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Monat: Juli 2022

Die Rückkehr des Todes

Der Tod ist das grosse Tabu unserer Gesellschaft. Diese Behauptung stellte der Soziologe Jean Ziegler 1975 in seinem Buch «Die Lebenden und der Tod» auf. Ein halbes Jahrhundert später gilt festzuhalten: Zieglers These hat durch die vergangenen zwei Jahre an Dringlichkeit gewonnen, denn in der Konfrontation mit etwas potenziell unkontrolliert Gefährlichem offenbart sich, welche Werte wirklich zählen.

Die pandemiepolitischen Überreaktionen erfolgten vielfach in einem irrationalen, aktivistischen Panikmodus. Erklären lässt sich dies mitunter dadurch, dass sich etwas verdrängt Geglaubtes – der Tod – seinen Weg aus der Dunkelkammer des kollektiven Gedächtnisses bahnte und sich in direkter Konfrontation für jeden Einzelnen als omnipräsentes Risiko offenbarte.

Viele Menschen in westlichen Staaten, die während der vergangenen 70 Jahre ohne Kriegserfahrung aufgewachsen sind, verspürten in der allgemeinen Hysterie womöglich zum ersten Mal in ihrem Leben die Angst vor dem Tod. Diese Angst schaltete jedes kritische Nachdenken über das Geschehen aus, und sie legte eine tiefsitzende Pathologie unserer Kultur frei.

Die Politik behauptete zwar, Leben zu retten. Damit meinte man jedoch eine reduzierte Auffassung von Leben, eine, die sich auf das nackte biologische Leben (Giorgio Agamben) beschränkt. Dieses allein hat aber keinen sinnvollen Inhalt. Es ist absurd zu behaupten, Leben retten zu wollen, wenn dabei dessen Sinn zerstört wird.

Diese Reaktion zeugt von unserem inexistenten Verhältnis zum Tod, dem blinden Fleck in unserer Kultur. Pathologisch ist dies deswegen, weil der Tod eine Konstante des Lebens darstellt und ein integrativer Teil desselben ist. Das ist gewiss – doch wir verleugnen es.

Die Rückkehr des Todes erscheint derart bedrohlich, weil wir ihn abspalten. Der Tod zwingt uns, über die Sinnhaftigkeit oder Sinnlosigkeit unseres eigenen Lebens nachzudenken. Das Gutheissen repressiver Massnahmen dürfte nicht zuletzt darin gründen, dass man auch dieser Aufgabe aus dem Weg gehen will. Der moderne Mensch ist unfähig, sich mit sich selbst zu beschäftigen, oder wie es Blaise Pascal formulierte: «Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.»

Die Angst – die zur politischen Manipulation missbraucht wird – liesse sich reduzieren, wenn wir zu akzeptieren lernen würden, dass menschliches Leben befristet ist. Denn das Bewusstsein über die eigene Endlichkeit macht unser Leben einzigartig, eben weil nichts wiederkehrt und jeder Moment eigen ist. Das Schöne liegt im Vergänglichen.

Als Abwehr einer akuten Lebensgefahr kann Angst nützlich sein. Doch sie darf nicht zum permanenten Zustand werden. Eine während zwei Jahren immer weiter eskalierende Drohkulisse hat nichts mehr mit einem affektiven Schutz zu tun. Vielmehr mündet die Verdrängung des Todes in Gewalt – auch rhetorischer, symbolischer und psychischer – gegenüber vermeintlichen Sündenböcken, die als physische Manifestation der Todesgefahr gesehen werden.

Es ist diese verdrängte Angst vor dem Tod, die es verunmöglicht, zum Leben zurückzukehren. Wir werden lernen müssen, mit dem Tod zu leben. Es scheint, als gäbe es zum jetzigen Zeitpunkt zwei Möglichkeiten, mit dieser Tatsache umzugehen.

Die technologische Verwaltung

Die transhumanistische Ideologie gibt vor, die biologische Existenz technologisch konservieren zu können. Diesen Glauben hat man der Menschheit in den vergangenen zwei Jahren schmackhaft zu machen versucht. Doch ein Glaube, der uns von fremden Autoritäten aufgezwungen wird – ein Dogma –, kann keine Befreiung und auch keine Erlösung sein. Dogmen haben in der Geschichte der Menschheit noch nie dem Einzelnen genützt. Diese Zweckreduktion des Lebens kann keine Zukunft haben, denn die menschliche Existenz besteht nicht nur aus rationalistischem Kalkül, sondern zum Beispiel auch aus Intuition oder moralischem Gewissen. Diese Fundamente der menschlichen Existenz sind nicht eingrenzbar, und auch dies gilt es auszuhalten.

Die Transhumanisten sehen im Menschen bloss eine vergängliche Apparatur, die schwach ist und überwunden werden muss. Aber dieses Evolutionsnarrativ haben sie sich selbst konstruiert. Dabei geht verloren, dass sich mit dem Bewusstsein über die eigene Endlichkeit auch die Einsicht entwickeln kann, sein Leben sinnvoll gestalten zu müssen. Das transhumanistische Ziel des ewigen Lebens nimmt dem Leben seinen Zusammenhang und seinen Sinn. Dabei ist das Leben für den Menschen nicht vom Sinn zu trennen, ohne dass er zum Tier degradiert wird.

Diese Wahnvorstellung des ewigen Lebens speist sich aus der Angst vor dem Tod und dessen Verdrängung. Man glaubt, dieser Angst mit technologiebasierter «Human Augmentation» begegnen zu können. Die transhumanistische Heilslehre schöpft ihre Suggestionen aus der Komplexität der heutigen Welt und zielt darauf ab, Menschen ein verwaltetes, delegiertes Leben führen zu lassen.

Im politischen Feld ist mittlerweile offenkundig, dass der Staat sich heute in diese Richtung bewegt. In seiner technokratischen und expertokratischen Massnahmen-Manie war nicht zu erkennen, dass man bereit ist, die individuelle Lebensgestaltung zu respektieren. Auch ein sinnhaftes politisches Ziel war nicht zu identifizieren. Der Sinn fehlte überhaupt gänzlich. Diese ultimative Rechtfertigung aller Repressalien trieb sich so selbst ad absurdum. Doch durch das kollektive Bedürfnis nach Sicherheit sah sich der Staat legitimiert, den Wert des biologischen Überlebens absolut – und damit totalitär – zu setzen.

Doch über den Wert des Lebens kann keine Politik entscheiden; dies muss ein offener Prozess auf individueller und gesellschaftlicher Ebene bleiben. Im Kosmos Platons ist der Mensch nicht das Beste, hat aber eine ewige Seele, die ohnehin unsterblich ist. Wer wie die Transhumanisten selbst Hand am Schicksal anlegen will, wird überheblich. Auf die Hybris folgt die Ernüchterung.

Die aufgeklärte Selbstbestimmtheit

Die andere Möglichkeit fusst in einer radikalen Selbstreflexion, die zu Selbsterkenntnis führt. Es ist im Kern ein aufklärerischer Gedanke, ein Bekenntnis dazu, dass niemand anderes als der Einzelne selbst den Sinn seines Lebens bestimmen kann. Dieser Sinn kann seine Entfaltung auf verschiedene Weise finden: zum Beispiel im Glauben, in der Spiritualität. – Es ist die Verantwortung jedes Einzelnen, sein Koordinatensystem zu kennen, zu überprüfen und anzupassen. Diese Aufgabe scheint unumgänglich zu sein. Anthropologische Erkenntnisse legen nahe, dass ein Glaubenssystem jenseits des Materialismus fundamental für das menschliche Leben ist. Doch mit Technologie werden wir uns nicht einfach der Natur entledigen können. Technologie löst keine Sinnfrage. So hat doch gerade die Technologie der Moderne – nebst ihren zweifellos nützlichen Errungenschaften – zu unfassbaren Beschleunigungs- und Zerstörungsorgien beigetragen.

Jean Ziegler schlägt vor, jeden Tag durch Gedanken, Taten und Träume so viel Glück und Sinn wie möglich für sich und die anderen zu erschaffen. Auf diese Weise soll die Angst vor dem Tod, der Negation des Lebens, gemindert werden.

In der Akzeptanz von Ängsten und Verletzlichkeit sowie der Integration des Todes ins diesseitige Bewusstsein liegt ein grosses existenzialistisches Potenzial für den Menschen. Wenn wir Jean-Paul Sartres «Der Mensch ist zur Freiheit verdammt» als lebenspraktischen Leitfaden wählen, akzeptieren wir keine aufoktroyierten Einschränkungen mehr, die dem Menschen seine Fähigkeit und sein Bedürfnis absprechen, sein Leben selbst zu gestalten. Dann lassen wir auch nicht mehr zu, dass man uns für transhumanistische Pläne instrumentalisiert.

Die Angst vor dem Tod kann wohl verdrängt werden, doch nicht ohne Konsequenzen. Die Verdrängung führt zu einer latent psychotischen Realitätsflucht und zur Entfremdung des Selbst von der Wirklichkeit. Der Mensch muss also der Verdrängung der Angst entsagen, denn sie hält ihn in Gefangenschaft.
Ein mündiger Mensch wählt nie mehr freiwillig den Zustand der Entmündigung, der Angst und der Schuld. Der mündige Mensch bedient sich nach Immanuel Kant nicht mehr der Anleitung eines anderen, sondern benutzt seinen eigenen Verstand. Das Projekt der Aufklärung gibt es nicht umsonst: Es setzt Mut und Entschlossenheit voraus. ♦


von Armin Stalder
Credit (Bild): pexels.com – Cottonbro


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Von der Hand in den Mund

Auf dem Biohof Gumme oberhalb von Thörishaus nahe der Stadt Bern beackert eine kleine motivierte Gemeinschaft mit viel Handarbeit, Liebe und Fleiss einen kleinen steilen Flecken Land und versucht dort, neue Wege zu gehen. Das frische Obst und Gemüse vertreiben die Bäuerinnen und Bauern im Abo-System und auf regionalen Märkten. Lokal produzieren und lokal konsumieren – das hat Zukunftspotenzial.

Über dem Sensegraben am sonnenverwöhnten Südhang mit wunderbarem Ausblick auf die Gantrischkette arbeitet die kleine Gemeinschaft noch vorwiegend von Hand. Und da sie versucht, in geschlossenen Kreisläufen mit statt gegen die Natur zu arbeiten, ist ihre Wirtschaftsweise auch enkeltauglich.

«Wir möchten Landwirtschaft möglichst ressourcenschonend betreiben», sagt Betriebsleiter Thomas alias Gogo Ramser. Denn dass immer grösser auch besser sei, entspringe der überholten Idee aus Zeiten der Industrialisierung, die unter anderem zu degenerierten und vergifteten Böden, Insektensterben und vergiftetem Wasser geführt habe.

Fünf Parteien von Jung bis Alt leben und arbeiten auf dem Biohof Gumme wie in einer kleinen Dorfgemeinschaft. Die Grosselterngeneration Paula & Fritz Jost, die den Betrieb noch konventionell führten, wohnen unterdessen im schmucken Stöckli. Im Bauernhaus nebenan wohnen die beiden jungen Familien von ihrer Tochter Bea mit Gogo Ramser sowie ihrer Tochter Hanna und Marianne und Thomas Wieland mit ihren beiden Söhnen Manuel und Jaro. Der Gemüsegärtner Daniel Flühmann aus Mittelhäusern und der Weinfachmann Serge Berger aus Bern komplettieren das Gumme-Team. Dazu kommen immer wieder helfende Hände wie die von Elsbeth und Tanja, die der Gumme-Gemeinschaft freiwillig unter die Arme greifen.

Was sie alle vereint ist der Wunsch nach einer nachhaltigen Landwirtschaft mit kleinem ökologischen Fussabdruck und einem achtsamen Umgang mit Menschen, Tieren, Pflanzen, dem Boden, dem Wasser und der Luft. Die industrielle Landwirtschaft führe in eine Sackgasse, davon ist Gogo überzeugt: «Wo sie betrieben wird, sind die Böden vielerorts degeneriert und mit Schadstoffen belastet – etwa in China, den USA und in Europa. Der Humusgehalt der Böden war früher viel höher. Unterdessen ähnelt er mit 2 bis 2,5 Prozent vielerorts demjenigen in der Wüste. Der Rückhalt von Wasser und Nährstoffen in solchen Böden ist schlecht, und sie erodieren leicht.»

Hier sucht die kleine Gemeinschaft nach neuen Lösungen. Auf ihrem Land sollen auch noch ihre Kinder fruchtbare Böden antreten können. «Ich wünschte mir, dass wieder mehr Menschen in der Landwirtschaft arbeiten und dass der Boden wieder vermehrt von Hand bearbeitet wird», äussert der Betriebsleiter. So hätte einst die Hälfte der Bevölkerung in der Landwirtschaft gearbeitet, seien es heute noch magere zwei Prozent. «Deshalb fehlt den Menschen der Bezug zur Landwirtschaft und zu den Lebensmitteln. Die Nahrung sollte wieder einen höheren Stellenwert erhalten.»

An diesem schönen Sommernachmittag ist Feldarbeit Trumpf. Boden lockern ist angesagt. Mit grossen überdimensionalen Stechgabeln wird Luft in die unteren Bodenschichten transportiert und damit die Mineralisierung des Bodens unterstützt. «Das ist mein Lieblingssport», sagt Bea augenzwinkernd, während ihr der Schweiss von der Stirn rinnt. Die Bodenqualität zu verbessern sei eines der Steckenpferde der Hofgemeinschaft, wie ihr Mann und Betriebsleiter Gogo später unter dem kühlenden Laubdach des Lindenbaumes auf dem Hofplatz erzählt: «Wir arbeiten mit effektiven Mikroorganismen, den sogenannten EM, um die Bodenfruchtbarkeit zu verbessern.» Kleinstlebewesen oder Mikroorganismen bauen im Boden dauernd Stoffe um. Sie stellen den Pflanzen Nährstoffe zur Verfügung und tragen so zu einem fruchtbareren Boden bei. «Wir setzen EM auch im Stall ein gegen die Fliegen und impfen den Kompost damit.»

Ein zweiter raffinierter Helfer auf dem Hof ist der Komposttee, ein Kaltwasserauszug aus Kompost oder Regenwurmhumus. Bei dieser Methode der regenerativen Landwirtschaft werden aerobe Mikroorganismen vermehrt, um Pflanzen zu stärken und gesund zu halten. Der Tee wird aufgespritzt und damit der Pflanze ein Impuls gegeben. Dieser kurbelt die Photosynthese-Leistung der Pflanze an. Sie wird vitaler und ihr Immunsystem gestärkt, womit sie sich besser gegen Schadpilze und Schädlinge wehren kann. Während die konventionelle Landwirtschaft diesen Kleinstlebewesen mit Giften – Fungiziden, Pestiziden und Herbiziden – zuleibe rückt, setzt die Gumme-Gemeinschaft so weit wie möglich auf einen diametral entgegengesetzten Kurs: «Wir wollen die Pflanzen und den Boden stärken, damit die Natur sich selber ins Gleichgewicht bringen kann», sagt Gogo.

Damit ist die Gumme-Hofgemeinschaft bisher gut gefahren. Die Nachfrage nach ihren Gemüse-Abos ist stabil. Auch auf den Gemüsemärkten in der näheren Umgebung – Thörishaus, Mittelhäusern und Bern – ist ihr frisches und regional produziertes Obst und Gemüse ebenfalls sehr beliebt.

Dabei hatte einst alles klein angefangen: Anfangs bewirtschafteten Paula und Fritz den Hof noch zu zweit mit Helferinnen und Helfern. 2015 fand dann auch Daniel Flühmann auf dem Hof sein Glück. Er konnte einen Blätz Land übernehmen und dort sein Gemüse anpflanzen. Mittlerweile baut er eine grosse Varietät an Gemüse an und liefert seinen Abonnentinnen und Abonnenten einmal pro Woche eine kleine oder grosse Kiste Gemüse in eines der sechs Depots in der Region aus, wo die Kundschaft ihr Gemüse erntefrisch abholen kann.

Im selben Jahr legte die Gemeinschaft zusammen mit Serge Berger von der Rebenhackerei Berger aus Bern einen kleinen Weinberg mit Pinot-Noir-Reben an. Marianne und Tom leben schon länger auf dem Hof, wobei Tom mit seinem «GmüesEsel» weitherum bekannt ist. Mit seinem Carla Cargo-Veloanhänger radelt er den Hochstammbäumen in der Region nach, pflückt deren Früchte und pedalt mit bis zu 200 Kilogramm Gewicht auf dem Anhänger zurück auf den Gumme-Hof, um die Köstlichkeiten dort mit einfachsten Mitteln zu verarbeiten. Im Dorf unten bietet er der Bevölkerung überdies seine muskelbetriebenen Geräte zur Mitbenutzung an: Zwei Velos, ein Crosstrainer und ein Rudergerät treiben Mühlen zur Produktion von Polenta, Hartweizengriess, Weizenmehl oder Roggenmehl und Ölpressen zur Produktion von Rapsöl an. Auch auf dem Hof nutzt Tom ausgeklügelte Technik für seinen Dörrapparat. So sorgt ein Wasser-Luft-Tauscher dafür, dass aus dem Warmwasserüberschuss der Warmwasserkollektoren auf dem Dach warme Luft entsteht, mit der er seine Bohnen, Kirschen, Zwetschgen, Birnen und Äpfel dörren und haltbar machen kann.

Ein Einkommen aus kleinen Nebenerwerben ermöglicht der Gemeinschaft zudem noch mehr Narrenfreiheit bei ihrer innovativen Form der Landwirtschaft.

Diesen warmen Sommerabend liessen sie ausklingen bei gemeinnütziger Arbeit im Sensegraben, indem sie den Fluss von Abfällen befreiten – Idealistinnen und Idealisten durch und durch! ♦


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