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Autor: Sylvie-Sophie Schindler

Nicht zur Knechtschaft geboren

Niemand ist berechtigt, über andere Macht auszuüben und niemand muss sich beherrschen lassen. Zeit, sich endlich in die Selbstverantwortung zu stellen. Anders gesagt: Wann bekommt die Anarchie endlich ihre Chance?

Das Aber kommt in der Regel ziemlich schnell. Kaum breite ich vor meinem Gegenüber aus, dass ich gerne in einer anarchistischen Gesellschaft leben würde, stimmen mir zwar viele zu, ja, auch sie fänden das durchaus attraktiv, doch schon im nächsten Satz werden die Bedenken aufgezählt, und es sind immer dieselben: Ob das denn funktioniere könne, so ganz ohne Hierarchie, ohne den mindestens einen, der die Richtung vorgibt und alles zusammenhält? Würden wir nicht bald im totalen Chaos landen, in maximaler Desorientierung? Müssten wir nicht mit Gewaltexzessen rechnen, mit unkontrollierbaren Zuständen? Ich weise dann darauf hin, dass diesen Vermutungen ein ausgesprochen pessimistisches Menschenbild zugrunde liegt, das ich nicht teile. Worauf die meisten beschwichtigend antworten, nein, nein, das sei mitnichten abwertend gemeint, sondern nur realistisch.

Ich gebe zu, es ärgert mich gleichsam wie es mich traurig macht, dass die Fantasie der allermeisten nicht ausreicht, sich eine herrschaftsfreie Welt vorzustellen. Sie scheint noch weniger denkbar als jedwedes dystopische Atomkriegsszenario. Was erneut zeigt: Der Mensch als unheilvolles, destruktives Wesen hat landläufig eine weitaus höhere Plausibilität als der mündige, selbstverantwortliche Mensch. Ich lasse mich davon allerdings nicht beirren. Müsste man mir deshalb Naivität attestieren, eben weil ich daran glaube, dass der Mensch im Grunde gut ist? Es wäre natürlich unabdingbar, dass ich mit meiner Überzeugung richtig liege, wenn das mit dem Anarchismus klappen soll. Was nicht bedeutet, dass man rund um die Uhr der perfekte Mensch zu sein hat, am besten ausgestattet mit einem Heiligenschein. Aber auf ein offenes, gütiges Herz sollte schon Verlass sein.

Wozu aber Anarchie? Was verspreche ich mir davon? Bereits als Kind war ich allergisch gegen An- und Unterordnungen, wehrte mich, wenn Menschen mich anwiesen, wie ich etwas zu sagen oder zu tun hätte. So ist es bis heute geblieben. Was nicht bedeutet, dass ich mich nicht gerne von anderen inspirieren lasse, aber dieses Interesse muss von mir ausgehen und kann mir nicht aufgedrückt werden. Meine Neugierde treibt mich dazu, die Welt und die Menschen auf eigene Faust entdecken zu wollen; dabei erlebe ich mich selbstwirksam und eigeninitiativ. Ich suche nach niemandem, der mich anleitet, ich habe keine Sehnsucht nach einer Übermutter oder einer Vaterfigur. Keine Ahnung, warum ich so gestrickt bin, aber so ist es nun mal, und daher bin ich, wenn ich es richtig besehe, wie gebacken für das anarchistische Gesellschaftsmodell.

Freilich nicht nur ich allein – sind wir es nicht im Grunde alle? Es ist zwar auch unter Philosophen umstritten, ob der Mensch für die Freiheit gemacht ist, aber wenn man mich fragt, so bin ich überzeugt, dass niemand zu Sklaventum und Knechtschaft geboren ist. Und dass zugleich keiner berechtigt ist, sich über andere zu erheben und Macht auszuüben. Sicher braucht es in den ersten Lebensjahren Halt und Geborgenheit durch Bezugspersonen, die wiederum ihre Rolle nicht mit einer Machtposition verwechseln sollten. Die Würde des Menschen ist unantastbar, heisst es. Entwürdigt sich aber nicht der, der einem anderen die Herrschaft über sich zugesteht? Wie mündig kann er überhaupt noch werden, wenn er nur noch mit Anleitung durch Autoritätspersonen durchs Leben navigiert?

Tatsächlich muss man fragen, warum sich – vermeintlich – erwachsene Menschen überhaupt die Existenz von Macht- und damit Hierarchiestrukturen bieten lassen. Dazu ein Exkurs zu dem Philosophen Peter Sloterdijk, der im ersten Teil seiner Sphären-Trilogie die These aufstellte, Liebespaare neigten deshalb zur Symbiose, weil sie die pränatale Mutter-Kind-Dyade reproduzieren wollten. Zurück in den Uterus; die ewige Sehnsucht nach Rundumversorgung. Das scheint auch ganz allgemein ein Trend. Denn: Erwachsen sein ist anstrengend. Bietet sich daher die Möglichkeit, entlastet zu werden, lässt man sich, je nach Bequemlichkeitsneigung, gar zu gerne verführen. Die daraus entstehende Infantilisierung ist, so betrachtet, keine intellektuelle Kränkung, sondern vielmehr eine durchaus willkommene Entwicklung.

So war, erschütternd genug, während der sogenannten Pandemie zu beobachten, dass sich ein Grossteil der Bevölkerung gerne von der Politik dauerbemuttern und damit in einem Zustand halten liess, als sei gerade erst die Windel-Ära überwunden. Die Regierung spielte sich als Erziehungsberechtigte auf, die in alle Alltagsbelange reinredete, indem sie etwa dezidiert Anleitung gab zum Händewaschen und Waschlappengebrauch. Auch Netflix-Verbot wurde angedroht. Zuzüglich verbaler Strategien des Kleinhaltens: Aha-Regeln, Wir-Formeln und «Doppel- Wumms»-Beschwichtigungen. Es gab Widerstand dagegen, aber beschämenderweise nicht mehrheitlich.

Sollte ich also mein Faible für den Anarchismus begraben? In der Tat ist die Ausgangsposition, gesamtgesellschaftlich betrachtet, ausgesprochen miserabel. Die Bequemlichkeit, in der sich die meisten eingerichtet haben, ist offensichtlich nur schwer zu verlassen. Solange der Kapitalismus dominiert, werden ohnehin bevorzugt Konsumenten gezüchtet und keine selbstbestimmten Menschen. Ehe man die Trägheit überwindet, lässt man sich lieber beherrschen, das ist eben der Preis, den man zahlen muss. Dass die Gesellschaft damit in voraufklärerische Zeiten zurückfällt, sich also nicht aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit befreit, sondern sie vielmehr anstrebt, spielt einer Politik in die Hände, der jedes «Sapere aude» ein Dorn im Auge ist.

Angestrebt wird der 24/7-Trottel, um rechtfertigen zu können, warum der Bürger gelenkt, kontrolliert, bevormundet werden muss. Pädagogischer Terrorismus auf dem Siegeszug. Freiheit? Kann weg. Doch genau deshalb, auch wenn es paradox klingen mag, braucht es die Anarchie. Weil sie die einzige Chance ist, die Freiheit vor ihrem nahenden Tod zu retten. Denn klar ist auch: Die Demokratie ist dazu zu schwach, vor allem, weil Demokratie längst nur noch als Demokratiesimulation existiert.

von Sylvie-Sophie Schindler

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Sylvie-Sophie Schindler ist philosophisch und pädagogisch ausgebildet und hat über 1500 Kinder begleitet. Die Journalistin ist Trägerin des Walter-Kempowski-Literaturpreises und publiziert unter anderem bei der Weltwoche.


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Briefwechsel mit Dr. Anke Elisabeth Ballmann

Betreff: Woher kommt die Gewalt in Kitas?

Liebe Anke

Du sagtest mal zu mir, für Dich sei das schönste Geräusch der Welt, wenn in Kindertagesstätten ausgiebig und ausgelassen gelacht wird. In den meisten Einrichtungen ist das der Fall. Aber leider geht es hinter bunten Kita-Mauern nicht nur fröhlich zu. Das Zeitalter der schwarzen Pädagogik ist zwar längst passé, die Rohrstöcke sind abgeschafft, aber trotzdem ist Gewalt nicht aus der Kindheit verbannt – und auch nicht aus dem Betreuungsalltag. Das passt freilich nicht zu der gängigen Überzeugung, Kinder hätten es noch nie so gut wie heute. Du hast für Dein Buch «Seelenprügel» jahrelang recherchiert, in über 500 Kindertagesstätten, und aufgedeckt, dass Kinder seelische und emotionale Grausamkeiten erfahren müssen, und das ausgerechnet durch die Menschen, denen sie anvertraut wurden. Kinder werden, wie Du schilderst, unter anderem manipuliert, lächerlich gemacht und zum Essen oder Schlafen gezwungen. Sie werden vor die Tür geschickt, weil sie angeblich «stören» und erniedrigt, weil sie in die Hose gemacht haben. Nichts davon landet in den Schlagzeilen, und doch verletzt es Kinderseelen tief. Trotzdem sind bei Weitem nicht genug Menschen alarmiert. Wie erklärst Du Dir das? Sollten denn nicht zuallererst die Eltern, die auf derlei Missstände stossen, auf die Barrikaden gehen?

Nun bist Du jemand, der dieses Unrecht öffentlich benennt, um Bewusstsein zu schaffen, aber ohne anzuklagen. Die meisten Fachkräfte geben sicher ihr Bestes, einen Ort zu schaffen, an dem Kinder sich wohl und beschützt fühlen können. Das betonst Du immer wieder. Wieso aber gibt es solche, die den Kindern Schaden zufügen? Wäre denn nicht zu erwarten, dass Fachpersonal sich soweit reflektiert und im Griff hat, dass es erst gar nicht zu diesen Übergriffen kommt?

Auch eine Recherche des Bayerischen Rundfunks im Dezember 2022 zeigte einen drastischen Anstieg von Gewaltfällen in Kitas. Ebenso bestätigt wurde das durch Günter Wallraff, der erschütternde Undercover-Recherchen zusammengetragen hat, die im September 2023 bei RTL ausgestrahlt wurden – auch Du wurdest für ein Interview befragt. Hast Du auch den Eindruck, die Gewalt nimmt eher noch weiter zu? Inwiefern steht das auch im Zusammenhang mit dem eklatanten Personalmangel in deutschen Betreuungseinrichtungen?

von Sylvie-Sophie Schindler

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Anke Elisabeth Ballmann ist Pädagogin, Psychologin und Bestsellerautorin. Ihr aktuelles Buch «Satt und sauber reicht nicht» ist im Kösel-Verlag erschienen.


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Bitte Mass halten!

Stimmt die Idee, dass Fülle keine Grenzen kennt? Oder entsteht sie nicht erst dann, wenn wir uns selbst zur Mässigung mahnen?

Wie wohl alle Kinder hatte auch ich in jungen Jahren Phasen des Übermutes. Wenn also Fröhlichkeit sich in eine derartige Ausgelassenheit steigert, dass Grenzen, Gefahren und Risiken völlig egal sind. In diesen Situationen ermahnte mich meine Mutter, ich solle doch bitte Mass halten, dann setzte sie hinzu, es würde sonst «nicht gut ausgehen». Tatsächlich kam es immer wieder vor, dass ich mir mitten im schönsten Übermut irgendwo den Kopf stiess oder mir blaue Flecken holte, weil ich nicht achtsam genug war. Einmal krachte das Bett zusammen, auf dem ich, ebenso ausdauernd wie überschwänglich, herumhüpfte.

Auch heute kenne ich Phasen des Übermutes, wenngleich weniger als damals. Sie stellen sich nicht nur, aber auch dann ein, wenn ich das Gefühl habe, dass gerade alles stimmt im Leben, dass nichts mehr hinzuzufügen ist, ich also ganz und gar in der Fülle stehe. Gerade dann weiss ich oft nicht so recht, wohin mit meiner Freude; sie entzieht sich meiner Kontrolle, schiesst über und verführt mich dazu, ausgelassen zu sein. Nichts freilich ist falsch daran, sich dem hinzugeben, schon gar nicht, wenn man daran denkt, wie viel Gegrummel und Missmut gang und gäbe ist. Und doch ist gleichzeitig wahr, dass Mass und Mitte verloren gehen können, obwohl man sich doch eigentlich erfüllt fühlt – oder gerade deshalb?

Auf den ersten Blick scheint die Mässigung konträr zur Fülle zu stehen. Da ist Balance und Begrenzung vorgesehen, dort hingegen will man genau das überwinden. Was aber, wenn unsere Vorstellung von Fülle auf einer irrigen Prämisse beruht? Wenn sie, genauer besehen, unabdingbar verknüpft ist mit der Bereitschaft, Mass zu halten? Kommen wir nicht erst dann an den Punkt einer gesteigerten Daseinsfreude? Man denke etwa an das Ideal der alten Griechen, wonach das Halten des «rechten Masses» der Leitfaden für ein gelingendes Leben sei. Das Streben nach Fülle jedenfalls ist nicht ohne Gefahr. So könnte man durchaus dazu verleitet werden, die Gier zu befeuern und über die Stränge zu schlagen. Das Dilemma ist bekannt: Oft ist es nie genug, nicht mal, wenn man mitten in der Fülle steht. Überraschend schnell tappt man in die Falle, die der Unersättlichkeit eines kleinen Kindes gleichkommt, und einen nach einem «Ich will mehr» rufen lässt. …

von Sylvie-Sophie Schindler


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Die erhellende Nachtseite unserer Existenz

Über die Notwendigkeit, mit dem Dunklen in Resonanz zu gehen

Nicht jede Kindheit war eine glückliche Kindheit. Nicht jedes Kind war ein geliebtes Kind. Trotzdem bringen es manche Menschen ein ganzes Leben lang nicht fertig, zu denken, geschweige denn zu sagen: «Meine Mutter hat mich nicht geliebt», oder: «Mein Vater hat mich nicht geliebt.» Oder zusammengefasst: «Ich bin ungeliebt.» Dieser eine Satz «scheint so vernichtend zu sein, dass er nicht mal in der Stille innerer Zwiegespräche laut werden darf», schreibt der Schweizer Psychoanalytiker Peter Schellenbaum in seinem Buch «Die Wunde der Ungeliebten».

Was geschieht, wenn du es dir eingestehst? Also das, was du dir nicht so gerne eingestehst. Das können auch ganz andere Wunden oder welche auch immer gearteten Schattenanteile sein. Jeder Mensch hat sein Dunkles. In der Regel ist er allerdings bestrebt, es auch dort zu belassen, also dort, wohin kein Licht fällt. Daher vermeidet er auch, mit dem Dunklen des anderen in Resonanz zu gehen. Denn dadurch würde es offenbar. Ohnehin hat es sich etabliert, nur dann ein «damit gehe ich in Resonanz» zuzugestehen, wenn es sich um etwas handelt, was sympathischen Charakter hat.

Keine Frage: Das Dunkel fordert uns heraus. Auch ganz konkret. Man denke an die Nacht, die einerseits Stille bringt, Poesie, Traum und Mystisches, aber eben nicht nur das allein. Sie hat auch ihre Heimlichkeiten und Unheimlichkeiten, ihre Gefahren, die lauern könnten, ihr Monströses, auf das man nicht gefasst ist. Man begegnet also all dem, das sich vor der Helle des Tages verbirgt oder verborgen werden muss, das sich vor dem Licht scheut oder sich seiner entzieht. Umgekehrt lässt sich sagen, dass das Dunkel hervorbringt, was selbst im hellsten Schein nicht wahrnehmbar ist, egal wie sehr man die Sinne bemüht.

Das Dunkel der Nacht hat sein Adäquat in der Nachtseite unserer Existenz. Sie erlaubt uns, dem nachzugehen, was wir sonst lieber verdrängen, etwa aus Angst vor unserem eigenen Urteil, vor allem aber weil wir die vernichtenden Blicke anderer fürchten. In Fantasien leben wir das eine oder andere Begehren aus, dem wir nicht zutrauen, es könnte in der Realität bestehen oder von dem wir nicht wagen würden, es auszuprobieren. Das können Tagträumereien sein, sexuelle Gelüste oder tabuisierte Impulse. Mitunter werden in Gedanken auch Morde begangen, die allerdings selten auf eine tatsächliche Umsetzung zustreben.

Dunkles gibt es nicht nur auf individueller Ebene, sondern auch in jeder Familie – sogenannte Familiengeheimnisse. Scham- und angstbesetzte Themen wie unter anderem früh verstorbene Kinder, Vergewaltigungen, Inzest, Heimeinweisungen, Gewaltverbrechen und Selbsttötungen einzelner Familienmitglieder werden verschwiegen, meist über Generationen hinweg. Um nicht hinsehen zu müssen, werden Strategien der Verleugnung oder Verharmlosung entwickelt. Die Krux ist: Auch Ereignisse, über die man keine Kenntnis hat, können schaden.

Mitunter leiden die nachfolgenden Generationen unter den nicht oder nur unvollständig aufgearbeiteten Traumata ihrer Eltern, Gross- und Urgrosseltern.

Dass vieles, was sich im Seelischen zuträgt, im Dunklen liegt, sogar verdrängt ist und dem Menschen selbst nicht zugänglich, inspirierte Sigmund Freud dazu, sich ausführlicher damit zu befassen. Er begründete die Psychoanalyse, eine Methode, um an die Orte der Psyche zu gelangen, die einem kaum oder gar nicht bewusst sind. Wir könnten natürlich so tun, als existierten sie nicht. Trotzdem wirkt das Unbewusste in den Alltag hinein, und zwar gerade da, wo wir irrational oder besonders emotional reagieren, also so, dass es nur schwer nachvollziehbar ist für andere und uns daher in Konflikte bringt, auch mit uns selbst.

Alleine die aktuellen, oft rigoros geführten Debatten sind ein Ausdruck dessen, dass vieles abgewehrt wird. Selten bekennen sich Menschen zu eigenen Fehlern und gestehen ein, dass sie sich getäuscht oder Grenzen überschritten haben. Viel einfacher ist es, die Schuld beim anderen zu suchen. Man erkennt, mit einem Bibelzitat gesprochen, den Splitter in den Augen des anderen, aber nicht den eigenen Balken. «Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar», befand die österreichische Dichterin Ingeborg Bachmann. Anscheinend sehen das viele anders. Wegschauen ist eine Disziplin, in der die meisten brillieren. Die Gründe dafür sind vielfältig: Angst, Scham, Schuld.

Wohin die Abspaltung von dunklen Gefühlen führen kann, dazu hat auch der Psychoanalytiker Arno Gruen ausgiebig geforscht. Er nannte das Beispiel eines deutschen Skinheads, der einen Menschen «einfach so» zu Tode getrampelt hatte und später, während seines Aufenthalts in der Psychiatrie, über sich sagte: «Ärger, Frust, Schmerz, Trauer, die dringen nicht in mein Inneres vor … Einfach verdrängen, das ist am besten, oder in eisigen Hass umwandeln.» Ein Mechanismus, der sich laut Gruen im Grunde in der ganzen Menschheitsgeschichte findet: «In Wahrheit liefen die Feldherren vor ihrem eigenen Schmerz davon, um ihn ausserhalb ihrer selbst in vermeintlichen Feinden zu zerstören.» Ignorierten wir das, würden Pogrome, Holocaust, ethnische Säuberungen und verdeckter oder offener Fremdenhass weiter die Geschichte des Menschen bestimmen.

Wie also dem Dunkel begegnen? Denn es sollte klar geworden sein: Ihm muss begegnet werden. Das Dunkel ist da; es will nicht bekämpft, nicht verdrängt, sondern gesehen und akzeptiert werden. Sonst bläst es sich bis zum Monströsen auf. Das Dunkle muss also ans Licht gebracht, alles Unannehmbare annehmbar gemacht werden. Derart, dass man es ohne Angst anschauen kann. Niemand kann den ersten Stein werfen. Jeder hat seine Irrungen und Verfehlungen. Du und ich, wir sind Menschen. Würden wir vor unseren Dunkelheiten fliehen, würden wir vor dem Menschsein fliehen.

Daher ist es gut, wenn wir uns dafür entscheiden, ohne Scheu in Resonanz mit den dunklen Themen zu gehen. Lange müssen wir ohnehin nicht danach suchen. Denn ob wir wollen oder nicht, wir sind damit genauso beständig in Resonanz wie mit dem Hellen und Lichten. Und es tut not, sich das endlich einzugestehen. ♦

von Sylvie-Sophie Schindler


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Die Wirklichkeit, die wir meinen

Gemäss Arthur Schopenhauer sehen wir die Dinge nicht so, wie sie tatsächlich sind, sondern wie sie für uns sind. Das bedeutet, dass für acht Milliarden Menschen acht Milliarden Wirklichkeiten existieren.

Leben ist Leiden. Heisst es im Buddhismus. Manchmal könnte man sicher weniger leiden. Zum Beispiel, indem man sich nicht angegriffen fühlt oder sich entscheidet, sich über den, über den man sich gerade ärgert, nicht mehr zu ärgern. Da auch derjenige leidet, der sich Illusionen über sich selbst macht, auch wenn ihm das nicht unbedingt bewusst ist, empfiehlt sich überdies, diese Illusionen fallenzulassen. Fraglich ist etwa, ob unser Wille tatsächlich so frei ist wie wir es gerne hätten. Er scheint in seiner Absolutheit eine Illusion, da nicht von der Hand zu weisen ist, dass unsere Entscheidungen von zig Faktoren abhängen.

Auch wäre einzugestehen, dass wir beständig Einflüsterern ausgesetzt sind, die uns gemäss ihrer Vorstellungen manipulieren wollen. Niemand ist davon ausgenommen, es sei denn, er lebt als Eremit in einer Höhle wie einst Nietzsches Zarathustra. Man hüte sich also vor der Täuschung, man wäre gegen Fremdsteuerung immun. Ist der nächste Gedanke, den wir denken, tatsächlich ein originär eigener Gedanke? Woher kommt er wirklich? Wer könnte wollen, dass wir ihn denken? Vielleicht sind wir gar unser eigener Einflüsterer?

Arthur Schopenhauer (1788 – 1860) würde antworten, dass wir das ganz sicher sind. Und zwar konstant. Weil wir uns in unserer Wahrnehmung selbst manipulieren, indem wir sie subjektiv färben – nicht weil wir es wollen, sondern weil wir nicht anders können. Eine nächste Illusion wäre also, dass wir jemals in eine Position kommen könnten, die uns zur Objektivität befähigt. «Die Welt ist meine Vorstellung: – dies ist die Wahrheit, welche in Beziehung auf jedes lebende und erkennende Wesen gilt», schreibt der deutsche Philosoph in seinem erstmals 1819 erschienenen und 1844 und 1859 erweiterten Hauptwerk «Die Welt als Wille und Vorstellung».

Rechthaberei ist völlig sinnlos

Wie wir die Welt sehen, hat also gemäss Schopenhauer nur mit uns zu tun. Pippi Langstrumpf würde salopp sagen, dass wir uns die Welt machen, wie sie uns gefällt. Max Frisch würde beisteuern, dass jeder sich eine Geschichte erfindet und sie für sein Leben hält. Die Aussagen zielen zwar nicht auf genau dasselbe, aber im Kern verweisen sie darauf, dass wir der Urheber dessen sind, was wir Realität nennen. Es gibt also keine andere Wirklichkeit als die, die wir meinen. Und das bedeutet bei rund acht Milliarden Menschen weltweit, dass rund acht Milliarden Wirklichkeiten existieren. Würden wir das im Miteinander berücksichtigen, ginge es wohl ziemlich friedlich unter den Menschen zu. Vor allem die Rechthaberei hätte ausgedient und würde endlich erkannt als das, was sie ist: völlig sinnlos.

Erübrigt sich demnach auch, um das zu ringen, was man allgemeinhin Wahrheit nennt? Ist es falsch, diesbezüglich einen faustschen Eifer zu entwickeln? Darf jemandem zugestanden werden, eine für alle gültige Wahrheit erkannt zu haben? Oder verfangen wir uns auch hier im Illusionären? Wahrheit und Wirklichkeit müssen unbedingt unterschieden und präzise definiert werden, zugleich aber verweist ihre häufige Gleichsetzung auf eine anthropologisch konstante Sehnsucht: Wir wollen, dass unsere Wirklichkeit auch für alle anderen ihre Gültigkeit hat und also als Wahrheit anerkannt wird. Doch was verlangen wir da eigentlich?

Selbst wenn wir denselben Berg sehen, ist er doch nicht derselbe. Mehr noch, und hier zu Schopenhauer zurück, unsere individuellen Vorstellungen verhindern, ihn so zu sehen, wie er tatsächlich ist. Und das heisst, dass wir über das wahre Wesen der Dinge nichts erfahren, dass wir niemals dahin vordringen können. Insofern existiert eine Art Parallelwelt, die unerreichbar bleibt, auch wenn wir das in der Regel ignorieren, weil es uns gar nicht bewusst ist beziehungsweise es uns schwerfällt, das anzuerkennen.

Unsere Wahrnehmung färbt die Dinge individuell

Schopenhauer stützte sich in seinen Aussagen über die Erkenntnisfähigkeit des Menschen an die philosophischen Untersuchungen Immanuel Kants, der in seinem erkenntnistheoretischen, im Jahr 1781 erstveröffentlichten Hauptwerk «Kritik der reinen Vernunft» ausführte, «dass wir nämlich von den Dingen nur das a priori erkennen, was wir selbst in sie legen». «A priori» meint Erkenntnisse, die ohne die Einwirkung unserer Wahrnehmung Gültigkeit haben. Diese Erkenntnisse bleiben uns versperrt, da wir unsere Wahrnehmung als Instrument brauchen und die Wahrnehmung wiederum eine individuelle Färbung auf die Dinge legt. Auch Kant kommt also zu der Schlussfolgerung, dass wir die Wirklichkeit, wie sie ist, nie erkennen können, sondern nur die Wirklichkeit, wie wir sie konstruieren. Wir erfassen die Dinge also nicht «an sich», sondern «für uns». Schopenhauer merkte diesbezüglich übrigens kritisch an, dass darin der menschliche Egoismus begründet sei.

Zu unseren Vorstellungen kommen wir durch unsere Sinne. Wir müssen also den Weg durch den Körper nehmen, er ist sozusagen unser Hilfsmittel, oder spirituell ausgedrückt, unser Medium. Zugleich aber sind unsere Sinne, wie Schopenhauer deutlich macht, genau das Hindernis, das eine unmittelbare Wahrnehmung verunmöglicht. Auch wenn wir gewohnheitsmässig sagen würden, dass der Berg grau sei, entspricht das nicht dem, was wir tatsächlich aussagen können. Wollten wir den Vorgang so präzise wie möglich beschreiben, so müssten wir uns wie folgt äussern: «Meine Augen vermitteln mir, dass mir dieser Berg grau erscheint.» Man mag das für spitzfindig halten. Genauer betrachtet konstituiert dieser Unterschied allerdings ein fundamental anderes Dasein in der Welt. Wer sich im Gewahrsein hält, dass er nicht zu dem Eigentlichen der Dinge dringen kann, mag bisweilen vielleicht verzweifeln, wird sich aber gewiss eine wohltuende Demut bewahren.

Alles trägt einen Willen in sich

Wer sich damit nicht abfinden will, dem bietet Schopenhauer dennoch ein Verständniswerkzeug an, um das Wesen der Dinge zu erfassen. Das klingt erstmal wie ein Widerspruch, zielt aber auf eine Ebene, die nicht über die Vorstellung steuerbar ist – Schopenhauer bezeichnet sie als «Wille». Damit aber meint er etwas grundlegend anderes als wir allgemeinhin darunter verstehen. Ihm zufolge handelt es sich um eine von der Natur gegebene, universale Kraft, die in jedem Lebewesen steckt, und also das Prinzip des Lebendigen schlechthin ist. Der Wille umfasst demnach auch alle Naturphänomene wie das Wetter und die Gravitation. Ihn zu kontrollieren ist nicht möglich, wir sind ihm quasi ausgeliefert. Daher ist er beim Menschen auch mit dessen Trieben gleichzusetzen, wenn auch nicht ausschliesslich.

Weiterhin bleibt zwar, dass wir das «Ding an sich» nicht wahrnehmen können, aber da es ebenso den Willen in sich trägt, wie wir den Willen in uns tragen, kennen wir es quasi aus unserer eigenen Erfahrung und dringen auf diese Weise zu ihm vor. Das freilich kann man glauben oder nicht. Zuallererst ist es eine nächste Möglichkeit, sich mit einer vielleicht fremden Perspektive vertraut zu machen, um es sich nicht in den eigenen – vermeintlichen – Gewissheiten allzu bequem einzurichten. ♦

von Sylvie-Sophie Schindler


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Sei mal nicht dabei

Die meisten Menschen haben Angst vor sozialer Verbannung. Dabei braucht es mehr denn je Menschen, die sich der Masse entgegenstellen. Ein Plädoyer für das Aussenseitertum.

Lautes Lachen. Jonathan Meese rennt mit einem Plastik-Laserschwert durch sein Berliner Atelier. Im nächsten Moment klettert er auf eine Leiter und spannt einen transparenten Mädchenschirm über sich aus. Ausgelassen fuchtelt er damit herum – und verletzt sich schliesslich an der Stirn. Blut tropft. Wieder lautes Lachen. Jonathan Meese schaut mich übermütig an, während er mit einem Taschentuch über seine Stirn tupft und sagt: «Wir können beginnen.» Das ist nun gut vier Jahre her. Ich traf den bekannten Maler, um ihn für das Magazin Galore zu interviewen.

Jonathan Meese gilt als Enfant terrible. Er selbst bezeichnet sich als «Spielkind». Oder als «Seewolf». Manchmal auch als «Robinson Crusoe». Auf einer Insel alleine sein Ding durchzuziehen, das sei genau das Richtige. Überhaupt möge er, wie er mir erzählte, alle Einzelgänger, «die hart am Sturm segeln». Er kenne das, er sei immer isoliert gewesen, von Kindheit an. Kann man sich also daran gewöhnen? Und sich sogar damit wohlfühlen? Sind die anderen nicht ohnehin die Hölle, wie es bei Jean-Paul Sartre heisst? «Ich habe die Riesenschwäche, dass ich mich in Menschenmassen sauunwohl fühle.» Lieber alleine sein und nicht bei den anderen? «Es ist überhaupt nicht schlimm, nicht dazuzugehören», versicherte mir Jonathan Meese. Und: «Man muss den Kindern heutzutage sagen, dass es eine Stärke ist, ein Aussenseiter zu sein.»

Das mag sich wie eine Provokation anhören. Wer will schon am Rande stehen? …

von Sylvie-Sophie Schindler


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Kommt überhaupt noch was Neues?

Es gibt Krieg, Hunger und Leid. Angesichts dessen kann man nicht von Fortschritt sprechen. Ist nicht viel wahrer, dass wir in einer «ewigen Wiederkunft des Gleichen» feststecken?

Kurt Gödel emigrierte 1940 von Wien in die USA und lernte dort schon bald den 27 Jahre älteren Albert Einstein kennen. Der Mathematiker und der Physiker schlossen schnell Freundschaft, die sich wesentlich darauf gründete, dass sie miteinander auf Augenhöhe kommunizieren konnten. Niemand sonst in ihrem Umfeld verstand sich darin, mit ihrem komplexen Denken mitzuhalten. Täglich spazierten sie gemeinsam zum Institute for Advanced Study in Princeton, an dem sie beide forschten, und später wieder zurück. Einmal soll Einstein gesagt haben, er komme überhaupt nur noch ans Institut, «um das Privileg zu haben, mit Gödel zu Fuss nach Hause gehen zu dürfen».

Während Einstein sich abmühte, eine «Weltformel» zu finden, kam Gödel durch zahlreiche Berechnungen zu folgender Erkenntnis: «In jedem Universum, das sich mittels der Relativitätstheorie beschreiben lässt, gibt es keine Zeit.» Damit bewies er nichts Geringeres als die Nichtexistenz der Zeit. Einstein war darüber sehr bestürzt, doch es gelang ihm nicht, Gödel zu widerlegen. Bis heute konnte das niemand. Trotzdem verhalten wir uns in Bezug auf die Zeit so, als hätte Gödel jenen Beweis nie erbracht. Nähmen wir ihn ernst, würden wir über Entwicklung gar nicht nachdenken können beziehungsweise anders. Denn wenn es keine Zeit gibt und also weder Vergangenheit noch Zukunft, dann gibt es keine Prozesse, keinen Fortgang, kein Nacheinander. Was aber geschieht, wenn ein Baum im Herbst seine Blätter verliert und die Haare bei Menschen im Alter ergrauen? Sind das denn nicht Zeichen der Zeit? Es ist jedenfalls etwas in Bewegung, doch wohin bewegt es sich eigentlich? Bewegung ist das Medium, mit dem und über das der Mensch die Welt erfasst und das ihn als Macher, als Gestalter definiert. Ob die Dinge dadurch besser oder schlechter werden, ist eine Frage des Blickwinkels – auf jeden Fall werden sie anders. Oder ist auch das ein Trug?

Kommt überhaupt noch was, also etwas Neues? …

von Sylvie-Sophie Schindler


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Der Regierung vertrauen?

Auf keinen Fall.

Obwohl ich im Westen Deutschlands sozialisiert bin, habe ich einen Seismografen in mir ausgebildet, wie ihn auch die Menschen aus der DDR haben dürften. Das habe ich meinen Eltern zu verdanken, die aus dem tschechoslowakischen Kommunismus geflohen sind.

Als der Zweite Weltkrieg zu Ende war, standen auch die Menschen in der Tschechoslowakei unter dem Schock der deutschen Besetzung durch Hitler. Man strebte möglichst schnell eine neue Staatsgründung an, deren erste Weichenstellungen bereits im Exil erfolgt waren. Dazu gehörte unter anderem die Annäherung zwischen den Kommunisten und den restlichen Linksparteien. Bereits im Regierungsprogramm von 1945 liess sich der kommunistische Einfluss erkennen, der sich immer weiter ausdehnte. Am 25. Februar 1948 ereignete sich schliesslich der bekannte «Februarumsturz». Es war der Beginn der Alleinherrschaft der Kommunistischen Partei in der Tschechoslowakei.

Wenige Monate später wird in einer tschechoslowakischen Kleinstadt ein Mädchen geboren, das eines Tages mich auf die Welt bringen wird – meine Mutter. Ihr Vater ist Schreiner, ihre Mutter kümmert sich um die drei Kinder, sie leben in einem hübschen kleinen Haus, in dessen Nähe ein Fluss vorbeiführt. In der Nachbarschaft bellen Hunde, nachts leuchtet am Schulgebäude eine riesige Uhr. Meine Mutter ist ein aufgewecktes Kind mit blondem Pferdeschwanz, sie stellt viele Fragen, sie lacht viel, sie ist der Liebling ihres Vaters. Ins Ballett geht sie besonders gerne, der Unterricht findet in einem Schloss statt, das irgendwann in Feuer aufgeht – man vermutet einen Anschlag. Meine Mutter weint, als sie davon erfährt. Später wird sie mir erzählen, dass sie in ihrer Kindheit immer Angst hatte vor «den Kommunisten».

Man habe seine Meinung nie frei sagen können, man habe nie gewusst, ob jemand einen belauerte …

von Sylvie-Sophie Schindler

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Sylvie-Sophie Schindler ist philosophisch und pädagogisch ausgebildet und hat über 1500 Kinder begleitet. Die Journalistin ist Trägerin des Walter-Kempowski-Literaturpreises und publiziert unter anderem bei der Weltwoche.


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Mein Haus, mein Auto, mein Boot – sieht so Erfolg aus?

Nachdenken über das Streben des Menschen angesichts einer Welt, die im Wandel steht.

Ein Mensch wird geboren. Um die neun Monate lang hat er sich dahin entwickelt. Im Laufe der sechsten Schwangerschaftswoche begannen die ersten Organe, Form anzunehmen – sein Herz fing an zu schlagen. Etwa ab der 15. Schwangerschaftswoche war er in der Lage, zu schlucken und sein Fruchtwasser zu trinken. Ab ungefähr der 24. Schwangerschaftswoche war es ihm möglich, mehrere Stunden lang durchzuschlafen. Zudem begannen die Lungenzellen mit der Produktion des sogenannten Surfactant, einer Substanz, die die Oberflächenspannung der Lungenbläschen reduziert, damit sich die Lunge gut entfalten kann – ein weiterer entscheidender Schritt in Richtung Überlebensfähigkeit.

Ein Mensch wird geboren: Eine Erfolgsgeschichte? Gleichwohl es ein natürlicher Prozess ist, ist es keine Selbstverständlichkeit, dass er tatsächlich vollzogen wird. Man denke nur daran, was sich alles an Komplikationen in der Zeit von der Zeugung bis zur Geburt ereignen kann, die erschweren oder gar verunmöglichen, dass die mikroskopische kleine Keimzelle heran- und ausreift. Auch während oder direkt nach der Geburt. Wird beispielsweise der erste Stuhl des Kindes, Mekonium genannt, bereits in der Gebärmutter abgegeben und nicht in den ersten Tagen nach der Geburt, drohen gefährliche Folgen für das Kind, beispielsweise kann es zu einer schweren Lungenentzündung durch Mekoniumaspiration kommen.

Ein Mensch wird geboren. Bleiben wir dabei, dass das ein Erfolg ist, jedes Mal, wobei freilich zunächst der Begriff definiert werden muss. Das althochdeutsche Verb «erfolgen» bedeutet erstmal nichts weiter als dass eine Handlung zu einem Ergebnis führt. Erfolg folgt also aus dem, was man tut; etwas wird erreicht respektive wird einem zuteil. Das ist gross gefasst und impliziert eine Beliebigkeit, die dem gängigen Gebrauch nicht mehr entspricht. Gelingt es, morgens aus dem Bett zu steigen und sich eine Tasse Kaffee zu machen, würde niemand von Erfolg sprechen oder vielleicht nur die, denen das antriebsbedingt enorm schwer fällt.

Der Duden beschreibt Erfolg als «positives Ergebnis einer Bemühung» oder «Eintreten einer beabsichtigten, erstrebten Wirkung». Erfolgreich zu sein heisst demnach, das zu bekommen, was man will. Oder anders ausgedrückt: Die erbrachte Leistung liegt mindestens auf, besser noch über dem Bereich der selbst und/oder von anderen gesetzten Erwartung. Der kapitalistisch geprägte Mensch ist überdies darauf konditioniert, Erfolg in Zusammenhang mit monetärem Zugewinn zu stellen; ins Sichtbare gebracht durch Statussymbole gemäss der legendären Sparkassen-Werbung: «Mein Haus, mein Auto, mein Boot.»

Nun aber ist der Mensch ganz wesenhaft dafür begabt, zu scheitern …

von Sylvie-Sophie Schindler

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Sylvie-Sophie Schindler ist philosophisch und pädagogisch ausgebildet und hat über 1500 Kinder begleitet. Die Journalistin ist Trägerin des Walter-Kempowski-Literaturpreises und publiziert unter anderem bei der «Weltwoche».


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Uns ist etwas aufgegeben – nur was?

Die Welt ist im Umbruch. Immer mehr Menschen spüren, dass in dieser Zeit, die so viele Irrungen und Wirrungen mit sich bringt, eine Aufgabe steckt. Aber was ist eigentlich damit gemeint?

Im Gespräch mit einer Frau, nennen wir sie Marie. Sie sagt, sie wisse, dass sie in «dieser Zeit» gebraucht werde. Sie müsse nun denen Mut machen, die Angst hätten. Als «diese Zeit» begann, als immer mehr Menschen der Corona-Panik verfielen, gab es zugleich solche, die sich nicht beirren liessen. Marie gehört dazu. Der Ausnahmezustand war sogar etwas, das, im beflügelnden Sinne, Aufbruch bedeutete. Plötzlich war da ein Sinn, den es so vorher nicht gegeben hatte.

Verlangt «diese Zeit» das vielleicht von uns allen, dass wir darin etwas erkennen, was man mit «meine Aufgabe» oder gar mit «unsere Aufgabe» übertiteln könnte? Kann es Letzteres überhaupt geben? Dass ein Einzelner sich zu etwas berufen fühlt, ist seine ureigenste Angelegenheit, nach der er sich entsprechend ausrichtet. Aber wie regelt das ein Kollektiv? Und zwar ohne dass jemand Anweisung gibt? Denn das wäre die Voraussetzung, oder etwa nicht, sich von dem einen zu befreien, der «es weiss»; sich also herauszulösen aus hierarchischen Strukturen. Ob die Ausgangsbasis, die zu schaffen wäre, um «unsere Aufgabe» anzugehen, bereits die Erfüllung derselben ist?

Uns ist etwas aufgegeben. Die Frage, die sich anschliesst: Wer will da etwas von uns? Etwa ein Gott ? Das setzt seine Existenz voraus, die nicht zu beweisen ist, und die man glauben kann – oder nicht. Leider kann einem sogenannten Gott alles Mögliche untergejubelt werden. In seinem Namen wurden auch Kriege geführt und Menschen getötet.

«Unsere Aufgabe» aber will hell ausgekleidet sein. Darum wussten freilich alle, die im Laufe der Menschheitsgeschichte zu Gräueltaten anzettelten. Wer das Propaganda-Einmaleins beherrscht, dem ist klar, dass man mit der Mission, anderen schaden zu wollen, schwerlich Massen hinter sich versammeln kann. «Unsere Aufgabe» muss also leuchten, selbst wenn sie eigentlich tief in den Abgrund führt. Die Schriftstellerin Marie von EbnerEschenbach erkannte daher richtig: «Es würde viel weniger Böses auf Erden getan, wenn das Böse niemals im Namen des Guten getan werden könnte.»

Wie sicherstellen, dass «unsere Aufgabe» gegen Irrtum immun ist? Wie können wir Gewissheit haben, dass das Gute, das wir meinen, nicht auch seine bösen Nebenwirkungen hat? Wer überhaupt definiert das eine wie das andere?

Es stimmt, dass der Mensch, wie es in Goethes «Faust» heisst, «irrt, solang‘ er strebt». Er wird sich, egal, wonach er sich streckt, immer auch der Anfälligkeit aussetzen, sich zu täuschen. Auch über sich selbst. Da wäre die eigene Eitelkeit, für die man gerne blind ist. «Unsere Aufgabe» schmeichelt uns; die Verführung, sich für die Retter zu halten, ist nicht unerheblich. Dass «unsere Aufgabe» mich braucht, kann schnell verwechselt werden mit: Ich brauche «unsere Aufgabe». Um mich gut zu fühlen. Besser als andere, erleuchteter.

Der lauernde Trug, die zahlreichen Fallstricke sollen uns nicht abhalten, im Gegenteil. Nun kommt es darauf an, wie viel Vertrauen wir haben. In uns. In andere. Die Welt ist im Umbruch, wir sind im Aufbruch. Gewiss ist, dass wir leben. «Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will», formulierte es der grosse Denker Albert Schweitzer. Was bedeutet das in aller Konsequenz? Und wenn das «unsere Aufgabe» wäre, was hiesse das? ♦

von Sylvie-Sophie Schindler

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Sylvie-Sophie Schindler ist philosophisch und pädagogisch ausgebildet und hat über 1500 Kinder begleitet. Als Journalistin begann sie bei der «Süddeutschen Zeitung», danach war sie als Reporterin für zig Magazine tätig. Aktuell publiziert sie unter anderem bei der «Weltwoche». Sie ist Trägerin des Walter-Kempowski-Literaturpreises. Mit ihrem YouTube-Kanal «Das Gretchen» setzt sie sich für den guten Dialog ein.


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