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Autor: Lilly Gebert

Würde – Der Sinn für sich

Warum es in einer zunehmend komplexen Welt für Gerald Hüther «nicht mehr darauf ankommt, eine Rolle zu spielen, sondern man selbst zu sein».

Von Bremen über den Kaukasus nach Russland bis hin nach Indien und China – das Verzauberungsvermögen von Märchen auf Kinder scheint grenzenlos. Aber warum? Weil sie im Gegensatz zum Mythos, so zumindest Lewis Carroll (Autor von «Alice im Wunderland»), mit Liebe erzählt werden: Im Märchen wird das Unendliche ins Endliche übersetzt, das Göttliche ins Menschliche, das Ewige ins Zeitliche, das Ideale ins Unvollkommene. Mit seiner bildhaften Sprache hebt das Märchen die Unzugänglichkeit der Welt auf, macht sie für das Kind verstehbarer. Das Märchen integriert Ambivalenzen, nuanciert zwischen Schwarz und Weiss. Es sind seine unendlichen Möglichkeiten der Identifikation, die negative Emotionen überwindbar erscheinen lassen.

Was aber passiert, wenn einem Kind nur noch wirklichkeitsgetreue Geschichten erzählt werden? Es kann zu dem Schluss kommen, seine innere Wirklichkeit sei für seine Eltern weithin bedeutungslos.

Zwischen Wollen und Sollen, Leben und gelebt werden

«Wer nur gemocht wird, wenn er den Vorstellungen seiner Eltern, seiner Erzieher und Lehrer entspricht, wird nicht geliebt, sondern benutzt.»
– Gerald Hüther

Kinder, so der Neurobiologe Gerald Hüther, internalisieren bereits in ihrer vorgeburtlichen Entwicklung eine Vorstellung dessen, was Liebe bedeutet: gleichzeitige Autonomie und Verbundenheit. Ein Grundvertrauen in das eigene Dasein, das von der Erfahrung, in den eigenen Wünschen und Träumen nicht ausreichend berücksichtigt zu werden, mehr als getrübt werden kann. Es lässt jenes Gefühl von Inkohärenz entstehen, dessen Riss immer dort aufklafft, wo Denken, Fühlen und Handeln keine Einheit mehr bilden. Das «innere Bild» dessen, was und wer man sein will, scheint mit den äusseren Umständen, den Erwartungen und Bewertungen der eigenen Mitmenschen nicht mehr kompatibel. Es entsteht der Eindruck, unverbunden, unverstanden, grundsätzlich so, wie man ist, nicht akzeptiert zu sein.

Dabei ist für ein Kind, dessen – an sein «inneres Bild» geknüpftes – «Ich» noch zu keiner vollständigen Identität herangereift ist, gerade jener mit seinem Ego verbundene Selbsterhaltungstrieb überlebenswichtig: Es braucht die Identifikationen seiner Mitmenschen, um sich selbst als etwas, das existiert, wahrzunehmen. Ihr Verlust oder fehlende Übereinstimmung mit dem eigenen Selbstbild, so Gerald Hüther, bedeutet einen Energieaufwand für unser Gehirn, der – insofern er langfristig nicht aufrecht erhalten werden kann – einzig zwei Ausgangsmöglichkeiten offenbart, um die ursprünglich Ordnung stiftende Orientierung wieder herzustellen: Entweder es werden die Inkohärenz verursachenden Umstände verändert oder man verändert sich selbst, passt sich und seine Bedürfnisse an die jeweils herrschenden Verhältnisse an.

Ähnlich verhält es sich bei einem Kind, dem – sei es durch verbales oder nonverbales Verhalten – zu verstehen gegeben wird, dass es so, wie es ist, «nicht richtig sei». Auch ihm verbleiben einzig zwei «Schuldzuweisungen», um dem Druck jener Qualitätsanforderungen habhaft zu werden und den gewünschten Zustand von Kohärenz wieder herbeizuführen: Entweder es erklärt die Leistungsanfordernden, sprich seine Eltern, das Schulsystem oder gleich die gesamte Gesellschaft für blöd, oder es sucht die Ursache der Qualitätsmängel bei sich und erklärt sich selbst für blöd. Egal für was es sich entscheidet: Zum Objekt eigener oder fremder Absichten gemacht zu werden, tut weh und untergräbt das ureigene Gefühl dessen, ein selbstbestimmter Mensch zu sein. Denn zieht das Kind sich nun in oder aus sich selbst zurück – in beiden Fällen erlischt das menschliche Grundbedürfnis nach Verbundenheit und Zugehörigkeit einerseits sowie Autonomie und Freiheit andererseits. Tritt jedoch Letzteres ein, und das Kind erklärt sich selbst als «zu doof» für diese Welt, reduziert es sich zum «Objekt seiner eigenen Bewertung» und bezeichnet sich selbst als nicht liebenswert.

Für dieses Kind ist es nicht nur nicht vorstellbar, jemanden zu lieben, ohne, dass damit Erwartungen oder Bedingungen verbunden sind – konform seiner Selbstauffassung als Objekt verliert es den Bezug zu seinen persönlichen Neigungen und Fähigkeiten, ersetzt seine eigenen Entscheidungen und Bedürfnisse durch die Interessen einer Obrigkeit. Anstatt seine eigenen Ideale zu entwickeln, adaptiert es die seiner Mitmenschen. Im Verlust seiner Intuition entfremdet es sich von sich selbst, verfehlt es, verliert es sein Selbst. Das Einzige, was in dieser Willenlosigkeit zu bleiben scheint, ist die Teilnahmslosigkeit: Hat das Kind kein Mitgefühl mehr für sich, kann es auch kein Gefühl für andere mehr entwickeln. Was damit beginnt, sich selbst nicht mehr zu spüren, endet darin, auch andere nicht mehr zu spüren. …

von Lilly Gebert


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Welcher Ton macht die Musik?

Wenn Stimmen auf Anklang treffen – Ein Zwiegespräch mit Yoki und Marty McKay.

Dort, wo die einen verstummen, eröffnen die anderen eine Echokammer. Das bewiesen die letzten zwei Jahre. Wir sprachen mit der Berner Sängerin und Songwriterin Andrea Pfeifer, auch bekannt als «Yoki», und dem Zürcher Rapper Marty McKay über die Aufgabe der Musik in Zeiten der Sprachlosigkeit.

«DIE FREIEN»: Liebe Andrea, lieber Marty, die letzten zweieinhalb Jahre haben vielen Menschen die Stimme verschlagen. Hat eure Musik sie ihnen wiedergegeben?

Andrea Pfeifer: Ich habe es so erlebt, dass es ihnen nicht unbedingt die Stimme wiedergegeben hat, aber dass sie sich erkannt und angenommen gefühlt haben. Ich glaube, wenn man einmal in diese Rolle kommt des Ausgeschlossenwerdens aus der grossen Herde, ist das für viele Menschen – auch für mich – ein ziemlich schmerzhafter Prozess. Aber das Gefühl, es gibt da Menschen, die einen verstehen und die trotz allem noch zu einem gehören, ist glaube ich das, was am Ende heilsam für die Menschen war.

Marty McKay: Das Feedback, das ich erhalten habe, war schon, dass man als «The Voice of the Voiceless» den Leuten eine Stimme gibt, die man im Mainstream nicht gehört hat. Big-Tech, Mainstream-Medien, Pharma, die Politiker – es war ja alles komplett gleichgeschaltet und zu 99 Prozent wurde keine andere Meinung zugelassen. Und wenn dann plötzlich etwas kam, was 180 Grad in die andere Richtung ging, waren die Leute schon erleichtert. Zwischendurch fühlt man sich ja doch mal unsicher, wenn man merkt: alle laufen in dieselbe Richtung. Darum war es schon wichtig – und wird es auch immer sein –, dass man klar zum Ausdruck bringt, wenn man eine andere Meinung hat. Egal bei welchem Thema.

Von Victor Hugo stammt das Zitat: «Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist.» Inwieweit trifft dies auch auf euch und eure Musik zu? Gibt es Dinge, die sich nur durch Musik ausdrücken lassen?

AP: Ich sehe die Rolle der Künstler tatsächlich als Hofnarren: Es ist unsere Pflicht, unsere heilige Pflicht, dieser Rolle nachzukommen und unsere Regierung zu kritisieren. Ob das jetzt die einzige Möglichkeit ist, an die Leute ranzukommen, weiss ich nicht. Aber es ist ein sehr mächtiges Instrument, um die Herzen der Menschen ein bisschen aufzuknacken. Und auch unterschwellige Botschaften auf subtiler Ebene bei den Menschen in Gang zu setzen – wobei wir beide mit unseren Botschaften ziemlich direkt sind.

MM: Musik hat Frequenzen, mit der man Regionen im Gehirn und in der Seele erreicht, was mit einem Podcast oder einem Buch nicht möglich ist. Als ich meinen ersten Mundart-Song «Schwiz Wach Uf!», in den ich diese ganze Energie, Verzweiflung und Wut hineinpackte, vor der Veröffentlichung den ersten Leuten vorspielte, haben fast alle geweint. Da hab ich schon gemerkt, dass Musik Dinge schafft, die sich durch Wörter oder das gesprochene Wort alleine nicht erreichen lassen. Und das wissen die ja auch. Es gab ja einen Grund, weshalb Musik an Demos teilweise verboten war. Bestimmt nicht, weil du dann alle ansteckst oder zehn Meter weit spuckst. Die sind ja nicht blöd. Die wissen genau, welche Macht Musik hat und welche Energie sie den Leuten geben kann. …

von Lilly Gebert


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Der Geist Europas

Ulrike Guérot ist Professorin für Europapolitik an der Uni Bonn und eine der prominentesten Kritikerinnen der Corona-Massnahmen-Politik. Nachdem sich ihr Essay «Wer schweigt, stimmt zu» über Monate hinweg in den deutschen Bestsellerlisten hielt, erscheint mit «Endspiel Europa» nun ihr nächster Querangriff inklusive Utopie-Entwurf. Wir sprachen mit ihr über den Traum Europa, seine Defizite und die Notwendigkeit der Transzendenz.

«DIE FREIEN»: Liebe Ulrike, seit mehr als 30 Jahren setzt du dich mit Europa, seiner Vergangenheit und Zukunft, seinen Problemen und Potenzialen auseinander. Dabei kommst du immer öfter auf das geistige, das spirituelle Erbe Europas zu sprechen. Warum?

Ulrike Guérot: Mein Nachdenken über oder meine Arbeit an Europa fing 1992 an. Das war zum Zeitpunkt des Maastrichter Vertrags, was ja hiess: «Ever closer union», also «immer engere Union». Zu diesem Zeitpunkt war ich im Bundestag und habe hautnah mitbekommen, wie dieser Vertrag verhandelt wurde und eine Aufbruchsstimmung auslöste. Ich kann mich heute noch daran erinnern, wie freudig damals alle darüber waren, sich in ein geeintes Europa hineinzudenken. Das hat mich nicht verlassen, über viele Jahre, ganz egal, wo ich war – in Brüssel, in Washington, in Wien oder in Berlin. Dieses Nachdenken über Europa, dabei aber auch zu sehen, wie sich die EU immer mehr von dem entfernte, was Europa sein sollte. Das wurde dann auch mein Thema: Eine neoliberale EU, Institutionen, die nicht funktionieren, die fehlende Bindung der EU mit den Bürgern, die populistische Ablehnung der EU. Das ist alles nicht mehr das, wovon wir 1992 geträumt haben. Damals hatte Europa auch eine spirituelle Dimension. Vielleicht sind mir deshalb aus meiner Arbeit für Jacques Delors, den EU-Kommissionspräsidenten 1985 – 1995, die folgenden Sätze besonders in Erinnerung geblieben: «Wir müssen Europa eine Seele geben» und «In einen Binnenmarkt kann man sich nicht verlieben». Denn gerade jetzt, wo Europa sich beinahe wieder im Krieg befindet, habe ich das Gefühl, dies ist ein Verrat an der europäischen Erzählung, an Europa. «Nie wieder Krieg» hiess es. Aber heute kämpft Europa wieder für einen vermeintlich geeinten Nationalstaat. Dabei sollte Europa die Überwindung der klassischen Nationalstaaten sein. Dieser fundamentale Verrat an den europäischen Werten springt mir gerade sehr ins Auge. Und deswegen wünsche ich mir tatsächlich, dass Europa seine Transzendenz, seine Spiritualität oder seinen Geist wiederfindet. Im Sinne von Jacques Delors: Wir werden Europa nicht mit Waffen beseelen.

Wie sähe eine spirituell-geistige Transzendenz Europas aus?

UG: Erst einmal braucht es mehr als einen Markt. Es ist ein grosses Problem, dass die Einbettung des Binnenmarktes in ein politisches Projekt Europa nie richtig gelungen ist. Es hat die europäischen Bürger mürbe gemacht, es hat sie gegen Europa gewendet. Viele bemerken das heute. Vielleicht war deswegen mein 2016 erschienenes Buch «Warum Europa eine Republik werden muss» ein so grosser Erfolg. Das hat eigentlich gezeigt, wie viele Leute schon damals im Zusammenhang mit Brexit, Populismus, Orban, PiS usw. das Gefühl hatten: die EU ist nicht die Utopie Europas, sie ist nicht das, wovon wir geträumt hatten. Wir wollen diese EU nicht, aber wir wollen Europa. Europa muss anders werden, une autre Europe, alter Europa, so heissen die Debatten. Und auf dieses «anders» kommen wir jetzt: Was hiesse diese Transzendenz, diese Beseelung Europas? Davon handelt das letzte Kapitel meines neuen Essays «Endspiel Europa». Dort habe ich ausgeführt, dass Europa aus einer Denk- und Geistestradition kommt, die im besten Sinne republikanisch ist. Und das muss man im Wortsinne verstehen: Wir reden derzeit sehr viel über Demokratie, aber selten über die Republik. Die Republik aber ist von Platon über Aristoteles, Cicero, Rousseau, Kant der Begriff dafür, wie in Europa seit 2000 Jahren politische Ordnungen und Bürger-Staat-Beziehungen geregelt werden. Insofern ist die Republik eigentlich das Juwel der europäischen Geistesgeschichte. Republik – also res publica – bedeutet schliesslich Gemeinwohl – dem Gemeinwohl unterstellt. …

von Lilly Gebert


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Wer war Albert Hofmann?

Es gibt Erlebnisse, über die zu sprechen die meisten Menschen sich scheuen, weil sie nicht in die Alltagswirklichkeit passen und sich einer verstandesmässigen Erklärung entziehen. Damit sind nicht besondere Ereignisse in der Aussenwelt gemeint, sondern Vorgänge in unserem Inneren, die meistens als blosse Einbildung abgewertet und aus der Erinnerung verdrängt werden. Das vertraute Bild der Umgebung erfährt plötzlich eine merkwürdige, beglückende oder erschreckende Verwandlung, erscheint in einem anderen Licht, bekommt eine besondere Bedeutung. Ein solches Erlebnis kann uns nur wie ein Hauch berühren oder aber sich tief einprägen.

— LSD, mein Sorgenkind.

Als Albert Hofmann die Erfahrung einer anderen, vielleicht höheren Wirklichkeit machte, war er noch sehr jung, fast noch ein Kind. Auf einem seiner Waldspaziergänge erstrahlte die ihm so vertraute Umgebung plötzlich in einer ungewohnten Klarheit, einer von ihm bis dahin nie wahrgenommenen Schönheit, die sich nun direkt an sein Herz zu richten schien. Gefühle endlosen Glücks, absoluter Zugehörigkeit und seliger Geborgenheit durchzogen ihn in einer solchen Vehemenz, dass ihm von da an klar war: Diese Welt bietet mehr, als wir mit unseren Sinnen wahrnehmen können.

Im Kaleidoskop der Wirklichkeit

«Mystische Ganzheitserlebnisse» wie diese begleiteten den wohl berühmtesten Schweizer Chemiker der Neuzeit sein Leben lang. Sie weckten in ihm das «Verlangen nach einem tieferen Einblick in den Bau und das Wesen der materiellen Welt», und damit auch den Wunsch, die Wechselwirkungen zwischen Wirklichkeit und Bewusstsein zu erforschen. Seine Faszination an der Natur und ihren Wirkungsweisen verhalf ihm nicht nur zu einer vielfach ausgezeichneten Dissertation über die Struktur des Chitins, sondern auch zu einer Lebensanstellung als Forschungschemiker und Leiter der Abteilung für Naturstoffe beim Basler Chemie- und Pharmakonzern Sandoz.

Selbst wenn Hofmann damals noch nicht ahnte, dass er neben seinen Forschungen an Heil- und Arzneipflanzen wie Meerzwiebel, Rauwolfia oder mexikanischen Zauberpilzen einen Stoff entdecken würde, von dem ein Gramm «ausreicht, um 20’000 Personen in einen mehrstündigen halluzinogenen Rauschzustand zu versetzen», war LSD – wider zahlreicher Behauptungen – kein Zufallsfund …

von Lilly Gebert
Credit Grafik: polyactive


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