Briefwechsel mit Nicolas Lindt

Betreff: Ein Land braucht sein Volk?

Lieber Nicolas

«Man sollte ihnen keine Träne nachweinen.» Ununterbrochen hatten Flüchtlinge die DDR im Herbst 1989 verlassen, als sich Erich Honecker zum berühmten Ausspruch verleiten liess. Den Grund für die Massenauswanderung fand der Generalsekretär nicht bei seiner Politik, sondern bei den Menschen, die aus dem Land flüchteten: «Sie schaden sich selbst und verraten ihre Heimat.» Und dazu hatten sie kein Recht, im Gegenteil: «Sie alle haben durch ihr Verhalten die moralischen Werte mit Füssen getreten.»

Nun hast du eine Kolumne geschrieben mit dem Titel «Ein Land braucht sein Volk». Bei mir klingen da sofort die Worte Honeckers nach, der Menschen als Eigentum des Staates sah. Ein Land braucht «sein» Volk? Gehört das Volk einem Land? Ein Volk besteht aus Individuen, aus Menschen. Sie gehören niemandem ausser sich selbst! Als vor über 40 Jahren der jugendliche Zorn am Autonomen Jugendzentrum entflammte, befand sich die Stadt im Ausnahmezustand: Demonstrationen, Krawalle, Verhaftungen. Du warst mittendrin, hast 1981 die linke WOZ mitgegründet und warst Mitinitiant der GSoA. Heute bist du bei den meisten deiner ehemaligen Mitstreiter nicht mehr willkommen. Weil du ausscherst und Ideologien scheust, hinschaust, und auch heisse Eisen aufgreifst. Du bist einer der letzten wahren Linken in einem Land, dessen politisches Spektrum links der Mitte von der Woke-Ideologie gekapert wurde. Da machst du nicht mit, bleibst links und zitierst einen Berater der ukrainischen Regierung, der verlangt, dass geflüchtete Ukrainer in ihr Land zurückkehren, damit sie «Mieten bezahlen, Apotheken nutzen und ihre Steuern bezahlen».

Selbstverständlich «müssten die Rückkehrer nicht in den Schützengräben kämpfen», verspricht Selenskis Berater. Ist das ein glaubwürdiges Versprechen einer Regierung, die Männern die Ausreise verbietet? Die ukrainische Regierung braucht jetzt ihre Männer. Um sie durch den Fleischwolf zu drehen in einem aussichtslosen Krieg, der nicht zu gewinnen ist.

Den Menschen das Selbsteigentum abzusprechen, ist keine ausschliesslich linke Idee. Rechte tun dasselbe, auf andere Weise. Wie immer taugen weder rechte noch linke Ideen, denn das zugrunde liegende Problem ist der Staat selbst. Die libertäre Lösung ist so klar wie einfach: offene Grenzen bei gleichzeitiger Abschaffung des Sozialstaats. Wer jetzt argumentiert, dass wir doch eine Verantwortung haben gegenüber Menschen, die vor Gefahr zu uns fliehen müssen, liefert selbst den Beweis dafür, dass es immer genügend Menschen geben wird, die echten Geflüchteten helfen wollen. Alle anderen würden den Weg in die Schweiz nicht mehr antreten ohne die lockende Sicherheit des Wohlfahrtsstaats. So liesse sich das Migrationsproblem lösen, ohne dass wir uns in der Schweiz über die Geflüchteten erheben müssen, indem wir die Flucht aus ihrem Heimatland moralisch bewerten.


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