengemacht.

Das Ergebnis erleben wir auf allen Ebenen. Pervertierte Demokratie. Eine Simulation von Demokratie, bei der ihre wichtigste Eigenschaft, Toleranz, als politisch nicht korrekt gilt, wenn das Gegenüber nicht zu 100 Prozent mit den persönlichen Überzeugungen übereinstimmt. Wir reden nur noch mit denen, mit denen wir einer Meinung sind und verlangen, dass alle anderen ausgegrenzt werden. Wer diese Entwicklung nicht mitträgt, wird bekämpft, diffamiert, isoliert. Immer mit dem Ziel, ihn in den ideologischen Gleichschritt zu zwingen. Meine Aufgabe ist es, mich diesem Gleichschritt zu widersetzen, und das tue ich. Seit ich sechs bin.

Der schöne und der wahre Grund? Der schöne, weil ich mir nichts gefallen lasse, nur um meine Ruhe zu haben oder weil ich zu schwach bin, mich aufzulehnen. Der wahre? Weil ich mir dieses Leben ausgesucht habe. Da hat sich nichts ergeben, das war so gewünscht. Es geht dem Menschen, auch wenn er es oft nicht verstehen kann, um eben jene Erfahrung, die ihn am meisten schmerzt. Ich kann diese Behauptung, mehr eine innere Beobachtung, nicht beweisen, und sie ist im juristischen Sinne, im Sinne von dem, was wir als gerecht empfinden, nicht zu erklären, ohne sich schnell um Kopf und Kragen zu reden, und dennoch spüre ich, dass diese meine Beobachtung eine tiefe Weisheit in sich trägt. Sie ist da. Aber nicht von mir. Ich habe sie für mich entdeckt, aber nicht erfunden.

Was möchte ich? Ich möchte nie vergessen, dass jeder Mensch nur zwei Leben habt. Das erste beginnt, wenn der Mensch erkennt, dass er nur ein Leben hat. Diese Erkenntnis wird von mir in regelmässigen Abständen vergessen. Wenn ich massiv attackiert werde, wenn ich mich übernommen habe, wenn ich zu lange auf dem Gas gestanden habe. Mein Aufgabe ist es, mich in Demut zu üben. Nie den Respekt zu verlieren. Nicht mal vor Leuten, die ich verachten «dürfte». Das ist schwer. Ich kenne Menschen, die mir helfen, mich immer wieder an meine Ideale zu erinnern. Dann justiere ich nach. ♦

von Kayvan Soufi-Siavash

***

Kayvan Soufi-Siavash ist seit 1986 Reporter, erst beim Privatradio, dann bei ZDF, ARD, Pro 7 und Deutsche Welle. Seit 2011 mit KenFM aktiv, aus dem 2021 apolut wurde. 2023 startet sein neues Solo-Projekt Soufisticated, in dem es weniger um Politik und mehr um die menschliche Begegnung gehen wird – um das, was das Leben wirklich ausmacht. Parallel arbeitet Kayvan am Apollo Campus, eine Stiftung, die vor allem wissenschaftliche Vorträge publizieren wird. Das wird spannend.


Hat dir der Artikel gefallen? Dann bestelle jetzt ein Abo in unserem Shop.

Deine Meinung ist uns wichtig: Teile dich mit und diskutiere im Chat mit unseren Lesern.

Macht, Moral, Mut

Das Streben nach der Erlösung von der Klimaschuld.

Es ist der Traum jeder Politik, die von Machtstreben und Gesinnungsmoral geleitet wird: ein absoluter, unhinterfragbarer Massstab, der praktisch jede Massnahme rechtfertigt. In Thomas Eisingers Roman «Hinter der Zukunft» wird diese Dystopie Wirklichkeit.

Unlösbar am Handgelenk eines jeden Bürgers fixierte «Smart-Watches» bemessen anhand jeder seiner Handlungen und jeder seiner Worte die Zuteilung seines individuellen CO₂-Lebensbudgets. Was unter dem Deckmantel «Der gute Helfer» die «richtige Haltung» fördern soll, korrumpiert innere Freiheiten und bricht ihre Sinnhaftigkeit auf ein einziges Ziel herunter: Klimagerechtigkeit.

Was aber passiert, wenn Ideale zu Mitteln verkommen und der anfängliche Wunsch, der Natur keinen weiteren Schaden zuzufügen, zwecks Kontrollausweitung totalitärer Ideologien missbraucht wird? Wenn weder als «grün» deklarierte «Schutzmassnahmen», noch das täglich gesprochene «pray for the planet» etwas anderem zugutekommen, als dem Glauben, Gutes zu tun?

«DIE FREIEN»: Lieber Herr Eisinger, in Ihrem Buch zeichnen Sie ein Regime, das in seinem Ausmass an Freiheitsberaubung und Überwachung George Orwells «1984» sehr nahekommt. Und dennoch verlautbart die durch diese unterdrückte Gesellschaft keinen Widerstand. Wie kann das sein?

Thomas Eisinger: Das ist tatsächlich der grosse Unterschied zu dem Szenario, das Orwell entworfen hat. In meinem Buch «Hinter der Zukunft» stehen die Menschen tatsächlich auf der Seite der Regierung, also sprich der Unterdrücker. Sie sind der Meinung, sich auf der Seite der höchsten Moral, also des absolut Guten, zu befinden und damit etwas Gutes zu tun, indem sie ihr Verhalten komplett verändern und an ihre Regeln anpassen.

Ist das die Gefahr moderner «Demokratien», dass wir ihnen keine eigenen Interessen mehr zuschreiben, sondern sie als moralisch einwandfreie Instanzen wahrnehmen?

TE: Gehen wir mal davon aus, dass wir existierende Demokratien haben … Es gibt natürlich dieses paternalistische Prinzip, das davon ausgeht, dass der Staat – was immer das sein mag – in Form seiner ganzen Institutionen besser weiss, was gut für uns, für den Einzelnen ist, als es die Menschen selbst wissen. Sobald aber ein Staat, der als abstraktes System wiederum aus nichts anderem besteht als Einzelpersonen, sich einbildet, der Einschätzung des Einzelnen überlegen zu sein, ist das die Abschaffung jeder individuellen Freiheit. Und ich glaube, darum geht es schlussendlich auch: Gerade der jüngeren Generation ist dieser Wert der Freiheit so nicht mehr bewusst. Sie kennen es nicht anders. Sie sind in einer Welt aufgewachsen, wo es zu jeder Frage immer nur eine alternativlose Antwort gibt. Es gab ja zu keinem grossen Ereignis ernsthaft geführte Diskussionen – egal ob 9/11, die Migrationskrise, Klimawandel oder jetzt Corona. …

von Lilly Gebert


Du möchtest den ganzen Artikel lesen? Dann bestelle jetzt die 06. Ausgabe oder gleich ein Abo in unserem Shop.

Deine Meinung ist uns wichtig: Teile dich mit und diskutiere im Chat mit unseren Lesern.

Die Kritik und ich

«Also, ich drücke jetzt den Knopf, dann geht der Artikel online. Bist du sicher, dass ich drücken soll?» Prisca wusste, was uns bevorstand, schon bevor sie unseren Artikel «Das Najadi-Phänomen» online stellte.

Rückblende. Im April 2021 sass ich bei Telebasel Claude Bühler gegenüber und entblösste seine unverschämte Diffamierung der Bürgerrechtsbewegung. Die Reaktionen hätten nicht unterschiedlicher ausfallen können. Respektlosigkeit und schlechter Stil wurden mir auf der einen Seite vorgeworfen, während ich auf der anderen Seite auf Kundgebungen um Selfies gebeten wurde. Ich fand beides übertrieben. Ich sah mich eher wie das von Paulo Coelho beschriebene «Werkzeug», wie jemand, der einfach die Wahrheit sucht und sich dafür weder zu brüsten, noch zu schämen braucht.

Weitere öffentliche Auftritte folgten: «Tagesschau», «10 vor 10», «Arena», «Club». Das Muster der Reaktionen blieb dasselbe und reichte von handfesten Morddrohungen («21 Kugeln in den Kopf») bis hin zu glühender Verehrung («Wir brauchen 7 Bubendorfs im Bundesrat»). Ich misstraute dem kleinen bisschen Ruhm, der mir eine Zeit lang zuflog, doch streichelte es auch mein Ego, und ich gebe zu, dass ich das auch genoss. Gleichzeitig setzte mir die heftige Kritik zu. Es war ein Wechselbad der Gefühle. Ich wusste, dass weder Verehrung noch Verdammung berechtigt waren und lernte, auf der Achterbahn der Gefühle weniger mitzufahren. Denn wer mit hochfährt, muss auch wieder runterrasen. Die Flughöhe entspricht immer der Fallhöhe. Ich entschied, meinen Weg unbeirrt von Kritik oder Zustimmung zu gehen und der Wahrheit treu zu bleiben – was schwieriger ist, als es sich anhört. Ich befreite mich, so gut ich konnte, vom Urteil anderer.

Die Heftigkeit der Reaktionen erkläre ich mir damit, dass ich einerseits Führungspersonen attackierte und andererseits dadurch selbst zu einer wurde. Viele empfanden Alain Berset und den restlichen Pandemieapparat als Autoritäten, fast schon als Vaterfiguren. Das war kein Zufall und wurde medial befeuert. Viele Menschen reagierten auf meine Kritik am Gesundheitsminister so, als hätte ich ihre Eltern angegriffen. Interessant war, dass ich fast gar keine inhaltliche Kritik erhielt. Kaum ein Tadel bezog sich auf die von mir präsentierten Fakten, auf die Studien, die ich zitierte oder auf die Beweise, die ich dafür vorbrachte, dass die Pandemieautoritäten brandschwarz gelogen haben. Es ging fast immer nur um Befindlichkeiten: Wer ich denn sei, einen Bundesrat zu kritisieren, woher ich mir als Unternehmer das Recht nehme, einen Professor zu kritisieren, und dass Bundesrat und Task Force es doch gut meinen, auch wenn sie mal falschliegen.

Knapp zwei Jahre später drückte Prisca den Knopf, und der Artikel «Das Najadi-Phänomen» war im Feld, wurde geteilt und geklickt wie noch keiner unserer rund 150 zuvor veröffentlichten Artikel. Wir hatten einen Nerv getroffen. Und die erwarteten Reaktionen folgten auf dem Fuss: «Was wollt ihr mit diesem Artikel erreichen?» «Und ihr nennt euch frei?» «Unglaublich». «Schockierend». «Herablassend». «Diffamierung.» Und sogar: «Hetze».

Und auch hier wieder die Gegenseite: «Ihr habt den Nagel auf den Kopf getroffen.» «Vielen Dank für euren Mut und euer Engagement.» «Wofür ihr Kritik bekommt, ist mir ein Rätsel.» «Ihr macht es genau richtig.» «Danke für eure Auffassung von Journalismus.» «Ihr seid zurzeit die Einzigen, die echten Journalismus betreiben und menschlich und fair bleiben. Danke.» Daniel Stricker und Marco Caimi bezogen öffentlich Stellung für unsere Arbeit und zogen beide den Vorwurf des «Rampenneids» auf sich. Mehrere Vorstandsmitglieder von Aletheia bedankten sich persönlich bei uns für den Artikel, während im Verein, der nach der Göttin der Wahrheit benannt ist, ein verblüffend heftig geführtes Wortgefecht über Nebenschauplätze unserer Enthüllungen tobte.

«Bereite dich auf den Sturm vor», schrieb ich Prisca am Morgen vor der Veröffentlichung. Und doch überraschte mich die Heftigkeit der Kritik und auch die Menge an Voten, die uns kritisierte. Es dauerte einen Moment, bis wir realisierten, dass es eine Handvoll User waren, die die Telegram-Chats fluteten und jeden positiven Kommentar auf unsere Recherche niederschrien. Irgendwann griff Prisca entnervt zum Handy, schrieb den gehässigsten User an, der sich hinter dem Pseudonym «David» versteckt, und forderte ein Gespräch. Doch der Mann, der hinter der Tastatur so mutig austeilt, scheute das Telefongespräch mit Prisca, lehnte ab und zündelte online weiter. Das ging so weit, dass sich Leser aus den Chats verabschiedeten. Ein Abonnent, der sich herzlich für unseren Text bedankte, erklärte seinen Rückzug aus den Chats mit den «vielen primitiven Kommentaren, die haben mich richtig schockiert». Ist das dieselbe Bewegung, die drei Jahre pausenlos den Untergang der Debattenkultur beklagte?

Aus anderen Gründen war auch ich schockiert: Weil die Reaktionen auf unsere Kritik an Pascal Najadi eine perfekte Kopie jener Reaktionen war, die auf meine Kritik an Alain Berset eingingen. Wieder machte sich niemand die Mühe, auf unsere Argumente einzugehen. Nicht einmal Herr Najadi selbst greift in seiner von uns veröffentlichten Gegendarstellung unsere konkrete Kritik auf, er verliert sich stattdessen in Beanstandungen über unseren Schreibstil und in argumentfreien Anschuldigungen. Für die Beweise, die wir für Herrn Najadis Lügen vorlegten, interessierten sich weder deren Absender noch seine Unterstützer. Auch dass Herr Najadi als «ehrenwerter Richter» ein bizarres «Tribunal» veranstaltete und verbreitete, dass Xi Jinping und Klaus Schwab aufgrund seines Urteilsspruchs verhaftet würden, schmälert die Begeisterung mancher Najadi-Befürworter in keiner Weise. Stattdessen drehten sich ihre Argumente um die «Tonalität» unseres Artikels, wobei nie konkretisiert wurde, welche unserer Formulierungen unanständig seien. Ich kann bis heute keine finden – dank Prisca war der Text zurückhaltend und höflich formuliert. Auch wurde uns erklärt, dass Herr Najadi Menschen erreiche, die sich ausserhalb der Bubble aufhalten. Zwar werden für diese Behauptung keinerlei Beweise vorgelegt, aber der angebliche Ausbruch aus der Blase genügt vielen Bürgerrechtlern als Rechtfertigung für Lügen und Täuschungen.

Und immer wieder: der Vorwurf der Spaltung. Jede kritische Auseinandersetzung innerhalb der Bewegung wird als spaltend gesehen. Das ist offensichtlicher Unsinn. Konflikte sind nährend und reinigend für die Gesundheit jeder Gemeinschaft, das zeigt auch ein Blick in die Geschichtsbücher: Wo wäre die Bürgerrechtsbewegung der Afroamerikaner hingekommen ohne den Konflikt, den ihre so gegensätzlichen Identitätsfiguren Martin Luther King und Malcolm X öffentlich austrugen? So viel Dissonanz muss aushalten können, wer der globalen Machtelite Paroli bieten will.

Dass auch wir Neojournalisten noch eine viel dickere Haut brauchen, zeigen uns die Geschichten von Journalisten, denen wir bedeutende Enthüllungen verdanken. Als Dan McCrum den Wirecard-Skandal aufdeckte, geriet er während seiner Recherchen unter massiven Druck seines Arbeitgebers, der Financial Times. Politiker setzten ihr Netzwerk in Bewegung, um McCrum von seiner Arbeit abzuhalten, ja selbst professionelle Schläger wurden auf den Journalisten angesetzt, um ihn zu bedrohen. McCrum blieb unbeirrt, zerrte die Wahrheit ans Licht und brachte das Lügengebäude von Wirecard zum Einsturz. Erst seit sich die Wahrheit über den Finanzdienstleister auf breiter Front durchsetzte, wird McCrum gefeiert. Bis dahin fand er sich in einem regelrechten Sturm der Kritik. Weniger Glück hatte Gary Webb, der die Verbindungen zwischen Drogenkartellen und der CIA aufdeckte. Er beging angeblich «Suizid», indem er sich zweimal (!) in den Kopf schoss. Ich möchte unsere Najadi-Geschichte nicht mit den wichtigen Enthüllungen dieser grossen Journalisten vergleichen, sondern von ihnen lernen, dass kritischer Journalismus entgegen der allgemeinen Wahrnehmung anfänglich selten auf Begeisterung stösst und immer Kritik auslöst.

Fundierte Kritik an unserer Arbeit über Pascal Najadi nehmen wir an, wir wachsen daran. So war das Videointerview wirklich schlecht. Es war ein Fehler. Najadi entschied sich während des Gesprächs für eine Videoaufzeichnung; das war vorher nicht vereinbart. Wir hatten die Chance, das zu verhindern, wir hätten ganz einfach auf unserer Abmachung beharren können. Ich hatte alle meine Fragen bereits gestellt und fand es seltsam, ein zweites Interview für die Öffentlichkeit anzuhängen. Prisca und ich agieren im Video gekünstelt, unauthentisch, schwach. Es ist mir ein Rätsel, weshalb zwei Starrköpfe wie wir nicht die Kraft und den Mut aufbrachten, Herrn Najadi für die Aufzeichnung eine Absage zu erteilen. Nun, wir sind neu im Geschäft, gestehen uns Fehler zu und lernen daraus. Wichtig ist uns, dass wir bei der Wahrheit bleiben, und das ist uns gelungen; keine einzige unserer Aussagen konnte widerlegt werden.

Lügen und Täuschungen können nicht zu Freiheit führen, im Gegenteil werden sie den Weg zur Freiheit verlängern und erschweren. Wer mich dafür beglückwünscht, dass ich Bersets Lügen offengelegt habe, mich aber verdammt, wenn ich dasselbe bei Herrn Najadi tue, dem werfe ich inkonsistentes Denken vor. Und was nicht konsistent ist, ist sinnlos und ein Betrug. Das sagte Samuel Edward Konkin III., der folgerte: «Inkonsistenz aufzuzeigen ist die wichtigste Aufgabe des libertären Denkers.» Genau das werde ich weiterhin tun. Völlig unabhängig davon, wer der Absender von Lügen und Täuschungen ist. Und auch unabhängig davon, wie viele Menschen mir auf diesem Weg folgen.

Wir würden Abonnenten und Follower verlieren, wurde uns in den letzten Tagen oft prophezeit. Geschehen ist das Gegenteil. Doch darum geht es nicht. Denn wir brauchen niemanden, der uns folgt, solange wir der Wahrheit folgen. ♦

von Michael Bubendorf


Hat dir der Artikel gefallen? Dann bestelle jetzt ein Abo in unserem Shop.

Deine Meinung ist uns wichtig: Teile dich mit und diskutiere im Chat mit unseren Lesern.

Kinderschutzinitiative im Kanton Zürich auf der Zielgerade

Die Kinderschutzinitiative wurde im Oktober 2022 durch eine Reihe von Organisationen und Einzelpersonen lanciert. Die Sammelfrist geht nun dem Ende entgegen. Am 4. Mai wollen die Initianten die gesammelten Unterschriften einreichen.

6000 gültige Unterschriften sind gefordert, damit die Initiative dem Zürcher Stimmvolk zur Abstimmung vorgelegt werden kann. Bis Ende März sind knapp 5000 Unterschriften gesammelt worden. Nun geht es in den Endspurt.

Anders als anfänglich angenommen, zeigte sich bald, dass Kinder selbst nur ein äusserst geringes Risiko hatten, an Corona schwer zu erkranken und dass sie auch für ihr Umfeld keine Pandemietreiber waren. Damit stellte sich bald die Frage nach der Sinnhaftigkeit der C-Massnahmen für Kinder an den Schulen.

Zugleich zeigte sich schon früh, wie stark die Kinder unter den Folgen der C- Massnahmen, wie Lockdowns an Schulen, Distanz- und Maskenregeln und regelmässigen Testen litten. Viele Kinder reagierten mit psychischen Auffälligkeiten bis hin zu Suizidgedanken und benötigen nun Unterstützung und Therapien, um die Folgen der Massnahmen zu überwinden.

Verzweifelte Eltern, die sich für ihre Kinder wehren wollten, wurden vielerorts von den Behörden abgewiesen. So mussten die Eltern mitansehen, wie ihre Kinder Massnahmen ausgesetzt waren, welche sie als sinnlos oder sogar schädlich empfanden.

Diese erschreckende Erfahrung war der Anlass für die schweizweiten, kantonalen Kinderschutzinitiativen. Das in der Verfassung verankerte Recht der Eltern, selbst über gesundheitliche Massnahmen für ihre Kinder entscheiden zu dürfen, wurde durch das Covid-19-Gesetz aufgehoben. Die Initiative will nun dieses Recht der Eltern stärken und im Volksschulgesetz verankern. Dadurch soll sichergestellt werden, dass die Eltern künftig auch in Krisenzeiten über Gesundheitsmassnahmen für ihre Kinder selbst entscheiden können.

Das Initiativkomitee strebt zudem eine ordentliche Aufarbeitung der C-Massnahmen an Volksschulen an. Aus Fehlern sollte man lernen. Gesunde Kinder sind keine Gefahr, sondern die Zukunft der Menschheit!


Jede Unterschrift zählt: kinderschutzinitiative-zh.ch

vom Initiativkomitee der Zürcher Kinderschutzinitiative


Hat dir der Artikel gefallen? Dann bestelle jetzt ein Abo in unserem Shop.

Deine Meinung ist uns wichtig: Teile dich mit und diskutiere im Chat mit unseren Lesern.

Briefwechsel mit Norbert Häring

Betreff: Bankencrash und mehr

Lieber Herr Häring

Wer aufgeklärt ist weiss, dass das herrschende Geldsystem eine gewaltige Lebenslüge ist, in dem Krisen vorprogrammiert sind; es ist eine Traumwelt, basierend auf Pump, die bisher nur funktioniert hat, weil genügend Menschen daran geglaubt haben. Unser Bankensystem basiert auf unbezahlbaren Schulden und überbewerteten Sicherheiten. Der Zusammenbruch kann nur durch ständiges Wachstum und Aufweichen der Regeln abgewendet werden. Das Wachstum ist mittlerweile zu Ende, das Vertrauen schwindet unaufhaltsam – also werden nun fleissig Regeln aufgeweicht, wodurch das allgemeine Vertrauen noch mehr erodiert. Es ist ein Teufelskreis – und eine moralische und ökonomische Abwärtsspirale, der die Mächtigen eine immer stärkere Bevölkerungskontrolle entgegenhalten, um einem Aufstand der betrogenen Arbeitssklaven zuvorzukommen.

Der Absturz der Repo-Märkte im Herbst 2019 war ein klares Warnsignal – das mittels Virenalarm effektiv übertönt wurde. Sie waren einer der wenigen Wirtschaftsjournalisten, die den Braten sofort rochen und kein Blatt vor den Mund nahmen: «Vielleicht befindet sich der von den Notenbanken befeuerte Finanzmarktboom in der Endphase vor dem Zusammenbruch.» Offensichtlich, dass Corona der Startschuss für die orchestrierte Zerschlagung der für die Machtelite obsolet gewordenen politischen und ökonomischen Strukturen war.

Nun ist die Credit Suisse in einer Nacht-und-Nebel-Aktion an die UBS verscherbelt worden. Dieser Banken-Thriller passt für mich bestens zum Great-Reset-Drehbuch: Denn obwohl sich die CS im Ausland durchaus verspekuliert hat, scheint sie eigenkapitalmässig sehr gut aufgestellt gewesen zu sein. Ihr Schweizer Geschäft sei eine «gewaltige Perle», meint etwa Roger Köppel, die CS war durchaus «keine kranke Bank», sondern vielmehr «in einen Vertrauensverlust hineingerutscht». Diese Vertrauenskrise wurde geradezu befeuert – und das stinkt für mich (wieder einmal) nach Verschwörung.

Da aufgrund der «dramatischen Ausgangslage schnelles Handeln zwingend erforderlich war, hat der Bundesrat die Mitbestimmungsrechte beschnitten», schreibt der Mainstream. Die Regierung gerät in Panik, wendet Notrecht an und enteignet Aktionäre. Das kennen wir doch aus der «Pandemie»: Auf Tohuwabohu und «ungewisse Situation» folgen Rechtsbrüche und Hau-Ruck-Aktionen über die Köpfe der Bürger hinweg. Und wieder der Würgegriff aus dem Ausland: Laut Financial Times habe die schweizerische Finanzministerin in enger Absprache und «unter extremem Druck» der USA gehandelt. Als Option sei auch die Übernahme der CS durch BlackRock, den grössten Vermögensverwalter der Welt, im Raum gestanden.

Von wegen Vertrauen: Die Märkte werden ja gerade von diesen Vermögensverwaltern beherrscht, Nachrichtenagenturen und Massenmedien stehen unter ihrer Kontrolle. Es ist für sie ein Leichtes, auch eine relativ solide Bank in den Abgrund zu treiben: durch den koordinierten Abzug von Geldern, den Verkauf von Aktien, die Manipulation der öffentlichen Meinung mit Negativmeldungen. Effektive Rochaden auf dem Schachbrett des Great Reset.

Da frage ich mich eigentlich nur noch: Wo ist der am wenigsten unsichere Ort für unser Fiatgeld? Wie können wir, die einfachen Bürger, uns vor dem Finanzdesaster schützen? Was meinen Sie als Fachmann für Geld und mehr?

Mit besten Grüssen

Christian Schmid Rodriguez

*

Betreff: AW: Bankencrash und mehr

Lieber Herr Schmid Rodriguez

Das «vielleicht», das ich damals vor «der Finanzmarktboom in seiner Endphase» gesetzt hatte, kann man jetzt wegnehmen. Darin sehe ich auch den Grund für den «massiven Druck» aus den USA, wenn es diesen gegeben hat. Die US-Banken sind extrem anfällig. Hätte man die Megabank Credit Suisse bankrottgehen lassen, hätte es wohl wieder eine Kettenreaktion von Kreditausfällen bei Kreditderivaten gegeben, wie nach der Lehman-Pleite. Halter der Papiere – in der Regel andere Finanzinstitute – erleiden Verluste, geraten ihrerseits in Schieflage, was wiederum die von ihnen begebenen Derivate im Besitz wieder anderer Finanzinstitute notleidend macht.

Aus diesem Grund glaube ich nicht, dass eine Verschwörung die CS in die Pleite getrieben hat. Das haben die wohl alleine hinbekommen. Auch den Grossen Neustart muss man dafür nicht bemühen. Ich kann mit dem Great Reset des Weltwirtschaftsforums nicht viel anfangen. Er besteht eigentlich nur aus Worthülsen. Ich vermute, er hat die Funktion, der Konzernlobby zu erlauben, sich an die Spitze jeder Reformbewegung stellen und deren Agenda im Sinne der Grosskonzerne manipulieren zu können.

Die Strategie, die derzeit befolgt wird, läuft darauf hinaus, die Blase an den Finanzmärkten durch jahrelange hohe Inflation zu entlüften, um so ein Platzen zu vermeiden. Die aktuelle Episode zeigt, dass das alles andere als leicht ist.

Andererseits zeigt sie auch, wie viele Asse Notenbanken im Ärmel haben, die nach Belieben Geld produzieren und den Banken schenken können, um den Crash zu vermeiden oder wenigstens hinauszuschieben.

Wir sollten das unbedingt als Lehre mitnehmen. Geld ist immer genug da. Es kommt nur darauf an, wofür es bereitgestellt wird. Das System ist so gestaltet, und die Interessenlage der Entscheidungsträger ist so, dass immer genug da ist, wenn das Kapital Unterstützung braucht, aber nie für teure Anliegen der normalen Menschen. Diese Ausrede sollten wir einfach nie mehr akzeptieren.

Es ist alles andere als leicht, Anlagemöglichkeiten zu finden, um sein Geld vor der Inflation und der Crashgefahr in Sicherheit zu bringen. Edelmetalle sind immer eine Option, aber sie sind eben auch eine Umweltsauerei, weshalb ich sie nicht mehr kaufe und nicht empfehle.

Eine Alternative sind Vermögenswerte, die von der Finanzmarktblase noch nicht voll erfasst worden sind. Dazu gehören Häuser und Land in C-Lagen in Deutschland und vor allem in weniger entwickelten Ländern. Aber die Risiken und der Aufwand dafür sind beträchtlich.

Wer einen langen Anlagehorizont hat und sein Geld in den nächsten vielleicht 10 oder 20 Jahren nicht braucht, der kann wohl auch Aktien kaufen, beziehungsweise sie durch den möglichen Crash hindurch halten. Aber es gibt auch Gegenbeispiele wie japanische Aktien. Selbst wenn man die gekauft hat, nachdem sie nach 1990 schon die Hälfte ihres Spitzenwertes verloren hatten, war das noch ein schlechtes Geschäft.

Aber wichtiger als der Versuch, die eigenen finanziellen Schäfchen ins Trockene zu bekommen, finde ich es, gemeinsam dagegen aufzustehen, dass die Regierenden ein Zensurregime errichten und die Grundrechte aushöhlen und der technokratischen «Elite» dabei helfen, die Bevölkerung mit immer neuen Kontroll- und Überwachungsinstrumenten zu überziehen, um sie einerseits finanziell auszubeuten und andererseits Aufbegehren im Keim ersticken zu können.

Viele Grüsse

Norbert Häring ♦


Hat dir der Artikel gefallen? Dann bestelle jetzt ein Abo in unserem Shop.

Deine Meinung ist uns wichtig: Teile dich mit und diskutiere im Chat mit unseren Lesern.

Berset zu beschäftigt für die «Arena»

Am 16. Dezember 2022 hat das Parlament das Covid-Gesetz zum wiederholten Male als «dringlich» erklärt und damit demokratische Prozesse unterlaufen. Das ewig-dringliche Gesetz hat seinen Ursprung in den Notverordnungen zur Bekämpfung der «Corona-Pandemie».

Angesichts so viel dringlicher Not handelt es sich bei der Verlängerung des Covid-Gesetzes sicherlich um eine Angelegenheit allerhöchster Priorität. Da erstaunt es, dass der zuständige Bundesrat Alain Berset keine Zeit findet, an der «Abstimmungs-Arena» zum dringlichen Notgesetz teilzunehmen. Der Redaktion von «DIE FREIEN» liegt Korrespondenz vom SRF vor, wonach Herr Berset «aus terminlichen Gründen leider nicht an der Sendung teilnehmen kann».

Aus dem Schreiben geht nicht hervor, an wen der Chef des zuständigen Bundesamtes die mittlerweile dritte Verteidigung des dringlichen Gesetzes delegiert. Ebenfalls ist nicht bekannt, welche Verpflichtungen den Bundespräsidenten von der Verteidigung des dauerdringlichen Notgesetzes abhalten. Ob Ministertreffen in Brüssel oder private Angelegenheiten im Schwarzwald – dass er sich den Argumenten der Gegner dieses Gesetzes nicht noch einmal stellen muss, kommt Herrn Berset sicherlich entgegen.

Die Aufzeichnung der «Abstimmungs-Arena» zum Covid-Gesetz erfolgt am 17. Mai im berüchtigten Zwangsgebühren-Fernsehstudio Leutschenbach. Wer auf ein Zusammentreffen der beiden Titanen der Corona-Zeit hoffte, wird also enttäuscht: Bundespräsident Berset und MASS-VOLL-Präsident Nicolas A. Rimoldi werden in der «Arena», die am 19. Mai um 22:25 auf SRF 1 ausgestrahlt wird, nicht aufeinandertreffen. ♦

von Michael Bubendorf


Hat dir der Artikel gefallen? Dann bestelle jetzt ein Abo in unserem Shop.

Deine Meinung ist uns wichtig: Teile dich mit und diskutiere im Chat mit unseren Lesern.

Lenken und gelenkt werden – wie wir uns unsere Urteilskraft bewahren

Interview mit Michael Esfeld

Inmitten von Machtkonzentration, Manipulation und Medienkorruption – welche Möglichkeiten bleiben dem Einzelnen, sich eigenständig sein Urteil zu bilden? Und worin begründet sich eigentlich Evidenz? Lilly Gebert und Michael Bubendorf sprachen mit dem Wissenschaftsphilosophen Michael Esfeld über die Freiheit, sich jedweder Propaganda zu entziehen und über die Pflicht, skeptisch zu bleiben.

«DIE FREIEN»: Lieber Michael, im Interview mit Gunnar Kaiser hast du gesagt: «Es ist ja ganz leicht zu zeigen, dass alle wissenschaftlichen Standards über Bord geworfen wurden. Das betrifft nicht nur die Universitäten, sondern die ganze Gesellschaft.» Wenn es so leicht ist: Warum hat es dann trotzdem funktioniert, die Leute anhand offensichtlich falscher Darlegungen in die Irre zu führen?

Michael Esfeld: Weil noch zu viel Autoritätsgläubigkeit da ist. Man hat halt geglaubt, dass wenn ein Wissenschaftler oder eine Wissenschaftlerin etwas sagt, dass das dann auch so ist – das habe ich auch geglaubt. Also bei dem Klimazeugs war ich vorher auch schon skeptisch – es hat mich nicht gross aufgeregt, aber es ist halt politisch. Aber ansonsten geht man eigentlich davon aus, dass eine wissenschaftliche Aussage stimmt. Das ist auch klar, dass wir Experten brauchen. Man muss ja Experten haben, weil man nicht alles selbst prüfen kann, und das hat ja im technischen Bereich durchaus seinen Sinn. Und man würde normalerweise annehmen, dass man denen auch bei grösseren Themen wie Gesundheit und Epidemien vertrauen kann.

Aber es wurde nur einer Seite vertraut.

ME: Ja, natürlich. Man hat dann ganz schnell gemerkt, dass da was nicht stimmt. In dem Moment, wo externe Einflüsse ins Spiel kommen – finanzielle oder ideologische –, ist klar: Man kann dem nicht mehr vertrauen. Und jetzt sind wir bei der Urteilskraft: Es ist klar, dass man auch selbst immer die grösseren Zusammenhänge, also die intellektuelle oder mentale Landkarte braucht, um Sachen einordnen zu können. Und die hat halt vollkommen gefehlt.

Du hast in deinem Buch «Und die Freiheit?» auch mehrfach die «Great Barrington Declaration» erwähnt. Eine wichtige Initiative von Wissenschaftlern, die zwar auch Fehler beinhaltet, aber immerhin: Da waren sehr viele Wissenschaftler, die gesagt haben, dass das alles so nicht stimmt.

ME: Der Punkt ist ja nicht, dass viele, sondern dass qualitativ hochstehende Leute sich gegen die Lockdown-Strategien ausgesprochen haben. Man weiss einfach aus der Wissenschaftsgeschichte, dass es kein innerwissenschaftlicher Prozess sein kann, wenn plötzlich über Nacht ein Strategiewechsel stattfindet –, denn der dauert. Andernfalls kann es nur durch nicht wissenschaftlichen, also politischen, sprich finanziellen Druck und Gehirnwäsche oder sonst irgendwas erklärt werden. Wenn es bisher in der Wissenschaft die Meinung war, X zu tun, und jetzt soll man Y statt X tun, dann müssen natürlich die, die immer der Meinung waren, dass X zu tun ist, erst einmal durch Argumente und Evidenz überzeugt werden. Und das dauert. An der Reaktion hat man sofort gesehen, dass das Fake ist und nicht Wissenschaft. Selbst wenn es richtig gewesen sein sollte, hätte es nicht über Nacht geschehen können.

Hannah Arendt bezeichnete das Urteilen als blosse Vorbereitung für das Wollen: Was also wird hier manipuliert? Unser Wille oder unsere Urteilskraft?

ME: Unsere Urteilskraft. Urteilskraft heisst ja zunächst mal, dass man Dinge ins Verhältnis einordnet, also dass man guckt, was jetzt jeweils einer Sache angemessen ist. Beispielsweise: Es kommt ein neues Virus. Jetzt kann der Wissenschaftler Modelle ausrechnen, wonach sich niemand mehr ansteckt, wenn die Leute zu Hause bleiben. Das ist irgendwie trivial. Dafür brauche ich keinen Wissenschaftler. Und dann wird es umgesetzt. Die Urteilskraft sagt jetzt aber: Wenn Leute zu Hause bleiben, dann schaden sie erstens ihrem Immunsystem, zweitens geht es ihnen irgendwie schlecht, wenn sie keine sozialen Kontakte mehr haben, und drittens gibt es ganz schnell Konflikte, wenn Menschen in einer kleinen Wohnung zusammen eingesperrt werden. Also Urteilskraft wäre jetzt, das ins Verhältnis zu setzen, damit es der Sache angemessen ist. Dafür brauchen wir keinen Wissenschaftler.

Aber all das lässt sich zurückführen auf unser fehlendes Evidenzvermögen: Wir haben keinen Bezug mehr zu unserer eigenen Realität. Kant hat ja die Urteilskraft als das vermittelnde – oder in seinen Worten versöhnende – Element zwischen Natur und unserer Freiheit bezeichnet. Sie verbindet die sinnliche und die moralische Welt, und ihr Gebrauch kennzeichnet sich hierbei dadurch aus, dass man das Besondere im Allgemeinen erkennen kann. Also unsere Abstraktionsfähigkeit in gewisser Weise. Er nennt das Erweiterung des Geistes. Ist es insofern unser Mangel an Abstraktionsvermögen, der unsere Urteilskraft einschränkt?

ME: Natürlich, das Urteilen steht vor dem Handeln: Bevor ich etwas tue, muss ich die Konsequenzen einschätzen können und ich kann nicht einfach einem Algorithmus folgen. Wenn es keine sozialen Kontakte mehr gibt, dann infiziert sich auch keiner. Die Aussage ist trivial, aber jetzt zu beurteilen, zu gewichten, was die Folgen sind, wenn es keine sozialen Kontakte mehr gibt – das ist Urteilskraft.

Wenn aber die Realität, oder das, was in der Realität eintreffen könnte, uns von «Experten» in der Form vermittelt wird, dass es von seiner Komplexität her den Horizont unserer Urteilskraft übersteigt: Sind wir dann angewiesen auf Gehorsamkeit, die Abgabe von Verantwortung und das Auslagern von Entscheidungen über unser Handeln?

ME: Das ist der platonische Fehler: Es gibt keine Experten fürs Handeln. Es gibt nur Experten für technische Fragen. Das platonische Wissen um das allgemein Gute, das kann die heutige moderne Wissenschaft prinzipiell nicht vermitteln, weil sie objektiv ist. Sie ist keine Religion. Sie kann keine Wissenschaft der Werte sein, nur eine Wissenschaft der Tatsachen. Aber das ist falsch – natürlich kann jeder selbst Gefahren beurteilen, und auch bei Viren sind die Gefahren unmittelbar: Man sieht nur Bilder von angeblichen Toten durch das Virus und kann nicht überprüfen, woran die Leute wirklich gestorben sind –, aber in der Nachbarschaft nimmt man nichts davon wahr. Nehmen wir an, jetzt kommt eine Virenwelle, von der man wirklich nicht wüsste, wie gefährlich sie ist, und lassen die Sache laufen. Dann wären einige Personen vorsichtig, und alles Weitere regelt sich ganz schnell von unten durch die Evidenz. Deshalb ist es wichtig, dass das jeder selbst beurteilen kann – Laissez-faire –, denn dann werden verschiedene Strategien ausprobiert.

Aber das ist ja eine der grossen Umkehrungen, die stattgefunden hat. Du sagst, jeder kann Gefahren selbst beurteilen, aber viele Leute sagten nach der ganzen Propaganda: Du stellst eine Gefahr für mich dar und deshalb braucht es Gesetze und Regeln, die dein Verhalten einschränken. Wie konnte das funktionieren?

ME: Indem man so eine Art Story daraus gemacht hat: Modelle haben in der Wissenschaft ja einen Sinn, sie geben mögliche Szenarien an, aber ein Modell ist keine Repräsentation von Wirklichkeit und auch keine Voraussage. Und jetzt ist es leider so, dass in den letzten Jahrzehnten die Modelle gegenüber der Evidenz zugenommen haben, weil man Computer hat und alles Mögliche schön ausrechnen kann. Ob das irgendeinen Sinn macht, ist eine andere Frage. Der Sinn liegt vielleicht darin, Möglichkeiten aufzuzeigen.

Hannah Arendt sagte, dass man die Wahrheit nur erkennen könne bei dem, was aussersinnlich ist – also in der Welt, die nicht von Reizen überfüllt ist. Aber wir leben eben in einer reizüberfluteten Welt. Wie bewahren Sie sich darin Ihre Urteilskraft?

ME: Na ja, also man kann das nur aufgrund von Daten. Und da müssen wir einfach herauszufinden versuchen, was für Daten wir haben.

Also stützen Sie sich trotzdem auf Daten?

ME: Ja, natürlich.

Und was ist mit Bauchgefühl oder Intuition?

ME: Da würde ich jetzt sagen: Nein. Ich möchte Evidenz sehen, weil Bauchgefühl ist ja ganz verschieden.

Aber woher wissen Sie, welche Urteile Ihrer eigenen Denke entspringen und welche vielleicht von Fremdeinflüssen vorbestimmt wurden?

ME: Es gibt eine Grundlage von Daten, wenn wir jetzt hier über empirische Dinge wie Viren oder so etwas reden.

Ja, aber da haben wir ja gerade die letzten drei Jahre die Manipulation schlechthin erlebt.

ME: Wenn ich nach Daten schaue, bin ich erst mal skeptisch, wenn sie aus intransparenten, totalitären Staaten wie China kommen. Bei Daten zu Epidemien oder Pandemien werden in westlichen Ländern die Toten erfasst – da ist Übersterblichkeit das erste. Natürlich kann man immer sagen, dass Leute an irgendwas gestorben sind, aber da müsste man ja im Einzelfall nach Ursachen gucken und davon gibt es immer viele. So, jetzt wäre erst einmal: Haben wir irgendwo Übersterblichkeit? Jetzt kommt was Neues: Die ersten Daten waren von Ioannidis. Er hatte dieses Kreuzfahrtschiff, die Diamond Princess untersucht. Da wurden alle Leute getestet, man rechnete das hoch und kam auf eine Sterblichkeit deutlich unter einem Prozent. Damit war für mich das Thema eigentlich erledigt. Das waren die einzigen zuverlässig erhobenen Daten. Diese Kreuzfahrtschiffpassagiere waren eher alt, und es ist jetzt nicht so, dass es eine Gruppe von Bergsportlern gewesen wäre. Denn wenn ich eine Gruppe von 70-jährigen Bergsportlern nehme, ist das natürlich nicht repräsentativ, weil das besonders fitte Leute sind. Es ist also kein bias sample, denn die Daten und die Spannbreite sind sehr gross. Somit war klar: Es ist nichts Alarmierendes.

Ich finde die Frage dennoch interessant: Was stärkt die Urteilskraft? Du sagst jetzt die Zahlen, aber ich glaube, es ist schon auch mehr. Ich habe die Bilder aus China gesehen, wie die Menschen über die Strasse gehen und mitten im Gehen fallen sie tot um. Am Anfang hiess es: Das ist das Coronavirus, das wird uns jetzt alle umbringen. Ich sah das und wusste: Das kann nicht stimmen –, aber nicht wegen Zahlen, sondern wegen meines Bauchgefühls.

ME: Das kann auch nicht stimmen. Also wenn jemand jemanden erschiesst, dann fällt man halt tot um. Aber das Virus, das ist ja kein Gift wie Zyanid oder so. Man kann daran sterben, klar, aber das dauert einen Moment. Man fällt da nicht einfach so mitten auf einer Strasse tot um. Oder nehmen wir die Bilder von Bergamo, da waren plötzlich Särge da – und man weiss nicht, woher die kommen. Und jetzt will ich nicht irgendwie Vorurteile haben –, aber wenn man weiss, dass es in Italien nicht so gut organisiert ist und denen aus Panik das Gesundheitspersonal wegläuft und die Leute mehr oder weniger in Streik gehen, dann ist doch klar, dass die Patienten sterben. Das war einfach ein Chaos. Aber wieso sollte man das jetzt auf das Virus zurückführen? Wieso sind denn die auf dem Kreuzfahrtschiff nicht gestorben? Da waren ja so viele Alte – das passt irgendwie nicht zusammen. Es passt vielleicht zu den chinesischen Bildern, aber von China weiss ich, das wird von oben bestimmt, was rauskommt und was nicht.

Und da haben wir doch das Problem, Michael: Die Urteilskraft der grossen Masse der Menschen ist an diesen Bildern gescheitert. Menschen haben zu mir gesagt: Ja, ich war auch lange skeptisch, aber dann habe ich diese Särge in Bergamo gesehen, und da war es für mich klar – da muss man etwas unternehmen.

ME: Nehmen wir Folgendes an: Ich habe die Särge aus Bergamo gesehen usw. Und natürlich reagiere ich, bin vorsichtig und nehme Rücksicht gegenüber anderen Leuten. Aber dann möchte ich diese Särge von Bergamo irgendwie durch Evidenz bestätigt haben. Woher weiss ich, ob nicht die Leichenbestatter in Streik gegangen sind oder Sonstiges? Ich kann ja Särge und Fotos von Särgen sehen, aber es braucht ein bisschen Skepsis gegenüber ungewöhnlichen Sachen.

Ich muss wichtige Dinge nachprüfen wollen! Das sehe ich als das Problem derjenigen, die sehr viel in den Nachrichten gesehen haben und dann nicht das taten, was wir gemacht haben – nämlich zu recherchieren, herauszufinden, was da los ist. Die allermeisten Menschen tun das nicht.

ME: Genau. Jetzt haben wir den Boom, dass wir staatlich finanzierte Medien haben und dass die Medien nicht wirklich frei sind. Es wäre ja typischerweise Aufgabe von Journalisten, darüber zu recherchieren, was da wirklich los ist. Denn es passt nicht zu dem, was man sonst sieht. Man muss immer die einzelnen Informationen, die man bekommt, in ein Gesamtbild einzuordnen versuchen, sodass es passt. Und jetzt ist es so, dass wir uns viel mehr auf das Smartphone, auf Computer, auf das Internet verlassen als auf unsere eigene Wahrnehmung der Umgebung – und das ist halt ein Problem. Dadurch wird man manipulationsanfälliger. Das ist halt der Fluch und Segen der Technik. Durch das Internet kann man mit jedem Menschen auf der Welt quasi augenblicklich kommunizieren, auch über Zoom. Man kann sich sehen und Kontakte halten, und das ist eine tolle Sache. Aber man kann Menschen natürlich auch viel einfacher manipulieren: Wenn man ihnen Bilder zeigt von Leuten, die alle nur maskiert rumlaufen, dann fangen die auch an, maskiert auf der Strasse herumzulaufen.

Halten wir also fest: Es fehlt die Skepsis gegenüber Ungewöhnlichem. Das Smartphone macht uns manipulationsanfälliger und die Medien, die unsere Skepsis fördern sollten und auch selbst skeptisch sein sollten, nehmen ihre Aufgabe nicht wahr. Was machen wir jetzt?

ME: Das macht ihr alternativen Medien doch! Ihr versucht, an die Leute zu appellieren, sie resistenter zu machen gegen Manipulation.

Aber ich denke, man kann nur an der Stelle ansetzen, dass es keine Machtkonzentration geben soll. Also wenn es einen Staat gibt, der Medien lenkt, der Wissenschaft lenkt, durch die Finanzierung die Bildung lenkt, der Notstände ausrufen kann usw., ist klar, dass hier die Freiheit fehlt. Nehmen wir mal an, ich habe ein politisches Programm, oder: Ich bin Wissenschaftler und ich bin von irgendwas fanatisch überzeugt – zum Beispiel davon, dass die Menschheit durch Viren oder durch den Klimawandel untergehen wird. Jetzt kann ich zwei Dinge tun: Ich kann Bücher schreiben, Leute zu überzeugen versuchen. Das ist mühsam und andere widersprechen mir. Viel einfacher ist es, wenn es mir gelingt, Berater eines Politikers zu werden, denn der Politiker kann einfach das, was ich will, beschliessen und er kann Medien finanzieren und so weiter. Das ist doch die sinnvollere, also die zweckrationalere Strategie.

Oder ich habe ein Unternehmen, das tolle Produkte herstellt. Jetzt kann ich versuchen, Kunden zu überzeugen, aber wenn die mir die Produkte nicht abkaufen, gehe ich pleite. Und das ist mühsam. Ich kann aber auch einen Politiker überzeugen, der mir ein Gesetz macht und sagt, dass mein Produkt der Menschheit hilft und mir deshalb eine Garantie gibt, dass, wenn ich pleite gehe, es einen bail out gibt, weil es too big to fail ist.

Aber das wäre ja unsozial. Und deshalb muss diese Machtkonzentration weg. Wenn es die zentrale Machtkonzentration nicht mehr gibt, ist es viel schwieriger – man muss dann die einzelnen Menschen überzeugen.

Wie schaffen wir das?

ME: Durch Skepsis gegenüber Machtkonzentration. Indem man sieht, was das alles anrichtet. Wahrscheinlich werden wir es halt irgendwann merken, denn das Ganze lebt ja nur auf Pump, es ist ja nicht finanzierbar – jetzt sind wir beim Geld. Eigentlich müsste man sagen: Okay, wenn ihr einen Lockdown haben wollt, muss aber die direkte Bundessteuer verdoppelt werden, und die Kantonssteuern entsprechend auch.

Angeblich haben wir ja keine Inflation wegen der Massnahmen, sondern wegen Putin.

ME: Natürlich gibt es immer irgendjemand anderes, der schuld ist.

Inwieweit hängt hier Urteilskraft mit unserem Bedürfnis nach Freiheit zusammen?

ME: Ich weiss nicht, ob es ein Bedürfnis nach Freiheit gibt.

Aber es gibt ein Interesse daran, sein Leben selbst zu gestalten. Und das erlischt ohne Freiheit.

ME: Ja, natürlich. Wenn man nicht ein bisschen Urteilskraft und Freiheit hat und das von anderen regeln lässt, dann geht es irgendwann schief. Dafür muss man irgendwann sehr teuer bezahlen. Wenn du dein Urteilsvermögen, deine Freiheit abgibst und denkst, das sei doch so ein wohlmeinender Bundesrat, dann endet das immer schlecht. Obendrein wird dieser Preis von allen bezahlt. Das ist das, was ich real existierende Postmoderne genannt habe: Geld, das durch nichts mehr gestützt ist, das einfach gedruckt werden kann, schafft eine Illusion von Wohlstand und Leistung. Corona hat ja nichts gekostet – das Geld wurde einfach gedruckt. Aber irgendwann, wenn sich die Geldmenge ausweitet, ist ja klar, dass der Wert des Geldes, also die Kaufkraft sinken muss, weil einfach mehr Geld da ist, ohne dass mehr Güter da sind. Wenn mehr Güter produziert werden, also die Produktivität steigt und die Geldmenge entsprechend steigt, ist es ja okay, denn dann müssten ansonsten die Preise fallen. Aber jetzt ist es ja so, dass die Geldmenge ausgeweitet wird und die Produktivität sogar sinkt. Ist ja klar, dass das Geld so an Wert verliert, und das trifft alle, manche mehr und andere weniger. Aber dann sieht man die Konsequenzen. Es ist ja im Leben immer so, dass man viel wollen kann, aber die Mittel knapp sind. Und deshalb ist Urteilskraft so wichtig, um mal zu überlegen: Welche Mittel möchte ich einsetzen, um ein Ziel zu erreichen? Also wie und wofür setze ich knappe Mittel ein?

Maurice Merleau-Ponty sagte, eine fehlende Übereinstimmung entbinde uns nicht davon, das, was wir ablehnen, zu verstehen; vielmehr steigere sie diese Pflicht. Er schreibt: «Die wahre Freiheit … nimmt die Anderen, wo sie sind; sie sucht die Doktrinen, die sie leugnen, zu durchdringen und erlaubt sich kein Urteil, bevor sie nicht alles verstanden hat. Wir müssen unsere Freiheit des Denkens in der Freiheit des Verstehens erfüllen.» Wie kommen wir zurück in einen vorurteilsfreien Diskurs?

ME: Wir haben nie einen vorurteilsfreien Diskurs. Von den Vorurteilen kommen wir weg, indem wir uns mit verschiedenen Positionen auseinandersetzen und Argumente austauschen.

Aber wie kann dann eine gerechte Urteilsfindung stattfinden?

ME: Indem jeder seine Meinung sagen darf. Auch die, die du für falsch hältst oder die, die ich für falsch halte.

Trotzdem leben wir in einer Gesellschaft, wo Regeln für uns alle bestimmt werden.Und wenn wir uns in einem in der Urteilskraft schwer gestörten Kollektiv befinden, dann ist der demokratische Weg versperrt. Weil wir so nicht zur Lösung kommen. Die Leute werden nicht der Vernunft folgen.

ME: Na ja, es ist schwer zu sagen, wo die Vernunft liegt. Der demokratische Weg ist ganz klar: Man kann nur über Sachen abstimmen im Sinne der offenen Gesellschaft. Popper setzt voraus, dass man die anderen respektiert. Man kann nicht darüber abstimmen, ob die anderen ein Lebensrecht haben. Eine Demokratie funktioniert also nur unter der bedingungslosen Anerkennung der Menschenrechte aller. Wenn ein Bundesrat und ein Parlament Unrecht beschliessen, haben wir in der Schweiz glücklicherweise die Volksabstimmung – das ist die einzige Form, in der wir uns im institutionellen Rahmen dagegen wehren können. Aber eigentlich sollten Volksabstimmungen nur über Sachen stattfinden, die im Rahmen der Anerkennung der Menschenrechte aller stehen.

Wir wissen auch, dass von staatlicher Seite versucht wird, Einfluss auf die Urteilskraft der Individuen zu nehmen. MK Ultra, Brutkasten-Lüge, Twitter-Files, das sind nachgewiesene und unstrittige Beispiele. Noam Chomsky nannte es «manufacturing consent», also «die Herstellung von Zustimmung», der Versuch, in der Bevölkerung Rückhalt für das staatliche Handeln gegenüber anderen Staaten zu gewinnen. Bei Corona versuchen die Regierenden oder Machthaber, die eigene Bevölkerung dafür zu gewinnen, sich selbst Schaden zuzufügen.

ME: Im 19. Jahrhundert entstanden Nationalstaaten, die nach aussen aggressiv sind, also zum Imperialismus tendieren, und nach innen repressiv sind, also tendenziell homogene Volkskörper sind. Dabei war das Privatleben jedoch nicht von der Repression betroffen. Die Repression beschränkte sich darauf, dass man Zwangsabgaben erhob, um Leute von staatlichen Programmen abhängig zu machen, also Sozialhilfe, Medizinhilfe usw., und damit die freiwillige genossenschaftliche und wohltätige Organisation von Unterstützung ausschaltete. Man nahm den Leuten die Mündigkeit und die Verantwortung für ihr eigenes Leben weg, machte aber keine Vorschriften für ihr Privatleben. Das ist jetzt einfach einen Schritt weitergegangen. Jetzt wird es totalitär, jetzt geht es in das Privatleben rein.

In dem Sinne ist die Repression eigentlich nicht neu, sondern sie hat sich einfach ausgeweitet.

ME: Rückblickend würde ich sagen, das war einfach der zweite Schritt, jetzt nimmt die Repression wieder zu. Man braucht nur auf die Medieninszenierung zu schauen: Wann immer ein Problem auftritt, wird ein Politiker gerufen, der überhaupt keine Kompetenz oder kein Mandat hat, und dann soll er das Problem lösen. Und es wird dadurch totalitär, dass es ins Privatleben reingeht, und das geht nur, wenn man den Menschen die Selbstverantwortung nimmt – dann nimmt man ihnen ja auch die Urteilskraft. Man suggeriert den Leuten, dass das ein Fürsorgestaat ist, und so entsteht die Haltung: Wissenschaftler müssen das jetzt richten. Und das ist das Absurde. Die Menschen müssen dann auch keine Urteilskraft mehr einsetzen, weil sie vollständig betreut sind. So kommt es, dass sie dies auch befolgen, wenn man ihnen sagt, dass Sie sich jetzt einsperren, Masken tragen oder sich impfen lassen müssen.

Ich denke, man kann niemanden zur Freiheit oder Mündigkeit zwingen. Man muss gegen diese Strukturen angehen und versuchen, sich Freiräume zu schaffen. Man kann den Leuten ja auch vermitteln, dass die, die mitmachen wollen, das tun können. Ich habe nichts dagegen, dass sie mit einer Maske herumlaufen. Ich habe auch nichts dagegen, wenn der Wirt sagt, er lasse nur noch Geimpfte rein – er schadet sich ja selbst. Die, die so leben wollen, sollen so leben können. Aber sie sollen den anderen nichts aufzwingen. Das kann man doch eigentlich vermitteln. Und dann werden wir ja sehen.

Manche Beobachter sagen, diese Ausweitung der Repression ins Private, dieser Totalitarismus sei Teil des Dritten Weltkriegs. Dieser finde nicht zwischen Staaten statt, sondern sei ein Krieg der Mächtigen gegen die allgemeine Bevölkerung und werde auch gegen unsere Wahrnehmung geführt. Was sagst du dazu?

ME: Das glaube ich nicht, dass das so stimmt. Denn erstens sind die Mächtigen ja auch keine homogene Gruppe. Ich würde denken, dass es bei bestimmten Themen eine Allianz gibt, wo sich verschiedene Interessengruppen finden, aber das kann auch wieder zu Ende gehen. Es gibt nicht einfach die Gruppe der Mächtigen versus die allgemeine Bevölkerung. Und zweitens haben wir Abstimmungen, es kann sich jeder ein Urteil bilden. Propaganda hat es auch immer gegeben. Es gibt nicht einfach eine Gruppe von Bösen da oben. Das ist mir irgendwie zu pauschal, es gibt viele verschiedene Interessen, und die sind sich untereinander auch nicht einig. Gab es nicht auch Streit unter den Impfstoffherstellern? Es ist halt wie überall, auch in der Uni: Wenn über etwas im Fakultätsrat abgestimmt wird, dann finden sich Gruppen zusammen, aber es ist nicht so, dass es immer eine Gruppe von Mächtigen gibt, die immer zusammenstehen. Auch die müssen immer ihre Mehrheit finden. Und so haben wir auch die Möglichkeit, dagegen anzugehen.

Wie?

ME: Indem wir reden und versuchen, die Leute zu erreichen.

In einem Interview bei Gunnar Kaiser sagtest du: «Wenn wir den postmodernen Totalitarismus zu Ende führen, dann steht am Ende dieser Entwicklung die totale Zerstörung.» Aber da wollen wir doch nicht hin, oder?

ME: Wir können das verhindern, wenn jetzt genügend Leute ihre Urteilskraft einsetzen. Aber vielleicht wird es zu spät sein. Und: Immer wenn es eine totale Zerstörung gab, gab es wieder einen Neuanfang. Ich will das nicht, aber ich kann es auch nicht verhindern. Es ist klar, dass das Fiatgeldsystem irgendwann in einer Geldentwertung endet, weil es prinzipiell unmöglich ist, die Schulden zurückzuzahlen, weil sie einfach zu hoch sind. Das heisst, das bricht irgendwann zusammen.

CBDC – digitales Zentralbankgeld wird die Lösung sein nach dem Zusammenbruch unseres Fiatgeldes.

ME: Da muss man halt schauen, ob genügend Leute bereit sind, das anzunehmen.

Das werden sie.

ME: Mit dem digitalen Zentralbankgeld bricht es erst recht zusammen. Das ist dann die totale Steuerung. Die totalitären Regime sind entweder durch einen expliziten Krieg oder – wie die Sowjetunion – einfach wirtschaftlich irgendwann zusammengebrochen. Um das zu stoppen, muss man die staatliche Machtkonzentration durchbrechen. Und man muss Urteilskraft einsetzen und Verantwortung für sein eigenes Leben und in überschaubaren Gemeinschaften übernehmen, weil niemand anderes das kann. Wer sagt, dass er das nicht kann, macht das Leben am Ende des Tages kaputt. Vielleicht muss es so weit kommen, dass es kaputt geht – ich weiss es nicht. Ein Zusammenbruch des Geldsystems ist absehbar und schwer zu stoppen, weil halt zu viel Verschuldung da ist. Man müsste sofort mit diesem Geldsystem aufhören und zu einer freien Wirtschaft mit freiem Geld statt staatlichem Geldmonopol übergehen, sodass es ein Produktivitätswachstum gibt. Man müsste da also eine 180-Grad-Kehrtwende machen. Aber danach sieht es Moment nicht aus. ♦

von Lilly Gebert und Michael Bubendorf


Hat dir der Artikel gefallen? Dann bestelle jetzt ein Abo in unserem Shop.

Deine Meinung ist uns wichtig: Teile dich mit und diskutiere im Chat mit unseren Lesern.

«Europa ist verrückt geworden»

Ägypten ist trotz hoher Inflation und teilweise enormer Armut eines der sichersten Länder. Die Menschen sind trotz allem gastfreundlich und liebenswürdig und legen eine bewundernswerte Gelassenheit an den Tag. Über die «Luxussorgen» in Europa müssen sie schmunzeln.

«Ihr habt ja Probleme in Europa», äussert sich Mohamed in einem Coffeeshop im ägyptischen Küstenort Dahab im Süd-Sinai schelmisch und zieht genüsslich an seiner Wasserpfeife. Soeben hat er davon erfahren, dass in der Schweiz Frauen an immer mehr Orten kostenlos Hygieneartikel erhalten und somit die Eigenverantwortung dem Staat überlassen. Eine andere Welt.

Ägypten hat in der Tat andere Probleme als derartige «Luxussorgen». Das bedeutendste arabische Land, welches mehrheitlich aus Wüste besteht, beherbergt mittlerweile rund 100 Millionen Menschen, welche sich vor allem in den Grossstädten an der Lebensader Nil, dem längsten Strom der Welt, drängen – kombiniert mit einer teilweise enormen Armut. Aber die Menschen sind allem Unbill zum Trotz ausgesprochen liebenswürdig und gastfreundlich – und das unfassbar geschichtsreiche Land trotz hoher Inflation einer der sichersten Orte weltweit.

Erfrischende Gelassenheit

Unlängst verlor die Landeswährung, das Ägyptische Pfund, gegenüber der Leitwährung (US-Dollar) von einem Tag auf den anderen fast 50 Prozent an Wert, und der Trend hält weiter an. Das sorgt für existenzielle Sorgen und Ängste und die Volksseele kocht. Und trotzdem legen die Ägypter selbst in diesen Tagen eine erstaunliche, bewundernswerte Gelassenheit an den Tag. Das Lebensmotto «el hamdolelah» ist und bleibt zentral. Es bedeutet «Danke Gott für alles, es könnte viel schlimmer sein.»

In diesem Sinne bewältigten die Ägypterinnen und Ägypter auch die vor allem in Europa grassierende Corona-Hysterie. Etliche liessen sich eine oder mehrere Impfungen verabreichen (oder hatten berufstechnisch keine andere Wahl), viele andere sind und bleiben aus einer tiefen Überzeugung ungeimpft – und gesund und fröhlich. Während in Europa die Schotten dichtgemacht wurden, stiegen in Ägypten im Herbst 2020 wunderbare Wüsten- und Strandparties bei tropischen Temperaturen. «Europa ist verrückt geworden, da machen wir nicht mit. Viele hier trauen diesem Hype nicht.» Das ist in Ägypten seit Herbst 2020 vielerorts zu hören.

Aber woher kommt diese Gelassenheit, dieser gesunde Menschenverstand in einem Land, in welchem der Staat wohlverstanden alles andere als zimperlich ist, wenn es darum geht, Massnahmen durchzusetzen? Sehr vieles hat seinen Ursprung im Sozialleben, das für den Durchschnittseuropäer weder vorstellbar, noch greifbar ist.

Erlebnis Coffeeshop

Im Coffeeshop trifft man sich, da wird diskutiert, gestritten, gelacht, gespielt und natürlich viel geraucht und getrunken (kein Alkohol). Gerade während der Fussball-WM, welche Katar zugegebenermassen beeindruckend und phantastisch ausgerichtet hat (trotz des hartnäckigen, diametral anders lautenden Narrativs fast des gesamten Westens), machten die Coffeeshops feine Umsätze, welche in diesen wirtschaftlich schweren Zeiten zweifellos hoch willkommen sind. Vor drei oder vier TV-Geräten unter freiem Himmel versammelten sich zeitweise gegen 200 Menschen, jung und alt, Beduinen und Ägypter (alles Araber), Ausländer, Niedergelassene und Einheimische – und konnten so die Alltagssorgen etwas vergessen.

Für umgerechnet fünf Schweizer Franken kann man zum Beispiel in Dahab einen ganzen Abend bei Tee, Wasser und Wasserpfeife verbringen, für wenige Franken mehr gibt es auch noch Glacé oder frische Fruchtsäfte dazu. Diesen Lebensstil muss man erlebt – und auch gerochen haben!

In der Familie und an Orten wie den Coffeeshops schöpfen die Ägypter Kraft und Zuversicht, auch wenn die Perspektiven schon besser waren. Hier ein feiner Witz, dort der neuste Klatsch, eine herzliche Umarmung oder ein «Chawäga» (Ausländer), der Schokolade verteilt – das alles hat mehr Bedeutung als der reine Mammon. Dass aber dabei auch das Geschäft nicht zu kurz kommt und sich die lokalen Handwerker, welche sich mitunter im Coffeeshop treffen, gegenseitig berücksichtigen, versteht sich von selbst.

Inflation bereitet Sorgen

Wegen der massiven Inflation (gegen 50 Prozent) ist das Leben zuletzt sehr rasch deutlich teurer und komplizierter geworden. Tauschhandel und Gegengeschäfte, aber auch der Schwarzmarkt blühen – gut für wenige, ungünstig für die meisten, aber kaum vermeidbar. Die Preise für viele Güter und Lebensmittel des täglichen Bedarfs sind empfindlich gestiegen, die Löhne blieben (natürlich) gleich tief wie zuvor, womit die Kaufkraft weiter abgenommen hat. Zahlreiche Familien wissen kaum mehr, wie sie sich ernähren sollen.

Ein durchschnittlicher Monatslohn beträgt zwischen 3000 und 4000 Ägyptischen Pfund, umgerechnet maximal knapp 200 Franken. Damit lassen sich selbst die minimalsten Lebenskosten nur mit allergrösster Mühe decken – oft helfen Ersparnisse, Gold (das in Ägypten eine enorme Bedeutung hat), Familie oder Freunde – und eben der Zusammenhalt, welcher dieser Tage noch bedeutender geworden ist.

Gleichzeitig nimmt die Einflussnahme des Staates spürbar zu, sei es in Form von neuen Gesetzen, Vorschriften und Gebühren, oder durch teilweise mühsame Kontrollen. Doch auch dies lassen die Ägypter mit stoischer Ruhe über sich ergehen. Selbst als Ahmed unlängst zu einer skurrilen Busse von rund 15 Franken verurteilt wurde wegen Nichttragens der Sicherheitsgurte auf dem Motorrad (!!!), reagierte er mit Achselzucken und einem breiten Grinsen – und den Worten «das ist Egypt, el hamdolelah». ♦

von Meinrad Stöcklin

***

Meinrad Stöcklin (56) ist seit 1988 im Journalismus tätig und arbeitete bis zum Jahre 2000 als Redaktor bei Radio Raurach sowie acht Jahre bei der Basellandschaftlichen Zeitung. Anschliessend erlangte er als Polizeisprecher des Kantons BL nationale Bekanntheit. Seit 2017 wirkt Meinrad Stöcklin selbständig und vielfältig im Journalismus, in der Kommunikation und im Sport. Er weilt seit über 20 Jahren regelmässig in Ägypten.


Hat dir der Artikel gefallen? Dann bestelle jetzt ein Abo in unserem Shop.

Deine Meinung ist uns wichtig: Teile dich mit und diskutiere im Chat mit unseren Lesern.

Ein Ticket für verbotene Kunst

Eindrücke aus dem Musical «Shen Yun»

In unserer Redaktion flattert so manche Post durch den Briefkastenschlitz. Von Werbebroschüren für Kugelschreiber oder Verpackungsmaterial bis zu Büchern. Eine Broschüre für das Musical «Shen Yun» lag bereits auf dem Altpapierstapel. Ein Blick zurück machte mich neugierig: «Verbotene Volkskunst wird wiederbelebt.» Mit verbotenen Inhalten ist man bei mir an der richtigen Adresse: Die Broschüre schaffte es zurück auf meinen Schreibtisch. Zehn Minuten später waren zwei Karten reserviert.

Das Musical Theater Basel ist bis auf den letzten Platz besetzt. Das Publikum lauscht gebannt den ersten Klängen des Orchesters und lässt sich durch die farbenfrohe Kleiderpracht und die artistische Tanzchoreografie verzaubern und in eine andere Welt entführen.

Hier werden wir nun in die Geschichte der Unterdrückung der über 5000-jährigen Volkskunst Chinas eingeweiht. In China sind die Ausübung und die Vorführung dieses fantastischen Kulturerbes verboten. Weshalb, ist mir noch etwas schleierhaft. Ist die Kulturrevolution noch nicht überwunden? Auch wenn das kommunistische China nach wie vor repressiv geführt wird – Shows sind doch möglich …

Nebst atemberaubenden Bühnenbildern und ästhetischer Perfektion lassen mich die Inhalte der einzelnen Programmstücke aufhorchen: Dramatische Inszenierungen aus Kriegs- und Kaiserzeiten wechseln sich mit verschiedenen Volkstänzen von ethnischen Minderheiten, wie beispielsweise der Mandschuren, der Tibeter oder Mongolen ab. Nebenbei überrascht eine moderne 3D-Bühnentechnik. Figuren, die über die Leinwand schweben, stehen plötzlich auf der Bühne oder umgekehrt. Auch der Humor kommt nicht zu kurz. Ein dem Alkohol zugeneigter Mönch führt seinen Meister hinters Licht und trickst mit seiner eigensinnigen Art die halbe Stadt aus. Sein Schalk mag manchem Zuschauer ein Lachen abgewinnen. Doch nun wird es ernst: In der nächsten Szene wird der Kommunismus in seiner brutalsten Form dargestellt und das grosse Verbrechen aufgezeigt. Nun meine ich zu verstehen, warum das Musical in rund 20 Ländern, aber auf keinen Fall in China aufgeführt werden kann.

In einem Park wird ein Mädchen von ihrer Mutter mit dem Geschenk eines selbstgenähten Schals überrascht. Der Vater möchte den Moment der Glücklichen mit der Kamera festhalten. Dankbar setzen sich die beiden hin, um Meditationsübungen zu praktizieren, die auf den Werten von Wahrhaftigkeit, Barmherzigkeit und Nachsicht basieren.

Wird hier die Kulturrevolution zu Maos Zeiten inszeniert?

Doch da tauchen schwarz gekleidete Männer mit Stöcken auf. Auf ihren Rücken prangen rot Hammer und Sichel, das Parteizeichen der KPCh. Mutter und Tochter werden verhaftet. Im Gefängnis werden sie voneinander getrennt. Die Tochter wird getötet; ihre Organe werden zur Spende freigegeben.

Ich frage mich, ob zu Maos Zeiten in den 1960er-Jahren Organspende schon praktiziert wurde oder ob meine historische Einschätzung gerade durcheinandergeraten ist. Eine Recherche zum Thema lässt mich verstört zurück: Politische Gefangene in China sollen als lebende Organlager nach Bedarf hingerichtet werden, um den Transplantationsmarkt Chinas, auf dem grosse Nachfrage herrscht, pünktlich zu beliefern. Der gruselige, ja abstossende Vorwurf wird durch internationale Berichte gestützt; in der führenden medizinischen Fachzeitschrift The Lancet finden sich Publikationen zur «Organernte von exekutierten Gefangenen in China». Die chinesischen Behörden bestätigen selbst, dass «die meisten Organe von Leichen exekutierter Gefangener stammen». Zwar hat die chinesische Regierung versprochen, diese mörderische Praxis zu beenden, doch bis heute werden Berichten zufolge in China Gefangene für Organspenden systematisch hingerichtet. Opfer dieser Praxis seien insbesondere politische Gefangene und Angehörige ethnischer Minderheiten.

Der Kontext erschliesst sich mir durch die Ansage, in der betont wird, dass die Verfolgung von Menschen, die meditieren, auch heute noch an der Tagesordnung sei. Diese Szene bildet also die aktuelle Lage ab. Das Programmheft klärt auf: Bei den Meditierenden handelt es sich um Anhänger von «Falun Dafa». Hinter dem Musical-Ensemble «Shen Yun» steht Falun Gong.

Diese spirituelle Bewegung wurde 1992 in China gegründet und ist auch als Falun Dafa bekannt. Ihre Anhänger praktizieren Meditationsübungen, die aus dem Qigong abgeleitet sind. Der Gründer der Bewegung lebt heute in den USA. Nach der Gründung von Falun Gong durch Meister Li Hongzhi in China wurde die Bewegung von der chinesischen Regierung zunächst sogar gefördert. Doch Mitte der 1990er-Jahre drehte der Wind, die KPCh begann, Falun Gong aufgrund ihrer Mitgliederzahl, ihrer Unabhängigkeit vom Staat und ihrer spirituellen Lehre als Bedrohung anzusehen. Im April 1999 erreichten die Spannungen ihren Höhepunkt, als sich über 10’000 Falun-Gong-Praktizierende friedlich auf dem Gelände vor der Zentralregierung in Peking einfanden, um für rechtliche Anerkennung und Freiheit von staatlicher Einmischung zu appellieren. Dieses später als «Demonstration» bewertete Ereignis wird weitläufig als Katalysator der darauffolgenden Verfolgung angesehen. Manche meinen jedoch, dass es von der KPCh arrangiert worden sein könnte, um die Verfolgung zu rechtfertigen. Es folgten Zensur, Hetzkampagne, Verbot.

Der Vorwurf: Störung der sozialen Ordnung

Ein Ziel der KPCh war und ist es vermutlich immer noch, Falun Gong auszurotten. Falun-Gong-Praktizierende werden in China massiv verfolgt und von der chinesischen Regierung oft gezielt als Opfer der «Organernte» ausgewählt, wie Reuters berichtet. Seit Beginn der Verfolgung um 1999 begannen die Anhänger, aktiv ihre Menschenrechte in China einzufordern. So erwuchs eine weltweite Bewegung mit einer geschätzten Mitgliederzahl im zweistelligen Millionenbereich. Sie ist im Exil zu einer mächtigen Stimme gegen die kommunistische Partei geworden.

In meiner Recherche über Falun Gong stiess ich auf drei SRF-Beiträge aus den Jahren 1999 und 2005. Im ältesten wird bereits ins Feld geführt, Falun Gong sei eine Sekte. Man rate mal, wer der Experte ist, der vor gefährlichen Tendenzen warnt – es ist der altbekannte Georg Schmid, der auch Menschen, die die Corona-Politik hinterfragen, in die Nähe von Sekten, Gewalt und Pathologie rückt. Ein weiterer «Experte» betont, dass die Verfolgung einzelner Falun-Gong-Anhänger nicht nur dem repressiven Regime in China zuzuschreiben sei – während Bilder gezeigt werden, wie die Schriften von Li Hongzhi massenweise zerstört werden. Ich schlucke leer – die Diffamierung von Andersdenkenden schien auch in diesem Fall schon relativ opportun gewesen zu sein. Dann betont der Sinologe Thomas Fröhlich von der Uni Zürich doch noch: Tatsache sei, dass die Toleranz gegenüber Falun Gong in vielen Staaten grösser sei als in China. Die Vorwürfe an Falun Gong bleiben seltsam nebulös; so wird beispielsweise die Verweigerung von bestimmten medizinischen Behandlungen als eine Form von Selbstmord kritisiert.

Ja, Falung Gong ist eine spirituelle Bewegung und macht daraus auch keinen Hehl. Sie verbindet Daoismus mit buddhistischen Praktiken und ihre Anhänger glauben – wie bei den meisten Religionen – an eine grosse Erlösung. So wird im Musical «Shen Yun» ein Sologesangsstück aufgeführt, dessen Übersetzung auf der Leinwand eingeblendet wird:

«Die Welt in Aufruhr, den Menschen einer Prüfung gleich, im Chaos erlösen Gottheiten die Gutherzigen zurück ins Himmelsreich. Nicht an Gottheiten zu glauben, stellt modernes Denken dar, da Atheismus und Evolutionstheorie eine reine Täuschung ist …»

In der Pause erinnere ich mich an die Bücher von Tiziano Terzani. Er lebte ab 1975 mehrere Jahre in China und war Asiens Auslandskorrespondent für den Spiegel. Schon vor Maos Tod reiste er von Singapur aus regelmässig zur Grenze Chinas und berichtete aus erster Hand über die Gräueltaten der Kulturrevolution. Eindringlich schilderte er das unermessliche Elend und die Zerstörung des kulturellen, geistigen, menschlichen Erbes Chinas.

Ein Strohhalm aus Überlieferungen inmitten der kulturellen Verwüstung?

Alles, was kulturelle Anbindung und Verwurzelung bot, wurde damals ausgelöscht. Ist die Bewegung Falun Dafa ein Strohhalm aus Überlieferungen zerstörten Kulturguts? Ist «Shen Yun» die Frucht aus dem Samen, der in der Asche der Zerstörung überdauerte?

Jedenfalls bringt sie eine beeindruckende Vielfalt künstlerischen Ausdrucks chinesischer Traditionen auf die Bühne. 24 Jahre nachdem in der Schweiz erstmals über diese Bewegung berichtet wurde, ist sie schon fast im Mainstream angelangt. Das Musical zieht mit seinen vier Aufführungen rund 6000 Besucher nach Basel in den Theatersaal.

Die letzte Szene von «Shen Yun» zeigt deutlich die heutige Situation in China: Menschen an ihren Handys irren wie Marionetten umher. Die KP-Spitzel lauern überall. Eine Gruppe von meditierenden und tanzenden und sich umarmenden Menschen werden mit Knüppeln zu Boden geprügelt. Im gleichen Atemzug tauchen auch die Vollstrecker der Null-Covid-Strategie auf. Sie agieren Hand in Hand mit den Regimeinformanten. Von der Leinwand her rollt apokalyptisch eine Sintflut auf die Geschundenen auf der Bühne heran. Da tritt ein Mönch auf: Er strahlt das Licht der Liebe aus und hält damit den drohenden Untergang auf – das ist der Beginn des Goldenen Zeitalters.

Unterdrückung, Denunziation, Gesundheitstotalitarismus, Polizeigewalt gegen friedlichen Protest; all dies haben wir in den letzten drei Jahren auch bei uns der Schweiz erlebt. China ist heute überall und viele Politiker sehen die Kommunistische Partei als Vorbild: Justin Trudeau, Premierminister von Kanada, brachte seine Bewunderung für die Diktatur Chinas öffentlich zum Ausdruck und auch die Regierung in der Schweiz findet immer grösseren Gefallen an autokratischem Handeln, Notverordnung und der Umgehung demokratischer Prozesse. Die totalitäre Politik der Kommunistischen Partei Chinas wurde zum internationalen Exportschlager. Wir werden sie überwinden müssen, damit das «Goldene Zeitalter» anbricht. Denn ich befürchte, dass da kein Mönch kommen wird, um das für uns zu erledigen.

Die Zuschauer quittieren die Aufführung mit Standing Ovations. Ich bin mir nicht ganz schlüssig: Klatschen wir zum kommenden Neuanfang? Oder zum wachsenden Bewusstsein über die staatlichen Verbrechen? Und insgeheim frage ich mich: Wann überführen wir die westlichen Verbrechen auf der Weltbühne? ♦

von Prisca Würgler


Hat dir der Artikel gefallen? Dann bestelle jetzt ein Abo in unserem Shop.

Deine Meinung ist uns wichtig: Teile dich mit und diskutiere im Chat mit unseren Lesern.

«Es kommt immer mehr ans Licht»

«DIE FREIEN» im Gespräch mit Karina Reiss

Wer ist die starke Frau an der Seite von Sucharit Bhakdi? Was treibt die Biochemikerin an, trotz all des Gegenwindes weiterhin für die Aufarbeitung mit den Prinzipien der Wissenschaft zu kämpfen?

«DIE FREIEN»: Karina, mit welchem Gefühl gehst du derzeit täglich aus dem Haus?

Karina Reiss: Mit sehr gemischten Gefühlen. Wir sind in den letzten drei Jahren nach dem Zeitalter der Aufklärung wieder im dunklen Mittelalter gelandet. Hexen sollen wieder beweisen, dass sie keine Hexen sind. Anstelle wissenschaftlicher Erkenntnisse bestimmt der medial eingetrichterte Aberglaube das Handeln der Menschen. Dabei ist das besonders Erschreckende, dass dieser Aberglaube vor den Menschen, die sich Wissenschaftler oder Ärzte nennen, nicht haltgemacht hat.

Was macht das mit einem, von den eigenen Kollegen als «unwissenschaftlich» abgestempelt zu werden?

KR: Wer behauptet, dass das, was mein Mann und ich gesagt und geschrieben haben, wissenschaftlich nicht korrekt ist, der hat das gute Recht dazu, wenn es mit Fakten belegt ist. Wer keine fachlichen Argumente bringt, ist aus meiner Sicht kein Wissenschaftler. Nicht in eine offene Diskussion zu gehen, ist ein Armutszeugnis. Insofern ist mein Hauptproblem nicht der Vorwurf meiner Kollegen, sondern dass ich ihnen gegenüber meine Achtung verloren habe. Es sind ja teilweise Menschen, mit denen ich über viele Jahre direkt oder indirekt zusammengearbeitet habe. Dieselben Menschen wollen nicht mehr in einem wissenschaftlichen Journal publizieren, wenn in diesem Heft auch ein – wohlgemerkt wissenschaftlich gänzlich unanfechtbarer – Artikel von meinem Mann und mir erscheint. Aus meiner Perspektive haben sich meine Kollegen als Wissenschaftler komplett disqualifiziert. …

von Lilly Gebert


Du möchtest den ganzen Artikel lesen? Dann bestelle jetzt die 05. Ausgabe oder gleich ein Abo in unserem Shop.

Deine Meinung ist uns wichtig: Teile dich mit und diskutiere im Chat mit unseren Lesern.