Meine Klaviere und ihre Stimmungen

Klaviere sind eigensinnige, empfindliche Wesen. Man muss gut aufpassen, wie man sie anpackt und mit ihnen umgeht. Wer es sich mit ihnen verspielt, dem können sie richtig gefährlich werden.

In Zeiten von E-Pianos bekommt man alte Klaviere praktisch hintennachgeworfen. Das ist in meinem Fall fast buchstäblich gemeint, denn ich habe diese sperrigen Schmuckstücke immer von Leuten geerbt, die im dritten Stock wohnten. Jeder, der das Abenteuer Klavierumzug schon erlebt hat, weiss, dass das nicht trivial ist, sondern lebensgefährlich. Ich habe früher selbst eine Zeit lang als Zügelmann gearbeitet – jedesmal Adrenalin pur, es wird zehnmal mehr geflucht und geschrien als «normal», denn ein kleiner Misstritt auf der Treppe könnte ein gravierendes Rondo-Finale einläuten. Zügelmänner hassen Klaviere und Klaviere hassen offenbar Zügelmänner. Unfassbar, dass ein so schönes Instrument solche bad vibes auslösen kann.

Mein vorletztes Klavier war am Schluss 120 Jahre alt und todkrank. Der Klavierstimmer betrachtete es mit Abscheu durch seine Goldrandbrille, als ob es ihm eine schlimme Krankheit übertragen könnte, sobald er es berührte. «Werfen Sie es am besten direkt in die Mulde!», riet er mir. Ich war empört über seine Pietätlosigkeit und sein kaltherziges Kalkül. Er sah nichts anderes vor sich als ein elendes Wrack – ich hingegen eine altehrwürdige, treue, sterbende Freundin. Aus Protest bestellte ich mir den billigsten Stimmschlüssel aus China, den ich finden konnte und rief: «Das wäre ja gelacht!» Dieser Stimmschlüssel kam niemals an, und da ich damals in den Zeitungen von diversen schweren Containerschiffhavarien las, nehme ich an, dass er auf stürmischer See zusammen mit dem anderen Plunder über Bord ging und nun irgendwo in den Weiten des Meeres schwimmt statt stimmt. Ich orderte also den zweitbilligsten Stimmschlüssel und rief: «Jetzt aber!» Leider löste mein amateurhafter Eingriff eine unaufhaltsame Kaskade von Folgebeschwerden aus: Saiten rissen, Filzpolsterchen flogen mir nur so um die Ohren. «Polster kann ich wieder ankleben, und wozu überhaupt so viele Saiten?», redete ich mir ein. Die Aktion artete wochenlang aus, bis ich mir zähneknirschend eingestehen musste, dass es schon einen Grund gibt, wieso der Klavierstimmer eine lange, anspruchsvolle Ausbildung durchlaufen hat, um solche Operationen erfolgreich auszuführen, und ich nicht. Am Ende erzeugte das arme, geschundene Instrument nur noch höllische, blecherne Misstöne, geeignet, um John Cage zu intonieren oder den Soundtrack zu einem Endzeit-Western zu spielen. Die Quintessenz: «Do it yourself» in diesem Bereich bewährt sich nicht.

Ich beschloss danach, die alte, kranke Dame gegen eine Jüngere einzutauschen. Die Einzigen im Umkreis von 100 Kilometern, die bereit waren, die Auserwählte aus ihrem Turm im dritten Stock zu locken, waren drei verwegene Tamilen, die das Piano in einer haarsträubenden Aktion die schmale Treppe und beinahe sich selbst den Buckel runterrutschen liessen, während die entsetzte Vorbesitzerin das Spektakel zeternd kommentierte. Ich weiss noch genau, wie ich angstschweissgebadet danebenstand und mir dachte: «Gleich werde ich Zeuge eines schweren Unfalls, wie schrecklich!», während ich gleichzeitig angestrengt mitzuhelfen versuchte, das Ereignis und das Klavier mit Gebeten und Telekinese in die richtige Richtung zu lenken. Nachdem wir das überlebt hatten, beförderten wir die ausgemusterte Ex-Freundin zur Altmetalldeponie, wo die rachelustige Alte es beinahe doch noch geschafft hätte, uns zu erschlagen, weil der Tamile an der Hebebühne den falschen Knopf betätigte. Glücklicherweise drückte die himmlische Intervention an dieser Stelle rechtzeitig «Pause». Mein neues altes Klavier trudelte dann auf einem fliegenden Teppich in die Wohnung. Es wird nur mit Samthandschuhen berührt und schwingt wieder harmonisch auf wohltuenden 432 Hertz. ♦

von Christian Schmid Rodriguez


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