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Autor: Jérôme Schwyzer

We(h)r will denn eine solche Pflicht?

Seit ich politisch interessiert und aktiv bin, hat mich eine Position der liberal-konservativen Parteien immer sehr irritiert, habe ich doch insbesondere diese eine Position stets als ein grobes Missverständnis betrachtet. Ein Missverständnis darüber nämlich, was die Rolle des Einzelnen, des Individuums im Verhältnis zur Gesellschaft, zum Staat, ist. Bürgerliche Parteien, auch jene, die sonst konsequent und stringent freiheitlich-staatskritisch argumentieren und dabei stets den Einzelnen und dessen Rechte ins Zentrum ihrer Überlegungen stellen, vor allem und insbesondere gegen die Anforderungen und Angriffe von links, sind in dieser Frage stets quergestanden, stets falsch gestanden, fast so wie ein Stürmer, weit im Abseits.

Ich rede nämlich von der Wehrpflicht. Sie ist mit einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung nicht in Einklang zu bringen. Sie ist aus liberaler Sicht grundfalsch. Und sie ist es wohl auch aus ethischer Sicht. Aus christlicher Sicht. Denn die Wehrpflicht greift nachhaltig und sehr massiv in die persönliche Freiheit und auch ins Gewissen eines jeden Einzelnen ein und verpflichtet ihn, sich für eine lange Zeit in den Dienst der Gemeinschaft, der Gesellschaft, des Vaterlands zu stellen. Und dies nicht selten gegen seinen Willen.

Gerade für liberale und konservative Parteien, die immer und überall die Freiheit des Einzelnen propagieren, und dies zu Recht propagieren, ist dies eine verwunderliche Position, eigentlich eine unmögliche Position.

Denn: Wie kann man gegen eine Serafe-Gebühr sein, gegen eine zu hohe Steuerpflicht, gegen eine Hundehalter-Grundkurs-Pflicht, gegen all diese und alle möglichen anderen Pflichten, aber nicht gegen die Pflicht, die sehr weit, wohl am allerweitesten ins Privatleben hineinreicht?

Wie kann eine freiheitliche Partei dem Staat das Recht in die Hand geben, aus freien und mündigen Bürgern Vasallen des Staates zu machen? Eines Staates notabene, der immer übergriffiger, immer unverschämter handelt? Weshalb um alles in der Welt soll also ein Staat ein solches Recht auf den Zugriff auf seine Bürger (nicht Bürgerinnen!) haben? Ein Recht darauf, sie für Monate in einer Rekruten-«Schule» herumzukommandieren und dann, die nächsten Jahre, dazu zu verknurren, sich – oft langweilend – in irgendeiner Kaserne zu verdingen?

Doch ganz egal, ob man sich langweilt oder etwas Sinnvolleres macht: Die zentrale Frage ist nicht die nach dem Inhalt, sondern jene nach der Legitimation. Deshalb dient auch der Zivildienst als Ausrede nicht. Denn: Was gibt dem Staat das Recht, mich einzuziehen – und sei es nur für eine Woche oder einen Tag oder auch nur eine einzelne Stunde –, um im besten Fall mich in einem Bunker zu langweilen, im schlechteren Fall an einem Schwingfest die Besoffenen zu betreuen, und im allerschlimmsten Fall mitzuhelfen, die Bevölkerung gegen Corona zu «immunisieren», in vielen Fällen gegen deren expliziten Willen?

Die letzten Jahre haben diese meine Position noch stark akzentuiert: Während vor dieser «Pandemie» meine Position eine rein politische war, ist es jetzt auch eine emotionale. Und: eine mehr und mehr moralische.

Das Militär und auch der Zivilschutz haben eine wesentliche Rolle gespielt im Aufziehen dieses Unrechtsregimes, das wir in den vergangenen Jahren erlebt haben. Hier mitzuhelfen wäre Verrat. An meinen Mitmenschen. An meinem Gewissen. An meinem Gott, auch das.

Deshalb: Es ist höchste Zeit, die Wehrpflicht abzuschaffen. Subito. Tutti quanti. Und es ist insbesondere Zeit für den zivilen Ungehorsam, sich gewissen «Pflichten» zu verweigern. Mit Verweis aufs Gewissen. Mit Verweis auf die individuelle Freiheit. So wie es früher – als viele von ihnen noch an der persönlichen Freiheit interessiert waren – die Linken getan haben. Wobei sie für ihre mutigen Überzeugungen nicht selten im Bunker gelandet sind.

Natürlich kenne ich den berühmtesten Einwand gegen diese Position: Sicherheit geht uns alle an. Die Verteidigung der Schweiz ist Sache aller wehrhaften Schweizer (nicht Schweizerinnen!), und deshalb sollen sich auch alle in den Dienst des Landes stellen. Mit Verlaub: Dies ist Blödsinn. Denn: Wenn dem so wäre, könnte keine Polizei funktionieren und auch keine Feuerwehr, die sich grossmehrheitlich aus Freiwilligen rekrutieren und ganz ohne Zwang auskommen.

Eine freiwillige Armee schliesslich wäre einem Wettbewerb unterworfen. Man müsste um Menschen ringen, anstatt sie einfach einzuziehen und herumzukommandieren. Man müsste die Armee attraktiver gestalten, damit mehr Menschen dort ihre Zukunft sähen, sei es beruflich oder in einem Milizengagement. Und man muss diesen Menschen die Möglichkeit geben, davonlaufen zu können, wenn ihnen das, was befohlen, zu krude oder zu unsinnig wird. Denn: Was auf Freiwilligkeit basiert, ist immer und in jedem Fall besser, hat immer das solidere Fundament als Zwang und blinder Gehorsam.

Höchste Zeit also, dass wir die Wehrpflicht abschaffen. Höchste Zeit also, dass wir immer mehr staatliche Pflichten und Zwänge abschaffen und stattdessen eine Gesellschaft auf dem Fundament von Freiwilligkeit und Wohlwollen aufbauen. ♦

von Jérôme Schwyzer

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Jérôme Schwyzer ist Lehrer und Präsident des Lehrernetzwerks Schweiz


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Ode an den November

Unsere Beziehung war lange Zeit kompliziert und schwierig – sogar belastend. Es war keine Liebe auf den ersten Blick, ganz im Gegenteil. Jeder Gedanke an dich erfüllte mich mit Schrecken. Überall Nebel. Eine sehr dunkle Vorahnung. Das nackte Grau. Das nackte Grauen.
Und immer, wenn du dann wieder an mir vorbeigezogen warst, jedes Jahr, exakt um die gleiche Zeit, liessest du mich verwundet zurück. Ich war gezeichnet von deiner Erbarmungslosigkeit. Und ich fühlte diese grosse Erleichterung, wenn deine Kälte wieder vorüber war, wenn sie endlich vorüber war – für ein Jahr. Wenn ich dich einmal mehr überlebt hatte – immer zuverlässig nach 30 Tagen. Denn zuverlässig, das warst du schon immer.

Dass sich dies zu einer Liebesgeschichte zwischen uns entwickeln würde, kann ich mir bis heute nicht erklären. Vielleicht liegts am Alter. Mit dem Alter kann man vieles begründen und erklären: Wieso also nicht auch eine neue Liebe? Einen neuen Vertrauten? Vielleicht hats auch mit einer neuen Erdung, einer neuen Gelassenheit zu tun, die irgendwann kommt. Irgendwann. Mit dem Alter. Vielleicht ist es auch ein Wunder. Wer weiss das schon.

Am Anfang unserer Liebesbeziehung stand die uralte Erkenntnis, dass im Sterben Schönheit liegt. Ein Baum, nackt, seiner Schönheit beraubt, nur umschlossen von Eis und Frost. Selbst als Betrachter spürt man das Sterben – und gleichzeitig die darin liegende Kraft. Denn auf den Tod folgt die Auferstehung – im Frühling.
Das ist auch die Hauptaussage des Evangeliums, übrigens: Ein sterbender Mann am Kreuz, der durch Seinen Tod, durch Sein Sterben dort oben, erhöht und zutiefst erniedrigt, Seinen Nachfolgern neues und ewiges Leben verspricht. Und dieses Versprechen auch hält. Mit der Auferstehung – an Auffahrt.

Lange war der Tag des Herbstbeginns für mich der schlimmste Tag von allen. Das Wissen darum, dass es von nun an für eine sehr lange Zeit steil bergab geht. Unaufhaltbar Richtung Kälte. Richtung Finsternis. Unheimlich. Und während der Oktober, dieses letzte Bollwerk gegen die unaufhaltsame Dunkelheit uns doch zu
versöhnen und zu heilen versucht mit seinem Leuchten, seiner Wärme, seinen Lebensstrahlen, so hast du, mein lieber November, all das nicht zu bieten.
Während der Februar, dieser Fiesling, voller vager Hoffnung glüht und der Mai, dieser alte Betrüger uns immer wieder aufs Neue austrickst und täuscht mit seinem Versprechen auf neues immerwährendes Leben; während der Juli, dieser Hochstapler, uns die Fülle verspricht, die uns später, im Herbst, wieder genommen wird, machst du uns nichts vor. Kein Gedanke an dich ist je verbunden mit Vorfreude. Du versprichst uns nichts. Und du hältst deine Versprechen gut.
Du hast uns weder Euphorie noch Wärme zu bieten. Auch die Hoffnung, dieses Elixier, das jeden Menschen durchs Leben trägt, nebst Glauben und Liebe, gewährst du nur in kleinen Dosen. Hoffnung, so scheint es, gibt es erst, wenn du vorbei bist: im Dezember. Schnee. Wärme. Tee. Aber leider auch: Kitsch, Klamauk. Und fahler Kommerz.

Deshalb kann ich meine Gefühle nicht anders ausdrücken als vielleicht so:
Du bist, lieber November, von allen Monaten der ehrlichste!

Du bist Nebel, wohin man blickt. Du bist Kälte, egal, wo man steht. Die Sonne, dieses Fremdwort in deinem Vokabular, zeigst du uns oft nur, wenn wir sie uns verdienen. Nach einem langen Aufstieg zum Beispiel. Wenn man oben steht. Wärme und Licht sind bei dir nicht umsonst zu haben. Manchmal bleiben sie uns selbst nach einem Kraftakt verschlossen. In all deinen Facetten bist du, lieber November, wie das Leben selbst. In dir erkennen wir unser Laufen und Ringen, unsere Kämpfe, unsere Niedergeschlagenheit – manchmal auch unsere unbändige Euphorie, denn:
Jede Freude muss verdient sein. Jede Beziehung strengt an. Auf jeden Aufstieg folgt ein Abstieg. Jeder Rausch ist nur auf Zeit.

Deine Schönheit sieht nur, wer sie sehen will. Du verzauberst mit deiner überfliessenden, rauen, ehrlichen, verschwenderischen Romantik. Du geizt mit deinen Reizen und machst sie deshalb umso begehrenswerter. Du verlangst uns alles ab und versöhnst uns an einem deiner seltenen Sonnentage.
Du, lieber November, du, ja du, meine neue Liebe, du wirst nur von wenigen geliebt. Dafür umso inniger. Denn du bist Aufbruch und Rauheit, du bist grau, und deshalb leuchten deine Farben umso bunter – für alle, die sie sehen wollen. Du trägst das Sterben in allen deinen Zügen und weist so auf die Auferstehung hin – irgendwann, im April.

Wie konnte ich mich so lange in dir täuschen? Wie konnte ich nur deine Erhabenheit so lange verschmähen? Wie konnte ich jemals dich nicht lieben? ♦

von Jérôme Schwyzer
Lehrer und Präsident des Lehrernetzwerks Schweiz


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