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«Damals» und heute – 75 Jahre Nürnberger Kodex

1947 wurde der Nürnberger Kodex, der Gründungstext der medizinischen Ethik, verfasst. Anlässlich der Feierlichkeiten zum 75. Jahrestag reiste die Holocaust-Überlebende Vera Sharav erstmals seit dem Krieg nach Deutschland. Dort stellte sie mit Entsetzen fest, wie sich die Schrecknisse einer überwunden geglaubten Vergangenheit wiederholen.

Der Nürnberger Kodex wurde 1947, im Anschluss an die Prozesse gegen die Naziverbrecher, zusammengestellt. Dabei wurden zehn Grundsätze für eine ethische Medizin festgehalten, beispielsweise die freiwillige Zustimmung des Menschen bei jeglichen medizinischen Behandlungen (informed consent). Ende August 2022 veranstalteten verschiedene deutsche Vereinigungen, die sich für medizinische Ethik engagieren, Feierlichkeiten zum 75. Jahrestag des Nürnberger Kodex. Als Ehrengast wurde Vera Sharav eingeladen, eine KZ-Überlebende und Gründerin der Organisation «Alliance For Human Research Protection», die sich für die Verteidigung und Durchsetzung des Nürnberger Kodex einsetzt. Die in Rumänien geborene 86-jährige US-Staatsbürgerin sollte an einer Kundgebung in München die Schlussrede halten. Doch die Diffamierungen und Einschüchterungen schockierten sie so sehr, dass sie ihre Teilnahme absagte. Senta Depuydt, belgische Journalistin und Gründerin von «Children’s Health Defense Europe», hatte zweimal die Gelegenheit, Vera Sharav zu interviewen, erst in Nürnberg am Vorabend der Feierlichkeiten sowie drei Wochen danach.

«Die Medizin verlieh dem Holocaust einen Anschein von Legitimität.»Vera Sharav am 19. August 2022 in Nürnberg.

Senta Depuydt: Vera, Sie sind anlässlich des 75. Jahrestages des Nürnberger Kodex aus New York angereist und besuchen Deutschland zum ersten Mal seit dem Krieg. In welcher Stimmung kommen Sie hierher?

Vera Sharav: Ich muss zugeben, dass ich ziemlich angespannt war. Auch wenn das alles schon sehr lange her ist, löst es viele Erinnerungen und Emotionen in mir aus, nach Deutschland, nach Nürnberg zu kommen. Ich wurde mit meiner Familie in Nazilager in der Ukraine deportiert, wo ich meinen Vater verlor und drei Jahre lang Hunger und Leid erlitt. Heute sieht es so aus, als ob die Welt wieder auf dem falschen Weg ist. Nie hätte ich gedacht, dass ich das erleben würde. Seit Wochen denke ich über diese Reise nach, darüber, was passieren könnte, über die Menschen, die mir zuhören werden, über das, was ich sagen werde. Es ist wirklich nicht einfach … Aber ich denke, dass ich wirklich eine Pflicht zu erfüllen habe. Ich bin eine der wenigen Personen, die sagen können, was los ist, und auch die Legitimation dafür haben.

Sie hätten bei der grossen europäischen Freiheitsversammlung in Brüssel als besonderer Gast die Schlussrede halten sollen. Fast 400’000 Menschen waren anwesend, aber die Veranstaltung wurde von der Polizei unterbrochen und die Hauptredner wurden daran gehindert, zu sprechen. Es ist spürbar, dass Menschen wie Sie gewisse Leute stören.

VS: Ja, offensichtlich … Mit der Komplizenschaft der Medien wird jede Erwähnung einer autoritären Politik von Regierungen oder medizinischen Behörden nicht nur zensiert, sondern als «Missbrauch des Andenkens an die Opfer des Holocaust» abgestempelt. Das ist wahnhaft! Die Daseinsberechtigung des Nürnberger Kodex besteht doch gerade darin, der Gegenwart zu dienen. Er soll eine Leitplanke sein, ein Schutz für künftige Generationen vor der globalen Bedrohung, der unsere Zivilisation heute ausgesetzt ist.

Man kann sagen, dass der Nationalsozialismus nach dem Krieg nicht völlig verschwunden ist. Aber in der aktuellen Situation geht die Gefahr wohl eher von der Eugenik aus: Sie bedroht uns weltweit. Wir müssen immer wachsam bleiben – vergessen wir nicht, dass dies nicht von einem Tag auf den anderen passiert. In Deutschland wurde alles im Jahrzehnt vor dem Krieg in Gang gesetzt, die Rechte und Freiheiten wurden schrittweise abgeschafft. Dann startete das eugenische Programm in Zusammenarbeit mit der damaligen Medizin und den wissenschaftlichen Instituten. Zu den ersten Opfern der Nazis gehörten etwa 10’000 deutsche Kinder, Waisen und Behinderte, die von Regierungsärzten heimlich euthanasiert wurden – das T4-Programm. Die Ärzte logen die Eltern an und beseitigten in den Heimen diese Menschen, die man als Kümmerlinge betrachtete, als unnötige Mäuler, die es zu stopfen galt. All dies geschah unter Berufung auf die Wissenschaft und das Gemeinwohl. Später wurden Juden aus «hygienischen Gründen» in Ghettos gesperrt, weil sie angeblich Typhus verbreiteten.

Denken wir daran, was während der Pandemie geschehen ist: Vielen Menschen wurde der Zugang zu medizinischer Versorgung verwehrt. Andere wurden mit gefährlichen Protokollen und überdosierten Medikamenten behandelt, insbesondere ältere Menschen und Behinderte. Ganz zu schweigen davon, dass Menschen verpflichtet wurden, sich mit experimentellen Produkten impfen zu lassen. All dies steht in völligem Widerspruch zu den Grundsätzen des Nürnberger Kodex.

Warum ist dieser Kodex so wichtig?

VS: Aus mehreren Gründen: zunächst einmal aufgrund seines historischen und rechtlichen Wertes. Im Gegensatz zu anderen Rechtsinstrumenten wurden die Grundsätze des Kodex im Anschluss an den Prozess gegen die Naziverbrecher von den Richtern formuliert. Diese Grundsätze galten auf internationaler Ebene als höchste Referenz, sie wurden häufig kopiert und ganz oder teilweise in nationale Gesetze aufgenommen, im gleichen Sinne wie die Menschenrechte.

Zweitens ist es das erste Mal in der Geschichte, dass Ärzte verurteilt und hingerichtet wurden. Die Verantwortung eines Arztes besteht darin, Leben zu retten. Es ist nicht erlaubt, Menschen bei medizinischen Experimenten zu töten, nur weil man im Auftrag der Regierung handelt. Das Grundlegende an dem Kodex ist, dass er die Verantwortung und die Wahl des Einzelnen festschreibt, sowohl im Konzept der Einwilligungserklärung des Patienten oder Versuchsobjekts als auch in der persönlichen Verantwortung des Arztes. Dies ist nicht nur die Grundlage der medizinischen Ethik, sondern auch das, was die Demokratie von kommunistischen und faschistischen Regimen unterscheidet. Wenn eine Gesellschaft beginnt, diese Prinzipien zu ignorieren oder neu zu interpretieren, ist sie auf dem falschen Weg.

Dieses Risiko ist sehr real, aber niemand wagt es, die Parallelen zur heutigen Politik anzusprechen. Die Menschen sind verblendet und nicht in der Lage, das zu denken. In meinem Umfeld, der jüdischen Gemeinde in New York, leben die meisten Menschen in meinem Alter ziemlich isoliert. Sie leben in ihrer eigenen Blase und vertrauen den Medien. Sie wurden mit der Krankheit und dem Virus in Angst und Schrecken versetzt und haben nicht realisiert, was vor sich geht. Als ich mich zu Beginn der Pandemie geäussert hatte, wurde ich jedoch von anderen Überlebenden kontaktiert, die ebenfalls empört und zutiefst schockiert darüber sind, wie unsere Gesellschaft zerstört wird. Natürlich hört man von ihnen nie etwas in den Medien. Viele haben Angst davor, aber es wäre sehr wichtig, dass sie zu Wort kommen, denn sie könnten wirklich Menschen wachrütteln. …

von Senta Depuydt


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Die Rettung der Bourbaki-Armee

Als die Schweiz Neutralität und Solidarität wirklich lebte.

Aus der Geschichte können wir lernen, was Neutralität und Solidarität einst für die Eidgenossenschaft bedeuteten: Im Deutsch-Französischen Krieg half die Schweiz Zehntausenden verzweifelten Menschen aus der Not.

Wir schreiben das Jahr 1870. Am 19. Juli bricht der Deutsch-Französische Krieg aus. Einen Tag zuvor hatte der schweizerische Bundesrat mit einer offiziellen Note die Neutralität erklärt. Diese wird den Kriegsführenden zur Kenntnis gebracht. Bismarck erinnert die Schweiz daran, dass sie zur Aufrechterhaltung der Neutralität militärische Massnahmen zu ergreifen habe, was bedeutet: Sie ist verpflichtet, allfällige Übergriffe auf schweizerisches Territorium mit Waffengewalt zu verhindern. Bismarck schätzt die Abwehrkraft der Schweiz als hoch ein und bezeichnet die Schweizer Armee in den Memoranden von 1858 und 1868/69 als «starke und wohlorganisierte Miliz».

Die Schweiz ist auch wirklich gewillt, ihr Territorium zu schützen. So werden bereits einige Tage vor Kriegsausbruch fünf Divisionen mit insgesamt 37’000 Mann zum Schutz der nördlichen Grenze aufgeboten. Der Rest der Armee wird auf Pikett gestellt. Hans Herzog aus Aarau wird zum General der aufgebotenen Schweizer Armee ernannt. Nachdem im August 1870 die militärischen Ereignisse nördlich der Schweiz abgenommen haben, wird ein Grossteil der Truppen demobilisiert und das Oberkommando aufgelöst.

Allerdings bittet ein Schweizer Divisionskommandant, der mit seiner Truppe am 12. Januar 1871 an der Grenze steht, den Bundesrat wieder um Verstärkung, da vor der Nordwestgrenze starke deutsche Verbände in schwere Kämpfe mit der französischen Bourbaki-Armee verwickelt sind. Der Kriegsschauplatz verlagert sich nach Westen und die Schweizer Einheiten werden entsprechend nachmobilisiert. Im Vergleich zu den rund 200’000 Mann auf der anderen Seite der Grenze ist das Schweizer Aufgebot mit rund 20’000 Mann geradezu bescheiden.

Der französische Hilferuf

Ende Januar 1871 gerät die Bourbaki-Armee (benannt nach General Charles Denis Bourbaki; offiziell hiess sie L’Armée de l’Est) in Rücklage und wird von den Deutschen gegen die Schweizer Grenze gedrängt. General Bourbaki hatte aus Verzweiflung bereits am 26. Januar 1871 einen Suizidversuch unternommen, die Armee wurde danach von General Clinchant geführt. Am 1. Februar 1871 um 2 Uhr morgens erscheint ein hoher französischer Offizier im Grenzort Les Verrières und wünscht den Schweizer General Herzog zu sprechen, um mit ihm den Übertritt seiner Armee in die Schweiz zu verhandeln. Da er aber keine schriftliche Vollmacht besitzt, schickt ihn Herzog wieder zurück, eine solche zu besorgen. Die so gewonnene Zeit nutzt Herzog, um die Übertrittsbedingungen zu bereinigen, die er stellen will. Grundlage dazu bildet eine Verordnung des Bundesrats vom 16. Juli 1870, wonach übertretende einzelne Flüchtlinge oder Deserteure auf angemessene Entfernung zu internieren und bei Auftreten in grösserer Zahl an einem oder mehreren geeigneten Plätzen im Innern der Schweiz unterzubringen, militärisch zu organisieren und zu (ver-)pflegen seien. 90 Minuten später kehrt der französische Offizier mit der Vollmacht zurück und Herzog diktiert die Bedingungen in einem Privathaus in Les Verrières. …

von Marco Caimi


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Der Geist Europas

Ulrike Guérot ist Professorin für Europapolitik an der Uni Bonn und eine der prominentesten Kritikerinnen der Corona-Massnahmen-Politik. Nachdem sich ihr Essay «Wer schweigt, stimmt zu» über Monate hinweg in den deutschen Bestsellerlisten hielt, erscheint mit «Endspiel Europa» nun ihr nächster Querangriff inklusive Utopie-Entwurf. Wir sprachen mit ihr über den Traum Europa, seine Defizite und die Notwendigkeit der Transzendenz.

«DIE FREIEN»: Liebe Ulrike, seit mehr als 30 Jahren setzt du dich mit Europa, seiner Vergangenheit und Zukunft, seinen Problemen und Potenzialen auseinander. Dabei kommst du immer öfter auf das geistige, das spirituelle Erbe Europas zu sprechen. Warum?

Ulrike Guérot: Mein Nachdenken über oder meine Arbeit an Europa fing 1992 an. Das war zum Zeitpunkt des Maastrichter Vertrags, was ja hiess: «Ever closer union», also «immer engere Union». Zu diesem Zeitpunkt war ich im Bundestag und habe hautnah mitbekommen, wie dieser Vertrag verhandelt wurde und eine Aufbruchsstimmung auslöste. Ich kann mich heute noch daran erinnern, wie freudig damals alle darüber waren, sich in ein geeintes Europa hineinzudenken. Das hat mich nicht verlassen, über viele Jahre, ganz egal, wo ich war – in Brüssel, in Washington, in Wien oder in Berlin. Dieses Nachdenken über Europa, dabei aber auch zu sehen, wie sich die EU immer mehr von dem entfernte, was Europa sein sollte. Das wurde dann auch mein Thema: Eine neoliberale EU, Institutionen, die nicht funktionieren, die fehlende Bindung der EU mit den Bürgern, die populistische Ablehnung der EU. Das ist alles nicht mehr das, wovon wir 1992 geträumt haben. Damals hatte Europa auch eine spirituelle Dimension. Vielleicht sind mir deshalb aus meiner Arbeit für Jacques Delors, den EU-Kommissionspräsidenten 1985 – 1995, die folgenden Sätze besonders in Erinnerung geblieben: «Wir müssen Europa eine Seele geben» und «In einen Binnenmarkt kann man sich nicht verlieben». Denn gerade jetzt, wo Europa sich beinahe wieder im Krieg befindet, habe ich das Gefühl, dies ist ein Verrat an der europäischen Erzählung, an Europa. «Nie wieder Krieg» hiess es. Aber heute kämpft Europa wieder für einen vermeintlich geeinten Nationalstaat. Dabei sollte Europa die Überwindung der klassischen Nationalstaaten sein. Dieser fundamentale Verrat an den europäischen Werten springt mir gerade sehr ins Auge. Und deswegen wünsche ich mir tatsächlich, dass Europa seine Transzendenz, seine Spiritualität oder seinen Geist wiederfindet. Im Sinne von Jacques Delors: Wir werden Europa nicht mit Waffen beseelen.

Wie sähe eine spirituell-geistige Transzendenz Europas aus?

UG: Erst einmal braucht es mehr als einen Markt. Es ist ein grosses Problem, dass die Einbettung des Binnenmarktes in ein politisches Projekt Europa nie richtig gelungen ist. Es hat die europäischen Bürger mürbe gemacht, es hat sie gegen Europa gewendet. Viele bemerken das heute. Vielleicht war deswegen mein 2016 erschienenes Buch «Warum Europa eine Republik werden muss» ein so grosser Erfolg. Das hat eigentlich gezeigt, wie viele Leute schon damals im Zusammenhang mit Brexit, Populismus, Orban, PiS usw. das Gefühl hatten: die EU ist nicht die Utopie Europas, sie ist nicht das, wovon wir geträumt hatten. Wir wollen diese EU nicht, aber wir wollen Europa. Europa muss anders werden, une autre Europe, alter Europa, so heissen die Debatten. Und auf dieses «anders» kommen wir jetzt: Was hiesse diese Transzendenz, diese Beseelung Europas? Davon handelt das letzte Kapitel meines neuen Essays «Endspiel Europa». Dort habe ich ausgeführt, dass Europa aus einer Denk- und Geistestradition kommt, die im besten Sinne republikanisch ist. Und das muss man im Wortsinne verstehen: Wir reden derzeit sehr viel über Demokratie, aber selten über die Republik. Die Republik aber ist von Platon über Aristoteles, Cicero, Rousseau, Kant der Begriff dafür, wie in Europa seit 2000 Jahren politische Ordnungen und Bürger-Staat-Beziehungen geregelt werden. Insofern ist die Republik eigentlich das Juwel der europäischen Geistesgeschichte. Republik – also res publica – bedeutet schliesslich Gemeinwohl – dem Gemeinwohl unterstellt. …

von Lilly Gebert


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Die andere Seite der Wahrheit

Ohne den Völkerrechtsbruch des US-Präsidenten Obama vor acht Jahren hätte es die illegale Militärinvasion Putins vermutlich nicht gegeben.
Am 24. Februar 2022 gab Russlands Präsident Wladimir Putin seiner Armee den Befehl, in die Ukraine einzumarschieren – ein Verstoss gegen das UNO-Gewaltverbot und daher illegal. Fast genau acht Jahre zuvor, am 20. Februar 2014, liess US-Präsident Barack Obama die Regierung in der Ukraine stürzen, um das Land in die NATO zu ziehen. Dieser Putsch ist die Wurzel des Ukrainekrieges. Gleich wie die Invasion von Putin war auch Obamas Verhalten ein Verstoss gegen das UNO-Gewaltverbot und daher illegal. Es wird Zeit, sich nicht länger mit Halbwahrheiten der einen oder der anderen Seite zufriedenzugeben und die Geschichte des Konflikts vollständig und ausgeglichen zu erzählen.

Wir hören nur die halbe Geschichte
Derzeit liest und hört man in den Medien viel über die Invasion von Putin, die zu Recht kritisiert wird. Aber man liest und hört praktisch gar nichts über den Putsch von Obama. Warum wird uns nur die halbe Geschichte erzählt?
Haben die USA wirklich die Regierung in der Ukraine gestürzt? Warum hat das damals fast niemand bemerkt? Und welche historischen Belege gibt es dafür? Solche und ähnliche Fragen erhalte ich derzeit oft.
Als Historiker und Friedensforscher habe ich seit Jahren zu den offenen und verdeckten Kriegen der USA geforscht und in meinem Buch «Illegale Kriege» auch den Putsch in der Ukraine beschrieben. «Es war ein vom Westen gesponserter Putsch, es gibt kaum Zweifel daran», erkannte schon der frühere CIA-Mitarbeiter Ray McGovern.

In Berlin habe ich ein Jahr nach dem Putsch am 10. Mai 2015 einen Vortrag über die Ereignisse in der Ukraine gehalten und dort gezeigt, dass Präsident Obama tatsächlich die Regierung in der Ukraine gestürzt hat. Wer möchte, kann sich den Vortrag hier ansehen.

Konfrontation der Atommächte
Der Ukrainekrieg ist ein besonders delikater internationaler Konflikt, weil sich hier die USA und Russland gegenüberstehen, die beide über Atomwaffen verfügen. Wie bei der Kubakrise spielen beide Seiten mit verdeckten Karten und versuchen, die Ukraine in ihren Einflussbereich zu ziehen.
Nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion erklärte die Ukraine 1991 ihre Unab­hängigkeit von der Sowjetunion. Die Schwäche von Moskau gab Washington erstmals die Chance, den US-Einfluss auf Osteuropa auszudehnen und die früher von Moskau kontrollierten ehemaligen Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes in die NATO aufzunehmen.

Die NATO-Osterweiterung und der Gipfel von Bukarest
Obschon die USA gegenüber Russland versprochen hatten, die NATO werde sich nicht ausdehnen, geschah genau dies. Polen, Tschechien und Ungarn wurden im Jahre 1999 NATO-Mitglieder. Und beim NATO-Gipfel in der rumänischen Hauptstadt Bukarest im April 2008 erklärte US-Präsident George Bush, man werde auch die Ukraine in die NATO aufnehmen. Russland war erzürnt, denn die Ukraine grenzt direkt an Russland. Und auch in den USA gab es mahnende Stimmen. «Man stelle sich die Empörung in Washington vor, wenn China ein mächtiges Militärbündnis schmiedete und versuchte, Kanada und Mexiko dafür zu gewinnen», warnte der amerikanische Politologe John Mearsheimer von der Universität Chicago. Gemäss Mearsheimer hat der Westen die Russen unnötig provoziert und ist daher schuldig an der Krise in der Ukraine.

Senator John McCain auf dem Maidan
Auf dem Maidan, dem zentralen Platz der ukrainischen Hauptstadt Kiew, demonstrierten Ende 2013 immer mehr Menschen gegen die Regierung von Präsident Viktor Janukowitsch und Premierminister Nikolai Asarow. Der bekannte Exboxweltmeister Vitali Klitschko führte die Demonstrationen an und hielt in enger Absprache mit den USA flammende Reden. In dieser angespannten Lage flog der einflussreiche US-amerikanische Senator John McCain in die Ukraine und besuchte am 15. Dezember 2013 Klitschko und das Protestlager auf dem Maidan. Der US-Senator ermunterte die Demonstranten, die ukrainische Regierung zu stürzen. Man stelle sich die Empörung in Washington vor, wenn ein bekannter russischer Parlamentarier nach Kanada fliegen würde, um dort Protestierende in der Hauptstadt Ottawa zu unterstützen, die kanadische Regierung zu stürzen. Genau das taten die USA in der Ukraine.

Die US-Botschaft in Kiew koordiniert die Proteste
Die Anführer der Proteste auf dem Maidan gingen in der US-Botschaft ein und aus und holten sich dort ihre Befehle. Einige Demonstranten waren bewaffnet und gingen gewaltsam gegen die Polizei vor. «Die Amerikaner forcierten erkennbar die konfrontative Entwicklung», erinnert sich Premierminister Nikolai Asarow, der gestürzt wurde.
In der US-Botschaft in Kiew war es US-Botschafter Geoffrey Pyatt, der die Demonstranten unterstützte und dadurch die Ukraine destabilisierte. Botschafter Pyatt war in direktem Kontakt mit Exboxer Klitschko. Die gut organisierte Demonstration auf dem Maidan wurde immer grösser und die Spannungen in Kiew nahmen zu.
Auch der heutige US-Präsident Joe Biden war direkt in den Putsch involviert, da auch er die Demonstration auf dem Maidan unterstützte. Im Dezember 2013 rief Biden, damals Vizepräsident unter Obama, in der Nacht Präsident Janukowitsch an und drohte ihm mit Strafen, wenn er den Maidan durch die Polizei räumen lasse. Janukowitsch hat daraufhin die geplante Räumung zurückgezogen.

Die fünf Milliarden Dollar von Victoria Nuland
Im US-Aussenministerium war Victoria Nuland für den Putsch verantwortlich. Nuland war unter US-Aussenminister John Kerry als stellvertretende Aussenministerin eine hochrangige Mitarbeiterin von Präsident Obama. Unter Präsident Donald Trump verlor Nuland an Einfluss, wurde aber von Präsident Joe Biden wieder als Staatssekretärin ins Aussenministerium berufen. In der Ukraine wollte Nuland Premierminister Nikolai Asarow und Präsident Viktor Janukowitsch stürzen, um das Land in die NATO zu ziehen, wie es am Gipfel von Bukarest beschlossen worden war. Die Anführer der De-monstration auf dem Maidan holten sich in der US-Botschaft nicht nur ihre Befehle, sondern auch ihre Bezahlung.
Im Dezember 2013, zwei Monate vor dem Putsch, hatte Nuland in einem Vortrag erklärt: «Wir haben mehr als fünf Milliarden Dollar investiert, um der Ukraine zu helfen, Wohlstand, Sicherheit und Demokratie zu garantieren.» Das führte auch in den USA zu Kritik. Der frühere US-Kongressabgeordnete Ron Paul fragte öffentlich: «Wir haben gehört, wie die stellvertretende US-Aussenministerin Victoria Nuland damit geprahlt hat, dass die USA fünf Milliarden Dollar für den Regimewechsel in der Ukraine ausgegeben haben. Warum ist das okay?»
Dass ein Teil der Demonstranten in der Ukraine bezahlt wurde, war damals ein offenes Geheimnis. «Es gibt Leute wie den US-Milliardär George Soros, die Revolutionen finanzieren. Soros hat auch den Maidan unterstützt, hat dort Leute bezahlt – die haben in zwei Wochen auf dem Maidan mehr verdient als während vier Arbeitswochen in der Westukraine», erklärte die Ukraine-Expertin Ina Kirsch gegenüber der «Wiener Zeitung». «Es gibt genügend Belege dafür, dass sowohl auf dem Maidan als auch auf der Gegenveranstaltung, dem ‹Antimaidan›, Leute bezahlt wurden», so Ina Kirsch, die in Kiew vor Ort war. «Es gab Preise für jede Leistung. Ich kenne Leute, die haben morgens auf dem Antimaidan bei der Gegendemo abkassiert, sind dann rüber auf den Maidan und haben dort nochmals kassiert. Das ist in der Ukraine ja nichts Ungewöhnliches.»

«Fuck the EU»: Das Telefonat vor dem Putsch
Der zentrale Beweis für die Beteiligung der USA am Putsch in der Ukraine ist ein abgehörtes Telefongespräch zwischen Victoria Nuland und Botschafter Geoffrey Pyatt, das diese am 7. Februar 2014 führten, nur wenige Tage vor dem Putsch.
Nuland sagt im Telefongespräch, wer in der Ukraine nach dem Putsch die neue Regierung bilden sollte. «Ich denke nicht, dass Klitschko Teil der neuen Regierung sein sollte, ich glaube, das ist nicht nötig und keine gute Idee», bestimmt Nuland. «Ich denke, Jazenjuk ist der richtige Mann, er hat die notwendige Erfahrung in Wirtschaft und Politik.» 
Tatsächlich wurde Arsenij Jazenjuk nach dem Putsch Premierminister in der Ukraine. Vitali Klitschko musste sich mit dem Posten des Bürgermeisters von Kiew zufriedengeben. Dies beweist, dass Victoria Nuland für die USA den Putsch plante und erfolgreich durchführte. Ban Ki-moon von der UN «könnte helfen, das wasserfest zu machen, und weisst du was, fuck the EU», sagte Nuland im abgehörten Gespräch wörtlich, was bei Bundeskanzlerin Angela Merkel zu einiger Empörung führte.

Scharfschützen lassen die Lage am 20. Februar 2014 eskalieren
Ende Februar eskalierte die Situation auf dem Maidan. Am 20. Februar 2014 kam es zu einem Massaker, als nicht identifizierte Scharfschützen aus verschiedenen Häusern auf Polizisten und Demonstranten schossen, es gab mehr als 40 Tote. Chaos brach aus. Sofort wurden die amtierende Regierung von Präsident Viktor Janukowitsch und seine Polizeieinheit Berkut für das Massaker verantwortlich gemacht, obschon diese kein Interesse daran hatten, dass die Lage eskalierte, da sie sich ja nicht selber stürzen wollten. «Die Welt darf nicht zuschauen, wie ein Diktator sein Volk abschlachtet», kommentierte Vitali Klitschko, der die Regierung stürzen wollte, im deutschen Boulevardblatt «Bild».
Der Regime Change war erfolgreich: Präsident Janukowitsch wurde gestürzt und floh nach Russland. Er wurde durch den Milliardär Petro Poroschenko ersetzt, der als Präsident umgehend erklärte, er wolle die Ukraine in die NATO führen.

Obama spricht über den Putsch
Ein Jahr nach dem Putsch hat US-Präsident Obama mit CNN über den Machtwechsel in der Ukraine gesprochen, dabei aber die Rolle der USA verschleiert. «Putin wurde durch die Proteste auf dem Maidan auf dem falschen Fuss erwischt», sagte Obama. «Janukowitsch ist geflohen, nachdem wir einen Deal zur Machtübergabe ausgehandelt hatten.» Dass Obama tatsächlich die Regierung in der Ukraine gestürzt hatte, erfuhren die Zuschauer von CNN nicht.

Putin spricht über den Putsch
Aber die Russen wussten, dass die USA den Putsch organisiert hatten, und waren sehr verärgert. «Ich glaube, dass diese Krise willentlich geschaffen wurde», sagte Präsident Putin gegenüber der italienischen Zeitung «Corriere della Sera». Die NATO-Länder hätten den Putsch verhindern können, zeigte sich Putin überzeugt.
«Wenn Amerika und Europa zu jenen, die diese verfassungswidrigen Handlungen begangen haben, gesagt hätten: ‹Wenn ihr auf eine solche Weise an die Macht kommt, werden wir euch unter keinen Umständen unterstützen. Ihr müsst Wahlen abhalten und sie gewinnen›, dann hätte sich die Lage völlig anders entwickelt.»

Die Sezession der Krim
Präsident Wladimir Putin hatte nicht die Absicht, die Ukraine kampflos aufzugeben. Unmittelbar nach dem Sturz von Janukowitsch gab er in den frühen Morgenstunden des 23. Februar 2014 den Auftrag, mit der «Rückholung» der Krim zu beginnen. Russische Soldaten in grünen Uniformen ohne Abzeichen besetzten am 27. Februar 2014 alle strategischen Punkte in Simferopol, der grössten Stadt auf der Halbinsel Krim.
Schon am 16. März 2014 stimmten 97 Prozent der Bevölkerung der Krim für den Austritt aus der Ukraine und den Anschluss an Russland. Seither gehört die Halbinsel Krim nicht mehr zur Ukraine, sondern zu Russland.
Weder die USA noch Russland haben sich im Ukrainekrieg an das Völkerrecht gehalten. Zuerst brach Obama das Völkerrecht mit dem Putsch am 20. Februar 2014. Als Reaktion darauf brach auch Putin das Völkerrecht mit der Besetzung der Krim am 23. Februar 2014. Die Besetzung der Krim durch Russland «war ein Bruch geltenden Völkerrechts (…) die völkerrechtliche Souveränität und die territoriale Integrität der Ukraine wurden missachtet», erklärt Dieter Deiseroth, früher Richter am Bundesverwaltungsgericht. Der Westen kritisierte Putin nun scharf, obschon er selbst «in zahlreichen Fällen immer wieder gegen geltendes Völkerrecht verstossen hat und verstösst (Kosovo, Irak, Afghanistan, Libyen, Drohnenkrieg, Guantanamo et cetera), was seine Glaubwürdigkeit schwer beschädigt hat».

Der Donbas spaltet sich ab
Nach dem Putsch in Kiew und der Sezession der Krim stürzte die Ukraine in einen Bürgerkrieg. Der neue Premierminister Arsenij Jazenjuk versuchte mit der Armee, dem Geheimdienst und der Polizei, das ganze Land unter seine Kontrolle zu bringen. Doch nicht alle Soldaten, Polizisten und Geheimdienstmitarbeiter folgten den Weisungen der Putschregierung. Im an Russland angrenzenden russischsprachigen Osten der Ukraine erklärten die Bezirke Donezk und Lugansk, dass sie die Putschregierung in Kiew nicht anerkennen würden. Die Separatisten besetzten Polizeistationen und Verwaltungsgebäude und argumentierten, die neue Regierung habe keine Legitimität, da sie auf illegalem Wege an die Macht gelangt sei.
Premierminister Jazenjuk wies dies vehement zurück und erklärte, alle Separatisten seien Terroristen. CIA-Direktor John Brennan flog nach Kiew, um die Putschisten zu beraten. Am 15. April 2014 begann die ukrainische Armee mit Unterstützung der USA ihren «Antiterror-Sondereinsatz» und griff die Stadt Slawjansk im Bezirk Donezk mit Panzern und Schützenpanzern an. Damit begann der ukrainische Bürgerkrieg, der in acht Jahren mehr als 13000 Tote forderte und am 24. Februar 2022 zur illegalen Invasion durch Putin führte.

Der Putsch in Kiew gibt Putin kein Recht, in der Ukraine einzumarschieren und damit das Völkerrecht zu brechen. Aber wenn wir im Westen den Putsch von 2014 ignorieren, werden wir den Ukrainekrieg nie verstehen können. ♦

von Daniele Ganser
erstmals erschienen im Rubikon, 12.3.2022 (online)
Credit (Photo): Michael Peter


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