Ode an den November

Unsere Beziehung war lange Zeit kompliziert und schwierig – sogar belastend. Es war keine Liebe auf den ersten Blick, ganz im Gegenteil. Jeder Gedanke an dich erfüllte mich mit Schrecken. Überall Nebel. Eine sehr dunkle Vorahnung. Das nackte Grau. Das nackte Grauen.
Und immer, wenn du dann wieder an mir vorbeigezogen warst, jedes Jahr, exakt um die gleiche Zeit, liessest du mich verwundet zurück. Ich war gezeichnet von deiner Erbarmungslosigkeit. Und ich fühlte diese grosse Erleichterung, wenn deine Kälte wieder vorüber war, wenn sie endlich vorüber war – für ein Jahr. Wenn ich dich einmal mehr überlebt hatte – immer zuverlässig nach 30 Tagen. Denn zuverlässig, das warst du schon immer.

Dass sich dies zu einer Liebesgeschichte zwischen uns entwickeln würde, kann ich mir bis heute nicht erklären. Vielleicht liegts am Alter. Mit dem Alter kann man vieles begründen und erklären: Wieso also nicht auch eine neue Liebe? Einen neuen Vertrauten? Vielleicht hats auch mit einer neuen Erdung, einer neuen Gelassenheit zu tun, die irgendwann kommt. Irgendwann. Mit dem Alter. Vielleicht ist es auch ein Wunder. Wer weiss das schon.

Am Anfang unserer Liebesbeziehung stand die uralte Erkenntnis, dass im Sterben Schönheit liegt. Ein Baum, nackt, seiner Schönheit beraubt, nur umschlossen von Eis und Frost. Selbst als Betrachter spürt man das Sterben – und gleichzeitig die darin liegende Kraft. Denn auf den Tod folgt die Auferstehung – im Frühling.
Das ist auch die Hauptaussage des Evangeliums, übrigens: Ein sterbender Mann am Kreuz, der durch Seinen Tod, durch Sein Sterben dort oben, erhöht und zutiefst erniedrigt, Seinen Nachfolgern neues und ewiges Leben verspricht. Und dieses Versprechen auch hält. Mit der Auferstehung – an Auffahrt.

Lange war der Tag des Herbstbeginns für mich der schlimmste Tag von allen. Das Wissen darum, dass es von nun an für eine sehr lange Zeit steil bergab geht. Unaufhaltbar Richtung Kälte. Richtung Finsternis. Unheimlich. Und während der Oktober, dieses letzte Bollwerk gegen die unaufhaltsame Dunkelheit uns doch zu
versöhnen und zu heilen versucht mit seinem Leuchten, seiner Wärme, seinen Lebensstrahlen, so hast du, mein lieber November, all das nicht zu bieten.
Während der Februar, dieser Fiesling, voller vager Hoffnung glüht und der Mai, dieser alte Betrüger uns immer wieder aufs Neue austrickst und täuscht mit seinem Versprechen auf neues immerwährendes Leben; während der Juli, dieser Hochstapler, uns die Fülle verspricht, die uns später, im Herbst, wieder genommen wird, machst du uns nichts vor. Kein Gedanke an dich ist je verbunden mit Vorfreude. Du versprichst uns nichts. Und du hältst deine Versprechen gut.
Du hast uns weder Euphorie noch Wärme zu bieten. Auch die Hoffnung, dieses Elixier, das jeden Menschen durchs Leben trägt, nebst Glauben und Liebe, gewährst du nur in kleinen Dosen. Hoffnung, so scheint es, gibt es erst, wenn du vorbei bist: im Dezember. Schnee. Wärme. Tee. Aber leider auch: Kitsch, Klamauk. Und fahler Kommerz.

Deshalb kann ich meine Gefühle nicht anders ausdrücken als vielleicht so:
Du bist, lieber November, von allen Monaten der ehrlichste!

Du bist Nebel, wohin man blickt. Du bist Kälte, egal, wo man steht. Die Sonne, dieses Fremdwort in deinem Vokabular, zeigst du uns oft nur, wenn wir sie uns verdienen. Nach einem langen Aufstieg zum Beispiel. Wenn man oben steht. Wärme und Licht sind bei dir nicht umsonst zu haben. Manchmal bleiben sie uns selbst nach einem Kraftakt verschlossen. In all deinen Facetten bist du, lieber November, wie das Leben selbst. In dir erkennen wir unser Laufen und Ringen, unsere Kämpfe, unsere Niedergeschlagenheit – manchmal auch unsere unbändige Euphorie, denn:
Jede Freude muss verdient sein. Jede Beziehung strengt an. Auf jeden Aufstieg folgt ein Abstieg. Jeder Rausch ist nur auf Zeit.

Deine Schönheit sieht nur, wer sie sehen will. Du verzauberst mit deiner überfliessenden, rauen, ehrlichen, verschwenderischen Romantik. Du geizt mit deinen Reizen und machst sie deshalb umso begehrenswerter. Du verlangst uns alles ab und versöhnst uns an einem deiner seltenen Sonnentage.
Du, lieber November, du, ja du, meine neue Liebe, du wirst nur von wenigen geliebt. Dafür umso inniger. Denn du bist Aufbruch und Rauheit, du bist grau, und deshalb leuchten deine Farben umso bunter – für alle, die sie sehen wollen. Du trägst das Sterben in allen deinen Zügen und weist so auf die Auferstehung hin – irgendwann, im April.

Wie konnte ich mich so lange in dir täuschen? Wie konnte ich nur deine Erhabenheit so lange verschmähen? Wie konnte ich jemals dich nicht lieben? ♦

von Jérôme Schwyzer
Lehrer und Präsident des Lehrernetzwerks Schweiz

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