Betrachtungen im Dom zu Arlesheim

Im Baselbiet in Arlesheim steht ein wunderschöner Dom. 1679 bis 1681 erbaut, erhielt sein Innenraum 1759 bis 1761 ein neues, von Tessiner und Venezianischen Künstlern gestaltetes Gesicht. Das von ihnen geschaffene Ensemble wurde vor wenigen Jahren sorgfältig renoviert. Der erhebende Anblick dieses Gesamtkunstwerks – das man sich von Musik erfüllt vorstellen darf –, regt mich an, einige seiner Qualitäten näher anzuschauen.

Die hier verwirklichte Stileinheit von Architektur, Malerei und Plastik stammt aus jener Epoche, in der monarchische Gesellschaftsstrukturen – die sich wenig später aufzulösen begannen – noch bestanden. Die von der Kirche vermittelte Lehre wurde von den Gläubigen noch als ein tiefsinniges Bild des Universums verstanden und weitgehend mitgetragen. Die im Dom gemalten oder in Stuck (einem Gemisch aus Gips und Marmorpulver) modellierten Gestalten aus Bibel und Mythos können uns heute, wo nur noch Zahlen «modelliert» werden, erfreuen und berühren.

Gleichzeitig stellen sich mir angesichts eines solchen Bauwerks Fragen: Kann das Lebensgefühl, das diesen Innenraum durchdringt, sich mir mitteilen, oder bleibt es mir fremd? Bin ich nicht vielleicht «gegen» eine solche Prachtentfaltung, die mancher als theatralische Inszenierung eines vereinnahmenden Katholizismus bezeichnen würde? Auch ich kann für Momente diesen Rokoko-Stil in kritischer Weise sehen – frage mich aber, was mich daran trotzdem so sehr anzieht?

Ich wohne in der nahe gelegenen Stadt. Dort wurden in letzter Zeit grosse und riesengrosse Bauten hochgezogen. Es sind Häuser oder Türme in Form von Quadern (allenfalls schräg angeschnitten oder abgetreppt), deren Fassaden mit gleichmässigen Gittern gerastert sind. Die Masseinheit, die diesen Gitterstrukturen zugrunde liegt, ist ebenfalls so gross, dass – mit ihr verglichen – das Mass der Menschen (ca. 170 cm Höhe), die sich im Bereich dieser Immobilien bewegen, als winzig erlebt wird. Auch wenn ich das eine oder andere dieser Bauwerke gelungen, dessen Design im Einzelfall schön finden kann, stelle ich doch fest, dass sie, aufgrund dieser wenig differenzierten Massstäblichkeit, in ihrem jeweiligen Stadtquartier stehen, ohne mit ihm verbunden, ohne in ihm verankert zu sein. Die im Stadtgefüge übrig gebliebenen älteren Häuser nähern sich – mit den bei ihrer Gestaltung angewandten Skalen verschiedener Gross- und Kleinformen – dem menschlichen Mass an, während sie neben den grossgerasterten Neubauten nun wie «geschrumpft» – und die Passanten sogar «verzwergt» – wirken.

Was bei einem Neubau meistens fehlt, sind Formelemente, die ausreichend klein sind, um Grund-Mass zu sein, um mit dessen Hilfe das Gesamtmass des Baus ermessen zu können – und um dessen Grösse in Beziehung zur eigenen Körpergrösse sehen zu können (Beispiel einer diesbezüglich geglückten Gestaltung ist die Fassade des 2016 eingeweihten Basler Kunstmuseums).

Der Arlesheimer Dom hingegen lebt von der Spannung zwischen der real gegebenen Höhe und Breite des Kirchenraums und den bei den Wandornamenten wie auch innerhalb der Malereien verwendeten sehr kleinen Form-Teilen. Somit bieten all diese architektonischen, skulpturalen und malerischen Gestaltungen ein äusserst reiches Spektrum verschiedenster Form-Grössen an. …

von Manfred E. Cuny


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