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Monat: Juli 2023

Keine Bildung ohne Beziehung

Interview mit Matthias Burchardt

Was ist das Geheimnis gelingender Bildung? Ist es die Selbstbestimmtheit des Schülers, seinen Neigungen frei nachzugehen, oder doch die autoritäre Hand, die nicht müde wird, ihm Leistungsanforderungen zu stellen? Der Bildungsphilosoph Matthias Burchardt ist überzeugt: Wollen wir Bildung zurück auf die Pfeiler der Menschlichkeit stellen, ist Beziehung das Erste, was wir lernen müssen.

«DIE FREIEN»: Lieber Matthias, deiner Doktorarbeit hast du damals den schönen Titel «Erziehung im Weltbezug» verliehen. Was darf man sich darunter vorstellen?

Matthias Burchardt: Der Ansatz ist eigentlich der, dass sich der Mensch oft als isoliertes Wesen betrachtet hat. Insbesondere die Vorstellung des Subjektes in den Zeiten der Aufklärung hat uns auf uns selbst zurückgeworfen. Sie hat uns zwar viel Macht über die Natur und den Mitmenschen verliehen, aber uns zugleich auch einsam und verloren gemacht, sodass wir nicht nur in der Welt als Aussenseiter erscheinen, sondern auch gegenüber unseren Mitmenschen. Und meine Arbeit versucht eigentlich die Beziehungen, in denen wir stehen, wieder zum Thema zu machen. Da geht es nicht nur um den Weltbezug, sondern auch den Mit-Bezug, die soziale Dimension unserer Existenz, und um den Selbst-Bezug, also dass wir nicht nur einfach ein Ich sind, sondern auch eine dunkle oder eine Rückseite haben, die ich das Selbst nennen würde.

Inwiefern unterstützt die aktuelle Auffassung von Bildung derartige Formen von Beziehung?

MB: Ganz und gar nicht. In Deutschland werden OECD-Pläne ausgerollt, die nicht nur mit formalen Schulreformen verbunden sind, sondern auch mit einer neuen Formulierung des Bildungsbegriffs in Hinblick auf Kompetenzen. Hinzu kommt das «selbstgesteuerte Lernen». Das ist eine Modellierung des Lernprozesses, nach dem sich der Schüler gewissermassen unabhängig von Anleitung und pädagogischer Zuwendung einen Weg durch die Bildungslandschaften bahnen soll. Was dabei natürlich völlig fehlt, ist der Weltbezug im Sinne der Fachlichkeit. Die reine Kompetenzorientierung verzichtet auf das Wissen und die tatsächliche Weltbegegnung. Das selbstgesteuerte Lernen verzichtet auf die pädagogische Beziehung und das Verhältnis des Selbst zum Ich wird auch nicht als Bildungsdimension reflektiert.

Pläne, die auf Modellierungen und Steuerungsmechanismen beruhen … Inwieweit werden die Kinder in diesem Konzept überhaupt noch als Menschen gesehen?

MB: Also der Begriff der Selbststeuerung changiert zwischen zwei Aspekten: Er hat einmal eine scheinbare Emanzipations-Qualität, weil ich selbst steuere – also die Schule ist nicht mehr die «böse Schule» der autoritären Unterdrückung, sondern sie zwingt den Schüler fortan in einen Modus der Selbst-Unterwerfung. Nur ist diese Unterwerfung des «Sich-selbst-steuern-Müssens» eben kein pädagogisches Handeln, kein Bildungsprozess, sondern ein technokratischer und technomorpher. Also müssen wir, wenn wir die Schule kritisieren wollen, nicht nur darauf abheben, wie die Verhältnisse zwischen Lehrern und Schülern balanciert sind, sondern auch wie die Handlungsmodelle sind, – ob sie tatsächlich menschlich und frei sind, oder nicht doch technokratisch.

Seinem Wortursprung zufolge bedeutet Schule übersetzt so viel wie Musse. Also die Zeit, die wir mit dem verbringen können, was unseren eigentlichen Neigungen entspringt, ohne dabei durch die Handlungszwecke anderer fremdbestimmt zu werden. Brauchen wir, damit dieser ursprüngliche Gedanke von Schule und Bildung gelingen kann, eine andere Form von Beziehung?

MB: Ja, und auch eine andere Beziehung zu Zeit. Wir haben eine ziemlich starke Aufgabenverdichtung. Diese ganzen Arbeitsblätter, die der Schüler erledigen muss – er ist ja nicht nur mit Lernen beschäftigt, sondern bekommt obendrein die Lernorganisation aufgedrückt. Eigentlich ist mit den modernen Pädagogiken eine Form der Grossraumbüro-Mentalität von Projekt und Aufgabe in unsere Schulen eingekehrt. Seither herrscht in ihnen ein grosser Beschleunigungs- wie auch Pragmatismusdruck. Alles muss funktional und nutzbar sein, wohingegen die Musse Dinge gedeihen lässt, ohne dabei diesen äusseren Handlungsdruck zu erzeugen. Nicht um untätig zu bleiben, sondern um danach handlungsfähig aus der Schule herauszukommen. Denn die Schule ist eigentlich eine Schutzzeit. Sie wurde errungen, so wie auch die Idee der Kindheit kulturell geboren wurde und nun verteidigt werden muss.

Ich höre oft, das Einzige, was den Kindern fehle, um erfolgreich zu lernen, sei die Begeisterung. Wenn das Konzept Schule jetzt aber nicht darauf ausgerichtet zu sein scheint, dem Kind zu einem erfolgreichen Lernprozess zu verhelfen, stellt sich mir die Frage: Wem oder was dient sie dann?

MB: Begeisterung finde ich wichtig, aber es ist nicht das Einzige, was zählt. Es bedarf auch des Fleisses, der Geduld, der Übung, des Gehorsams, des Sich-Einlassens auf sachliche Erfordernisse und äussere Anforderungen, die allerdings dann nur gerechtfertigt sind, wenn

Schule wiederum ihre Bedingungen erfüllt, sprich eine verantwortungsvolle, behütende Lehrerschaft oder eine Atmosphäre, die mich von Druck befreit. Dass das Lernen nicht immer nur mit Lust und Freude zu tun hat, da bin ich mir nicht ganz sicher. Jeder, der mal ein Musikinstrument gelernt hat, weiss, dass es da auch Durststrecken gibt, über die man hinweg muss, um dann bei der Begeisterung zu landen. Wenn man nur mit der Begeisterung spielt, dann kommt man nicht weit.

Aber wem dient die Schule? Das ist eine gute Frage. Der Idee nach sollte sie der Entfaltung des Menschen als Individuum, als Person und als Subjekt dienen. Natürlich ist sie auch ein Ort, an dem so was wie staatsbürgerliches Handeln oder staatsbürgerliches Denken entfaltet wird. Das finde ich übrigens auch legitim. Aber sie ist eben kein Ort der Indoktrination. Und momentan dient sie eigentlich der Zubereitung des Menschen für bestimmte Verwertungszusammenhänge, dann aber auch eine Ideologisierung für bestimmte politische Konstellationen und vielleicht auch einer Beraubung von Aufklärungsmöglichkeiten und einer Desillusionierung in Hinblick auf die eigenen Handlungsmöglichkeiten im politischen Raum.

Kritisches Denken braucht Fantasie. Und für Fantasie brauchen wir die Verbindung zu unserer eigenen Vorstellungskraft. Wohin steuern wir, wenn uns beides genommen wird?

MB: Die Schule ist für mich grundsätzlich schon ein Ort, an dem so etwas entfaltet werden kann. Ich selbst bin sehr gerne zur Schule gegangen. Ich habe einen grandiosen Philosophie- und Deutschunterricht genossen, an dem ich zu dem Denker, zu dem Schriftsteller geworden bin, der ich heute bin. Das verdanke ich meinen Lehrern, die haben mich mit ganz viel Frischluft versorgt. Und das, obwohl es eine katholische Schule war, mit durchaus strengen moralischen Regeln.

Trotzdem gibt es den Vorwurf, dass Schule per se zerstörerisch sei. Das ist ein Narrativ, das von bestimmten Schulreformern immer wieder angeführt wurde, um die Bindung zwischen Schüler und Lehrer zu kappen. Da gibt es ein schönes Beispiel aus dem Kunstunterricht. Dort gibt es die Meinung, Kinder müssten sich selbst entfalten dürfen, man dürfe ihnen keine Anleitung geben und ihre Fantasie müsse völlig blühen. Was rauskommt, ist dann meistens eher bescheiden. Es sei denn, jemand ist von sich aus sehr begabt oder Autodidakt … Ganz anders sieht es aus, wenn man die Schüler pädagogisch anleitet. Gibt man den Kindern eine Wahrnehmungsschulung, guckt man genau hin auf die Wirklichkeit. Und wenn man ihnen die Techniken des Darstellens sorgsam beibringt und die Imaginationsmöglichkeiten darlegt, also das ganze Spektrum künstlerischen Tuns, erweitert dies ihr eigenes Spektrum der fantastischen Produktion und schränkt es nicht ein. Damit sind die pädagogische Anleitung und die Freiheit und Fantasie des Kindes nicht von vornherein konträr, sondern können in einer Ermöglichungsbeziehung stehen. Gleichwohl gibt es ein Interesse daran, die Fantasie und die Einbildungskraft zu limitieren, weil die Einbildungskraft natürlich das Vermögen ist, sich etwas vorzustellen, was nicht – oder noch nicht – wirklich ist. Das bedeutet auch, sich im politischen Raum Alternativen zum Gegebenen vorstellen zu können – «es könnte anders sein, es könnte besser sein». Und wenn ich das nicht lerne, dann fehlt mir die Übung, mir auch eine Alternative zur Realität vorzustellen. Man könnte sich also schon vorstellen, dass die Macht grosses Interesse an einer Unterdrückung oder Kanalisierung der Einbildungskraft hat.

Wie wird Schule zu einem Ort, den man lieben kann?

MB: Indem die Menschlichkeit wieder einkehrt, die personale Beziehung. Die Sachlichkeit muss wieder einkehren und die Fächer wieder selbst als Ausgangspunkt der Faszination zur Geltung kommen dürfen. Dazu muss der Unterricht als das grosse Drama, das grosse Ereignis einer Sachklärung, durch die ich zur Person und zum Menschen werde, in den Mittelpunkt rücken. Das könnte einerseits weniger sein in Richtung Stress und Schulorganisation, es könnte aber mehr sein an Qualität, Zumutung oder Zutrauen. Ich halte eben auch sehr viel vom Leistungsprinzip. Denn Leistung heisst für mich, sich an etwas zu bewähren. Ähnlich Schusters Leisten verlangen uns auch die Aufgaben der Welt Leistungen ab, an denen wir uns zu bewähren haben. Die Schule ist hierbei eine Art Bewährungsort, an dem ich mich an etwas, aber auch für etwas bewähren kann. Und wenn ich mich bewährt habe, bekomme ich Anerkennung, die nicht nur aus dem Lob der anderen, sondern aus der Begegnung mit der Sache herrührt. Ich bin dann zufrieden mit dem Werk, das ich vollbracht habe.

Unsere Auffassung von Leistung hängt oft auch stark davon ab, welche Beziehungsqualität wir in der Hinsicht von unseren Eltern erfahren haben. Je nachdem nehme ich Leistungsanforderungen vielleicht nicht als Überforderung wahr, sondern als Vertrauen, das man mir entgegenbringt, weil man an mich glaubt.

MB: Exakt. Übrigens bin ich auch für die Autorität. Autorität im Sinne einer Verantwortung, die jemand übernimmt, mit dem Ziel, sich selbst überflüssig zu machen. Darum geht es. Es muss jemand sein, an dem ich mich orientieren kann. Und Autorität wird nicht durch ein autoritäres Verhalten gestiftet, sondern durch die Anerkennung derjenigen, die sich mir anvertrauen. Und wenn ich weiss, der Lehrer will nicht über mich als Untertan herrschen, der nutzt die Autorität nur, um mich gross zu machen – gibt es was Besseres? ♦

von Lilly Gebert

***

Matthias Burchardt ist akademischer Rat am Institut für Bildungsphilosophie an der Universität zu Köln und stellvertretender Geschäftsführer der «Gesellschaft für Bildung und Wissen». Er ist entschiedener Kritiker der PISA- und Bologna-Bildungsreformen. Zuletzt erschien von ihm der Aufsatz «G8 als Baustein eines Reformputsches gegen die humanistische Bildungskultur» im Sammelband «weniger ist weniger: G8 und die Kollateralschäden».


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Grüne Politik und rote Linien

Interview mit Laura Grazioli

Bereits zum zweiten Mal bewegt Laura Grazioli die Gemüter. Die Baselbieter Landrätin der Grünen hat wenig Berührungsängste, vertritt Meinungen, die im Mainstream unpopulär sind und erntet dafür Lob und Kritik. Welche Ziele verfolgt die 38-jährige Biobäuerin, was ist ihr Antrieb und woraus schöpft sie Kraft und Gelassenheit?

Wir trafen Laura Grazioli in Sissach zum Interview. Obwohl die Landwirtin und Politikerin eine mutige Kämpferin für Debattenräume ist, konnten wir auch mit ihr nicht über alle Themen sprechen, die uns interessiert hätten. Aber wir lernten eine differenzierte, intelligente und spirituell interessierte Frau kennen, die den Kampf für die Grundrechte auch in Zukunft in den Institutionen führen möchte.

«DIE FREIEN»: Laura, wie geht es dir?

Laura Grazioli: Ich habe gerade ein wenig ein Tief hinter mir, aber jetzt geht es mir wieder recht gut. Wenn so ein grosser Sturm über mich hinwegzieht, wie es gerade wieder der Fall war, dann fühle ich mich wie getragen und auch beschützt und habe grosses Vertrauen. Es ist schwer zu beschreiben, ich bin dann einfach so präsent in diesem Moment, auch wenn er einige Wochen dauert und kann viel Energie aufbringen. Diese Intensität kann ich aber nicht dauerhaft aufrechterhalten, so dass mich nach dem Sturm jeweils ein Tief erfasst. Ich brauche dann etwas Rückzug und Normalität.

Man bezahlt einen Preis für die hohe Intensität?

LG: Ja und Nein. Es ist ein bisschen wie beim Sport. Man braucht nach der Anstrengung Erholung, wird dadurch aber stärker.

Die erste solche intensive Zeit begann für dich mit der Einführung des Zertifikats. Vorher bist du öffentlich nicht als massnahmenkritisch aufgefallen. Beim Zertifikat war dann deine rote Linie überschritten und du hast begonnen, dich deutlich kritisch zu äussern. Dadurch bist du parteiintern und bei politisch Verbündeten in starken Gegenwind geraten.

LG: Für mich war das echt spannend. Ich stand den Corona-Massnahmen von Anfang an kritisch gegenüber, doch dann wurde ich zum zweiten Mal schwanger. Mir war während der ganzen Schwangerschaft schlecht und das hat mich so viel Energie gekostet, dass ich mich überhaupt nicht mit der Aussenwelt beschäftigen konnte. Erst als meine zweite Tochter zur Welt kam, lief der Corona-Film bei mir ab und die ganze Tragweite der Massnahmenpolitik kam bei mir an. Wie viele andere musste ich eine richtige Trauerphase durchmachen und Abschied nehmen von der Welt, wie ich sie kannte. Als ich mich kritisch zu äussern begann, war der Gegenwind tatsächlich gross. Das war nicht immer lustig, aber mittlerweile kann ich gut damit umgehen, weil ich auch gelernt habe, die ganzen links-rechts-Kategorisierungen besser einzuordnen. Diese sind heute für mich komplett irrelevant geworden. Ich habe mittlerweile gute Freunde und enge Verbündete in den verschiedensten Parteien.

Ist das die berüchtigte Querfront?

LG: Ja, vielleicht ist das so.

Du schienst angesichts des riesigen Drucks, den Medien und Parteifreunde auf dich ausübten, immer gelassen zu bleiben. Täuscht dieser Eindruck?

LG: Nein, diese Gelassenheit hatte ich wirklich. Ich war mit den möglichen negativen Konsequenzen jederzeit im Frieden, sie waren und sind für mich fast irrelevant. Was ist denn das Schlimmste, das mir passieren kann? Dass ich aus der Partei geworfen werde oder dass ich in der Öffentlichkeit komplett diskreditiert wäre. Natürlich hätte das Einfluss auf mein Leben, aber ich könnte auch mit diesem schlimmstmöglichen Szenario umgehen.

Du wurdest auch schon als künftige Regierungsrätin gehandelt. Würde dich das reizen?

LG: Ja, schon. Aber es wäre überhaupt nicht vereinbar mit dem Betrieb auf dem Hof, und fast gar nicht vereinbar mit meinen Aufgaben als Mutter zweier kleiner Kinder. Daher ist es nichts, was ich jetzt unmittelbar suche. Und jetzt wird mir ja ohnehin gesagt, dass dieser Zug abgefahren sei. Daher lohnt es sich gar nicht, Energie für solche Ambitionen zu verschwenden.

Was würde dich daran interessieren, zu regieren?

LG: Lösungen finden, Ausgleich schaffen, moderieren. Die Arbeit im Hintergrund mache ich derzeit als Kantonsparlamentarierin am liebsten, vor allem im Finanzkommissionspräsidium kann ich konstruktiv arbeiten. Die Aufgaben als Regierungsrätin gingen noch weit darüber hinaus und eröffnen natürlich auch viel mehr Gestaltungsspielraum.

Wie würdest du diesen Spielraum nutzen? Was sind ganz allgemein deine Ziele als Politikerin?

LG: Ich habe nie zu dem harten linken Flügel der Partei gehört. Aber …

von Michael Bubendorf

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Laura Grazioli ist Grünen-Landrätin im Kanton Basel-Landschaft. Sie hat Internationale Beziehungen
studiert und arbeitete anschliessend als Exportberaterin. Nach einer landwirtschaftlichen Zusatzausbildung arbeitet sie seit 2021 Teilzeit als Biobäuerin. Die zweifache Mutter lebt in Sissach.


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75 Jahre WHO

… und kein bisschen müde. Die Weltgesundheitsorganisation arbeitet mit Hochdruck daran, ihre Befugnisse noch weiter auszudehnen. Was steckt hinter dieser mächtigen Organisation und welche Zukunftspläne hält sie für uns bereit?

Am 7. April 1948 wurde die World Health Organization (WHO) als Sonderorganisation der Vereinten Nationen gegründet. Sie hat 194 Mitgliedstaaten, was bedeutet, dass fast jeder Staat Mitglied der WHO ist. Die WHO verfügt über zwei Hauptorgane: die Weltgesundheitsversammlung (World Health Assembly, WHA) und den Exekutivrat (Executive Board) mit 34 sogenannten Gesundheitsexperten. Die WHA ist das höchste Entscheidungsorgan, sie wählt auch den Generaldirektor (aktuell Tedros Adhanom Ghebreyesus). Alle WHO-Mitglieder treffen jedes Jahr im Mai in Genf zusammen, um die finanziellen und organisatorischen Geschäfte zu beschliessen und die zukünftigen Programme festzulegen.

Wer finanziert die WHO?

Die WHO wird aus verschiedenen Quellen finanziert: einerseits durch die Beiträge von Mitgliedstaaten, andererseits durch Spenden von Regierungen, Stiftungen und privaten Organisationen, die bestimmte Programme und Projekte innerhalb der WHO unterstützen können. Die Beiträge der Mitgliedstaaten werden auf der Grundlage von Bevölkerungszahl und BNE (Bruttonationaleinkommen) berechnet. Unter den zehn grössten Geldgebern finden wir vier Staaten (USA, Grossbritannien, Deutschland und Japan), die EU sowie private Stiftungen wie die Bill & Melinda Gates Foundation, GAVI (Global Alliance for Vaccines and Immunisation) und Rotary International. Im Jahr 2022 wurden die Einnahmen auf 4,35 Milliarden Dollar beziffert, bei Ausgaben von 3,85 Milliarden. 84 Prozent waren sogenannte freiwillige Beiträge, sprich Nichtregierungsgelder. Diese starke Finanzierung durch private Gelder raubt der WHO jegliche Unabhängigkeit und wissenschaftliche Neutralität.

Ist die WHO immun?

Die WHO hat ihren Hauptsitz in Genf. Sie besitzt keine Immunität im rechtlichen Sinne, geniesst aber weitreichende Vorrechte und Immunitäten gemäss einer Vereinbarung mit dem Gastgeberland Schweiz, um ihre Unabhängigkeit und Wirksamkeit bei der Erfüllung ihrer Aufgaben zu gewährleisten. Diese Vorrechte und Immunitäten betreffen Steuern, Zollfreiheit, Befreiung von Beschränkungen bei der Einreise und Aufenthaltsdauer, das Recht, eigene Regelungen und Gesetze zu erlassen (!), und die Unmöglichkeit der Vollstreckung von Gerichtsurteilen gegen die WHO. Das bedeutet im Klartext die Immunität von Menschen, die von keinem Schweizer Steuerzahler respektive Stimmbürger je gewählt wurden. Auch die GAVI (ebenfalls mit Sitz in Genf) geniesst Immunität.

Vom 21. bis 30. Mai 2023 fand in Genf die jährliche Weltgesundheitsversammlung statt. Zwei grosse Themen standen auf der Traktandenliste, die praktisch für die ganze Welt wegweisend sind: die «International Health Regulations» (IHR; internationale Gesundheitsvorschriften) undder neue Pandemievertrag («Pandemic Treaty»).

Was steht in den internationalen Gesundheitsvorschriften?

Gemäss der WHO und ihren – insbesondere privaten – Financiers haben wir spätestens mit Corona das pandemische Zeitalter beschritten. Zurzeit befinden wir uns in einer «interpandemischen Phase», wobei wir nicht vergessen wollen, dass die Notstände betreffend Affenpocken und Polio noch nicht aufgehoben sind.

Es genügt schon, einige wenige Artikel zu lesen, um zu erkennen, dass es der WHO tatsächlich um einen Freipass geht, schalten und walten zu können, wie es ihr gerade beliebt. Beispielsweise Artikel 1: Bei den Empfehlungen wird in der neuen Fassung «non-binding» (nicht verpflichtend) weggelassen – die Empfehlungen sollen demzufolge verpflichtend sein. Oder Artikel 13a: Die Staaten übernehmen die Verpflichtung, den Weisungen der WHO zu folgen. Wie bitte? Gemäss der Wiener Vertragsrechtskonvention vom 23. Mai 1969 (für die Schweiz in Kraft seit 6. Juni 1990) sind die Staaten bei solchen supranationalen Vertragswerken souverän. Aber sind die Staaten wirklich frei – und wollen sie das überhaupt sein? Die meisten Staaten sind eindeutig bestrebt, die WHO in ihrem Absolutismus zu stärken. So hat sich beispielsweise der Deutsche Bundestag am 12. Mai 2023 für eine Reform der WHO ausgesprochen. Ein entsprechender Antrag der Ampelkoalition anlässlich des 75-jährigen Bestehens der Weltgesundheitsorganisation wurde mit 497 Stimmen angenommen. 68 Abgeordnete votierten gegen die Vorlage, 25 enthielten sich.

Werfen wir auch einen Blick auf einen Abschnitt im Anhang 2 der IHR, der auf Artikel 12 basiert: Dort werden im Rahmen des «One Health»-Konzeptes die Sachverhalte für die Ausrufung eines internationalen Gesundheitsnotstandes erweitert – nicht nur unter Einbezug des Menschen, sondern auch der Tiere, der Pflanzen, der Landwirtschaft. Wenn also die gemeinen Lavahamster auf Lanzarote an einer epidemischen Entzündung ihrer Kniescheiben leiden und eine Übertragung auf den Menschen nicht ausgeschlossen werden kann, ist die WHO ermächtigt, den Notstand auszurufen. Dabei unterscheidet man zwischen vorsorglichem, regionalem und globalem Gesundheitsnotstand.

Machen wir uns nichts vor: Im Namen von «One Health» kann eine ausser Kontrolle geratene WHO beliebig Gesundheitsnotstände proklamieren – von herbeigezauberten Klima-Konstrukten bis hin zu Problemen mit der Artenvielfalt (zu viele von einer Art …?).

Sobald ein Gesundheitsnotstand ausgerufen ist, können die Staaten ihre Arzneimittelgesetze aussetzen. Das ist der Moment, in dem die Pharmaindustrie zubeisst, denn es handelt sich um einen «Health Alert» (Gesundheitsalarm). Nun reichen die Pharmafirmen sehr schnell – als würden sie Kaninchen aus dem Zylinder zaubern – Vorprüfungen irgendwelcher Medikamente und Impfstoffe an die entsprechenden Zertifizierungsstellen ein, die es an sogenannte «Prequalification Departments» weiterleiten.

CEPI (Coalition for Epidemic Preparedness Innovations) ist eine globale Initiative, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Entwicklung von Impfstoffen gegen aufkommende Infektionskrankheiten schnell voranzutreiben. Sie wurde 2017 am WEF in Davos gegründet und arbeitet eng mit der WHO zusammen. Das deklarierte Ziel von CEPI: 100 Tage von der Virussequenzierung bis zum Impfstoff. Spätestens dann soll die Suppe für jeden Bürger bereit sein. Die Verträge der Staaten mit den Pharmamultis sind zwar für die Steuerzahler einsehbar – sie haben jedoch einen klitzekleinen Makel: Die meisten Seiten sind geschwärzt.

Juristen haben in der Schweiz die Gerichte und das Parlament aufgefordert, die Voraussetzungen für das Ausrufen einer Pandemie zu überprüfen. Geschehen ist nichts. Das Argument: «Aber wir sind ja noch in der Pandemie, da können wir doch nichts überprüfen.» Der kritische Bürger dreht sich im Kreis, bis ihm so schwindlig wird, dass er resigniert.

Der neue Pandemievertrag und die «Infodemic»

Im neuen «Pandemic Treaty» sind zwei Punkte wesentlich: Menschenrechte werden massiv zurückgestuft oder sogar herausgestrichen und durch das Konzept equity (Gleichheit) ersetzt – was am Ende des Tages ganz einfach bedeutet, dass alle Staaten (sofern es dann noch welche gibt) die gleiche Impfquote haben sollen.

Äusserst bedrohlich erscheint mir auch Artikel 17 des Pandemievertrages: Die WHO darf sich in soziale Medien einschalten zur Bekämpfung von Desinformation. Das führt mich zur Drohkulisse der infodemic, welche die WHO in Zusammenarbeit mit Big Pharma und Big Tech aufzieht.

Mit infodemic ist die Verbreitung von Fehlinformationen, Halbwahrheiten und Verschwörungstheorien im Zusammenhang mit bestimmten Themen oder Ereignissen gemeint. Eine infodemic kann dazu führen, dass Menschen falsche Annahmen treffen oder sich verängstigen oder irritieren lassen, was wiederum zu Fehlentscheidungen führen kann. Da WHO et al. davon ausgehen, dass die Menschen selbst nicht entscheiden können, was gut und nicht gut für sie ist, erledigt sie das zusammen mit ihren – zwar ausschliesslich profitorientierten – Helfeshelfern für uns. Dass das für manche existenzbedrohend ausgehen kann, zeigen die unzähligen Strafanzeigen gegen Ärzte und Heilpraktiker, die sich nicht WHO-konform verhalten haben. Auch in den Community-Richtlinien von YouTube steht explizit, dass man der WHO nicht widersprechen darf, ansonsten das Video gelöscht wird. Der Feind hört stets mit – man spricht bereits von social listening

Nutzen wir die interpandemische Phase

Im pandemischen Zeitalter wird ein neues Paradigma geschaffen: Ab Inkrafttreten der IHR und des Pandemievertrages ist es möglich, dass internationale Organisationen mit von niemandem aus dem Staatensouverän gewählten Körperschaften direkt über die Menschen bestimmen. Zumindest bis 2020 stand der Staat noch als Schutzschild für seine Bürger dazwischen. Dieser Schutz fällt nun weg, vor allem in Europa, wo die EU die neuen WHO-Bestimmungen, die im Mai 2024 definitiv in Kraft treten sollen, besonders eifrig vorantreibt. Der Bürger ist somit schutzlos ausgeliefert gegenüber internationalen Organisationen und Mächten, die wegen ihrer Immunität nicht einmal juristisch belangt werden können. Das ist nicht nur das Ende der Selbstbestimmung, sondern der Totalausverkauf der Demokratie und der Verfassung frei nach dem Motto: Alle Grundrechte müssen weg!

Nutzen wir die interpandemische Phase, um unsere Restfreiheit und damit das Leben zu geniessen, aber auch, um die Schweiz nicht nur aus der WHO zu entfernen, sondern ebenso die WHO aus der Schweiz! Ex-Bundesrat Ueli Maurer kann ich nur beipflichten: «Wir wollen keine fremden Richter!» Und ihn ergänzen: «Und schon gar keine fremden Henker!» ♦

von Marco Caimi

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Marco Caimi ist Arzt, Kabarettist und Publizist. Seinen Caimi Report finden Sie auf YouTube und Rumble.


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Freiheit säen durch Erddemokratie

Vandana Shiva gilt als eine der weltweit führenden Aktivistinnen für eine ökologische Landwirtschaft. Im Interview mit «DIE FREIEN» erläutert die indische Teilchenphysikerin, wie wir das machtgierige «eine Prozent» auf seinem Vernichtungsfeldzug gegen die Natur aufhalten und das Heilige in der Landwirtschaft wiederentdecken.

In einem ihrer neusten Bücher, «Eine Erde für alle! Einssein versus das 1%», zeigt die promovierte Teilchenphysikerin und Aktivistin auf, wie das reichste eine Prozent der knapp acht Milliarden Menschen den Planeten und seine Bewohner in den sozialen und ökologischen Abgrund treibt. Sie nimmt darin den Milliardärsclub und die globalistischen Imperien aufs Korn, deren Blindheit gegenüber den Rechten der Menschen und der Natur eine Spur der Zerstörung auf dem ganzen Planeten hinter sich lässt. Und sie zeigt auf, wie wir uns dem Krieg der Milliardäre gegen das Leben widersetzen können. Sie geht mit Gandhi einig, wenn sie sagt: «Die Erde bietet genug für die Bedürfnisse aller, aber nicht für genug für die Gier einiger weniger Menschen.»

«DIE FREIEN»: Vandana Shiva, die Gentechnologie nannten Sie einst die «Totengräberin» für die Biodiversität und die Landwirtschaft. Genveränderte Organismen stünden für «god move over» – Gott, mach Platz!

Vandana Shiva: Nun, das ist die Sichtweise der Industrie. 1987 war ich an einem internationalen Kongress, an welchem die Chemieindustrie ganz klar deklarierte: Jetzt müssen wir gentechnisch veränderte Organismen herstellen, um Patente zu erhalten. Ein Patent wird für eine Erfindung erteilt, deren Schöpfer der Patentinhaber ist. Wenn die Bosse der Agrarindustrie also sagen, dass genmodifizierte Organismen Patente bedeuten, dann sagen sie in Wirklichkeit: Gott, mach Platz! Wir sind die Schöpfer! Wir kassieren ab und setzen die neuen Trends.

In der Schweiz garantiert ein Gentechmoratorium seit 2005 für eine gentechfreie Landwirtschaft und Lebensmittel. Doch durch die Hintertür soll diese Regelung nun umgangen werden: Organismen, die mittels der neuen CRISPR/Cas-Methode, auch «Genschere» genannt, verändert werden, sollen gemäss Bundesratsbericht vom 1. Februar 2023 nicht per se als genveränderte Organismen (genmodified organism, GMO) gelten.  Ist CRISPR/Cas-verändertes Saatgut denn kein GMO?

VS: Es ist ein GMO, denn die Definition von Gentechnik hat nie gelautet, dass es sich bei der Manipulation um Transgene handeln muss, also um Gene aus einem anderen Organismus, die man einführt. Die Wissenschaftler sind sich im Klaren darüber, dass man bei der Veränderung eines Organismus auf genetischer Ebene, sei es durch Hinzufügen eines Gens (transgener Organismus) oder durch Bearbeiten eines Gens (CRISPR/Cas-modifizierter Organismus), immer noch in den selbstorganisierten Teil des lebenden Organismus eingreift. Es handelt sich also bei beiden Eingriffen um eine Genmanipulation im Sinne der technischen Definition.

Wie könnten wir die gentechnische Veränderung der Lebensmittel weltweit stoppen?

VS: Wenn nur drei, vier Länder weltweit GMOs grundsätzlich verbieten würden, würde das System zusammenbrechen. Und das Spannende ist ja, dass die Forschung an der CRISPR/Cas-Genschere durch Bill Gates finanziert wurde. Das zeige ich in meinem Buch «Eine Erde für alle! Einssein versus das 1%» auch auf.

Will dieses eine Prozent die ganze Schöpfung neu erfinden?

VS: Nun, sie können nicht Schöpfer sein. Sie geben nur vor, Schöpfer zu sein. Denn Schöpfung ist ein Prozess, durch den die Natur Leben erschafft, Menschen erschafft, Tiere erschafft, Pflanzen erschafft. Es ist ein lebendiger Prozess. Eine Agrarindustrie, die über Fachwissen verfügt, stellt hingegen Chemikalien her, um zu töten. Sie stellen Herbizide her, um Pflanzen zu töten, Insektizide, um Insekten zu töten, Fungizide, um Pilze zu töten. Es ist eine Tötungsindustrie, keine kreative Industrie. Hingegen ist der Anspruch auf Patentierung ein Anspruch auf Schöpfung. Sie wollen die Welt besitzen. Sie wollen das letzte Saatgut besitzen und Technologie- sowie Lizenzgebühren einkassieren.

In Ihrem Heimatland Indien hat das Geschäft mit dem patentierten Saatgut Hunderttausende von Bauern in den Tod getrieben.

VS: Ja, obschon sie dazu von der zulassungspflichtigen Behörde keine Bewilligung erhalten hatten, importierte Monsanto 1995 illegal sogenannte Bt-Baumwolle und begann 1998 mit ersten Feldversuchen. Die Bauern stiegen auf die genveränderte Baumwolle um und verloren durch das sterile Saatgut ihre Saatgutsouveränität. Kürzlich nun hat Monsanto den Preis pro Kilo Saatgut von 4 auf 4000 Rupien erhöht. Deshalb begehen immer mehr Bauern Selbstmord. 400`000 Bauern sind bisher gestorben. Die Todesstatistik ist nach Bundesstaaten aufgeschlüsselt, sodass man erkennen kann, welche Bundesstaaten die höchsten Selbstmordraten haben. Und 85 Prozent der Selbstmorde werden im «Baumwollgürtel» begangen. Das sind offizielle Regierungszahlen.

Also sollte man nur Biobaumwolle kaufen?

VS: Exakt. Denn Biobaumwolle bedeutet, dass sie nicht gentechnisch verändert wurde.

Versuchen diese Leute, besser zu sein als Gott?

VS: Sie können nicht besser sein als Gott oder die Natur. Denn Zerstörung ist keine Schöpfung, Töten ist kein Leben.

Wird mit den Patenten und Chemikalien Krieg gegen die Natur geführt?

VS: Ja! Und zwar, indem die Natur zum Feind erklärt wird, der zerstört werden muss. Das ist die Welt des mechanistischen Reduktionismus. Die Idee, dass der Mensch die Herrschaft über die Natur erlangen soll.

Sie sprechen auch von neuen Formen des Kolonialismus?

VS: Ja, denn es wird auch ein Krieg gegen die Menschlichkeit geführt, indem die Fähigkeit der Menschen zerstört wird, sich um ihre Bedürfnisse zu kümmern. Zuerst nehmen sie ihnen die Ressourcen weg, und dann nehmen sie ihnen die Lebensgrundlage und die Arbeitsplätze weg. Das ist es, was während des Covid-Lockdowns passiert ist. Die Volkswirtschaften wurden zerstört, also ist dieser Raubritterkapitalismus eine neue Form des Kolonialismus.

Mit dem Ziel der einen Weltregierung?

VS: Das Ziel ist, dass dieses eine Prozent die Welt regiert. Und es ist nicht eine Ein-Welt-Regierung. Es ist eine Handvoll Leute, die versuchen, jeden Aspekt des Lebens weltweit jederzeit zu kontrollieren.

Was können wir dagegen tun?

VS: Regiert euch selbst! Seid euer eigener Souverän! Zieht Euch von den Agenden zurück! Wenn das eine Prozent GMOs durchsetzen will, baut keine GMOs an. Wenn sie Fake-Lebensmittel vorantreiben wollen, esst keine Fake-Lebensmittel. Esst echte Lebensmittel, baut echte Lebensmittel an, gründet eine Lebensmittelgemeinschaft. Wenn das eine Prozent euch mit Überwachungssystemen kontrollieren will, tappt nicht in diese Falle, kauft keine Smartwatch, die ständig Daten über die Entwicklung eures Blutdrucks und eures Blutzuckerspiegels generiert, die dann zu Big Data werden.

Sind Daten das neue Öl?

VS: Ja, deshalb wollen sie nun unsere Daten nutzen. Lasst euch also nicht auf Systeme ein, in denen sie eure Daten auslesen können. Seid souverän!

Ein weiteres perfides Instrument zur Ausbeutung des Menschen ist das Patent 060606, das Microsoft im Jahr 2020 erhalten hat. Demnach soll das Mining, also das Schöpfen von Kryptowährungen, mit dem menschlichen Körper verknüpft werden, indem seine Körperdaten ausgewertet werden. Würde der Mensch damit zur Maschine degradiert?

VS: Nein, der Mensch würde nicht zur Maschine degradiert – sondern die Maschine, der Computer, besitzt den Menschen. Der Mensch ist nur ein «Bergwerk», das die Rohware, die Daten, liefert. Genauso wie der Berg, der nur interessant ist, weil er Bauxit enthält, den Rohstoff, aus dem Aluminium hergestellt wird oder Eisenerz für die Produktion von Stahl. Der menschliche Organismus soll zum neuen Lieferanten von Daten werden, die extrahiert werden können. Die Daten sind das Rohmaterial, das verarbeitet werden muss. Und das Verarbeiten übernehmen die Algorithmen im Computer. Das Patent 060606 macht deutlich, dass die Programmierung einer Maschine künftig darüber entscheidet, wie viel du wert bist. Du bist fünf Prozent wert, er ist zehn Prozent wert, und ich null, weil ich das alles so kritisch sehe. Der Algorithmus wird auf der Basis des Nutzerverhaltens, welches der Rohstoff ist, entscheiden, wie hoch der Wert des Nutzers ist. Darauf basierend werden dem Nutzer Kryptowährungen zugeteilt, womit auch dieser ganze neue Unsinn der digitalen Währung offenbar wird. Man darf dann noch so und so viel Anteil haben – darüber hinaus ist man ein Gefangener des Systems.

Und dein Wert bestimmt deinen Freiheitsgrad?

VS: Ja, sie sagen dir dann, wie weit du reisen kannst und was du essen darfst. Oh, tut uns leid, du kannst nur Insekten essen, weil du letztes Mal zu viel richtige Lebensmittel gegessen hast. Es ist also alles Teil von ein und derselben Struktur, einer Struktur des Faschismus, der Zerstörung und des Todes.

Also exakt das Gegenteil davon, die Heiligkeit des Lebens zu ehren?

VS: Absolut. Das Heilige bedeutet das Unverletzliche, das Heilige bedeutet das, was einen eigenen Stand, eine eigene Souveränität hat. Das ist alles Selbstorganisation. Demgegenüber stehen diese Systeme des Faschismus, die im Grunde sagen, du bist ein Objekt und du bist eine Mine, ein Bergwerk. Du bist nur eine Quelle von Rohmaterial. Und du bist eine Quelle für unsere Profite. Deshalb bist du nicht souverän. Und es gibt nichts, was uns heilig ist, ausser der Maschine. Raymond Kurzweil, im Silicon Valley eine zentrale Figur in Sachen Transhumanismus, hat ein Buch geschrieben mit dem Titel «Das Zeitalter der spirituellen Maschinen: Wenn Computer die menschliche Intelligenz übertreffen».Es ist verrückt! Die verrückte Machtelite!

Wie können wir das Heilige in der Landwirtschaft wiederentdecken?

VS: Dazu muss man zunächst einmal aufmerksam sein und seine Sinne schärfen. Denn wenn man feststellt, dass die Bodenorganismen zurückkommen, wenn man den Boden nicht mehr mit Giften malträtiert, dann wird einem klar, dass man nicht den Boden erschafft – der Boden erschafft einen. Der Boden ist lebendig, du bist ein Kind des Bodens. Alle Kulturen haben den Boden als heilig angesehen, das Land als heilig, die Erde als heilig. Und eine achtsame Landwirtschaft ist eine Kultur, die sich um den Boden kümmert. Auch die Integrität des Samens und seine Fähigkeit, sich mit seiner eigenen Intelligenz zu entwickeln, lehrt uns, das Heilige zu sehen. Der Samen und der Boden sind in ihrer Beziehung die Grundlage der Nahrung. Also ist Nahrung heilig und das Heilige der Landwirtschaft entsteht durch eine sehr sorgfältige Co-Kreation mit der Schöpfung der Natur.

Würde eine solche Co-Kreation auch bedeuten, dass wieder mehr Menschen in der Landwirtschaft arbeiten?

VS: Wir brauchen vor allem mehr Landwirte, die sich um den Boden kümmern, um gute Lebensmittel zu produzieren, um gute Gesundheit zu produzieren. Denn ein guter Landwirt ist auch ein Arzt, ein Naturschützer und ein Regenerator. Und all das kann man tun, wenn man mit Bewusstsein wirtschaftet.

Sie kämpfen seit über vier Jahrzehnten für Nachhaltigkeit. Beobachten Sie eine Entwicklung in diese Richtung?

VS: Nun, als Physikerin bin ich fasziniert von der Quantentheorie. Ein Grundprinzip der Quantentheorie ist die Ungewissheit. Ungewissheit bedeutet, dass nicht vorhersehbar ist, in welche Richtung sich die Dinge entwickeln werden, und was die Trends sind. Die Trends, die wir beobachten können, sind, dass die Menschen bewusster werden. Sie beschäftigen sich mehr mit ihrer eigenen Freiheit. Dieser Trend explodiert, und Covid hat den Menschen beigebracht, was sie nicht aufgeben sollten. Wie die Zukunft aussehen wird, hängt also davon ab, dass mehr und mehr Menschen ihr Bewusstsein schärfen. Und weil diese ganze Überwachungs- und Kontrollmaschine auf einer Ebene ein Kartenhaus ist, erkennt man in dem Moment, in dem man sie durchschaut, dass sie für ihren Erfolg unsere Zustimmung brauchen. Also gebt eure Zustimmung nicht!

In «Eine Erde für alle» beschreiben Sie die «Erddemokratie» als Weg in die Zukunft?

VS: Ja, denn wir sind alle Teil einer lebendigen Erde, wir sind Erdenbürger, wir sind Teil einer Erdenfamilie. Ich wünsche mir deshalb eine Erddemokratie, die Ökologie, Biodiversität, Nachhaltigkeit und Gemeinschaft ehrt – was der einzige Weg ist für eine Zukunft, die uns allen dient. ♦

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Vandana Shiva ist eine indische Physikerin, Umweltaktivistin und Buchautorin. Die Globalisierungskritikerin setzt sich ein für Umweltschutz, Biodiversität, Nahrungssouveränität, Nachhaltigkeit und Frauenrechte und wurde für ihr Engagement mehrfach ausgezeichnet.


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