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Die erhellende Nachtseite unserer Existenz

Über die Notwendigkeit, mit dem Dunklen in Resonanz zu gehen

Nicht jede Kindheit war eine glückliche Kindheit. Nicht jedes Kind war ein geliebtes Kind. Trotzdem bringen es manche Menschen ein ganzes Leben lang nicht fertig, zu denken, geschweige denn zu sagen: «Meine Mutter hat mich nicht geliebt», oder: «Mein Vater hat mich nicht geliebt.» Oder zusammengefasst: «Ich bin ungeliebt.» Dieser eine Satz «scheint so vernichtend zu sein, dass er nicht mal in der Stille innerer Zwiegespräche laut werden darf», schreibt der Schweizer Psychoanalytiker Peter Schellenbaum in seinem Buch «Die Wunde der Ungeliebten».

Was geschieht, wenn du es dir eingestehst? Also das, was du dir nicht so gerne eingestehst. Das können auch ganz andere Wunden oder welche auch immer gearteten Schattenanteile sein. Jeder Mensch hat sein Dunkles. In der Regel ist er allerdings bestrebt, es auch dort zu belassen, also dort, wohin kein Licht fällt. Daher vermeidet er auch, mit dem Dunklen des anderen in Resonanz zu gehen. Denn dadurch würde es offenbar. Ohnehin hat es sich etabliert, nur dann ein «damit gehe ich in Resonanz» zuzugestehen, wenn es sich um etwas handelt, was sympathischen Charakter hat.

Keine Frage: Das Dunkel fordert uns heraus. Auch ganz konkret. Man denke an die Nacht, die einerseits Stille bringt, Poesie, Traum und Mystisches, aber eben nicht nur das allein. Sie hat auch ihre Heimlichkeiten und Unheimlichkeiten, ihre Gefahren, die lauern könnten, ihr Monströses, auf das man nicht gefasst ist. Man begegnet also all dem, das sich vor der Helle des Tages verbirgt oder verborgen werden muss, das sich vor dem Licht scheut oder sich seiner entzieht. Umgekehrt lässt sich sagen, dass das Dunkel hervorbringt, was selbst im hellsten Schein nicht wahrnehmbar ist, egal wie sehr man die Sinne bemüht.

Das Dunkel der Nacht hat sein Adäquat in der Nachtseite unserer Existenz. Sie erlaubt uns, dem nachzugehen, was wir sonst lieber verdrängen, etwa aus Angst vor unserem eigenen Urteil, vor allem aber weil wir die vernichtenden Blicke anderer fürchten. In Fantasien leben wir das eine oder andere Begehren aus, dem wir nicht zutrauen, es könnte in der Realität bestehen oder von dem wir nicht wagen würden, es auszuprobieren. Das können Tagträumereien sein, sexuelle Gelüste oder tabuisierte Impulse. Mitunter werden in Gedanken auch Morde begangen, die allerdings selten auf eine tatsächliche Umsetzung zustreben.

Dunkles gibt es nicht nur auf individueller Ebene, sondern auch in jeder Familie – sogenannte Familiengeheimnisse. Scham- und angstbesetzte Themen wie unter anderem früh verstorbene Kinder, Vergewaltigungen, Inzest, Heimeinweisungen, Gewaltverbrechen und Selbsttötungen einzelner Familienmitglieder werden verschwiegen, meist über Generationen hinweg. Um nicht hinsehen zu müssen, werden Strategien der Verleugnung oder Verharmlosung entwickelt. Die Krux ist: Auch Ereignisse, über die man keine Kenntnis hat, können schaden.

Mitunter leiden die nachfolgenden Generationen unter den nicht oder nur unvollständig aufgearbeiteten Traumata ihrer Eltern, Gross- und Urgrosseltern.

Dass vieles, was sich im Seelischen zuträgt, im Dunklen liegt, sogar verdrängt ist und dem Menschen selbst nicht zugänglich, inspirierte Sigmund Freud dazu, sich ausführlicher damit zu befassen. Er begründete die Psychoanalyse, eine Methode, um an die Orte der Psyche zu gelangen, die einem kaum oder gar nicht bewusst sind. Wir könnten natürlich so tun, als existierten sie nicht. Trotzdem wirkt das Unbewusste in den Alltag hinein, und zwar gerade da, wo wir irrational oder besonders emotional reagieren, also so, dass es nur schwer nachvollziehbar ist für andere und uns daher in Konflikte bringt, auch mit uns selbst.

Alleine die aktuellen, oft rigoros geführten Debatten sind ein Ausdruck dessen, dass vieles abgewehrt wird. Selten bekennen sich Menschen zu eigenen Fehlern und gestehen ein, dass sie sich getäuscht oder Grenzen überschritten haben. Viel einfacher ist es, die Schuld beim anderen zu suchen. Man erkennt, mit einem Bibelzitat gesprochen, den Splitter in den Augen des anderen, aber nicht den eigenen Balken. «Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar», befand die österreichische Dichterin Ingeborg Bachmann. Anscheinend sehen das viele anders. Wegschauen ist eine Disziplin, in der die meisten brillieren. Die Gründe dafür sind vielfältig: Angst, Scham, Schuld.

Wohin die Abspaltung von dunklen Gefühlen führen kann, dazu hat auch der Psychoanalytiker Arno Gruen ausgiebig geforscht. Er nannte das Beispiel eines deutschen Skinheads, der einen Menschen «einfach so» zu Tode getrampelt hatte und später, während seines Aufenthalts in der Psychiatrie, über sich sagte: «Ärger, Frust, Schmerz, Trauer, die dringen nicht in mein Inneres vor … Einfach verdrängen, das ist am besten, oder in eisigen Hass umwandeln.» Ein Mechanismus, der sich laut Gruen im Grunde in der ganzen Menschheitsgeschichte findet: «In Wahrheit liefen die Feldherren vor ihrem eigenen Schmerz davon, um ihn ausserhalb ihrer selbst in vermeintlichen Feinden zu zerstören.» Ignorierten wir das, würden Pogrome, Holocaust, ethnische Säuberungen und verdeckter oder offener Fremdenhass weiter die Geschichte des Menschen bestimmen.

Wie also dem Dunkel begegnen? Denn es sollte klar geworden sein: Ihm muss begegnet werden. Das Dunkel ist da; es will nicht bekämpft, nicht verdrängt, sondern gesehen und akzeptiert werden. Sonst bläst es sich bis zum Monströsen auf. Das Dunkle muss also ans Licht gebracht, alles Unannehmbare annehmbar gemacht werden. Derart, dass man es ohne Angst anschauen kann. Niemand kann den ersten Stein werfen. Jeder hat seine Irrungen und Verfehlungen. Du und ich, wir sind Menschen. Würden wir vor unseren Dunkelheiten fliehen, würden wir vor dem Menschsein fliehen.

Daher ist es gut, wenn wir uns dafür entscheiden, ohne Scheu in Resonanz mit den dunklen Themen zu gehen. Lange müssen wir ohnehin nicht danach suchen. Denn ob wir wollen oder nicht, wir sind damit genauso beständig in Resonanz wie mit dem Hellen und Lichten. Und es tut not, sich das endlich einzugestehen. ♦

von Sylvie-Sophie Schindler


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