Der Fremdkörper
Manchmal muss man auch kleine Entscheidungen treffen. Manchmal betrifft es nur eine leere Büchse. Doch eigentlich geht es um mehr.
Mitten im Bächlein, an dem ich fast täglich vorbeikomme – mitten in diesem Wässerlein, das munter und frisch dem Weg entlang durch die Wiese fliesst, lag eine Büchse. Eine zwischen zwei Ästen steckengebliebene, weggeworfene leere Redbullbüchse. Sie sprang mir ins Auge, in Rot, Silber und Blau und sie meinte, ein wenig zerbeult:
Ich gefalle dir nicht. Stimmt’s?
Es stimmte. Aber nicht die Büchse ärgerte mich, sondern derjenige, der sie achtlos in mein Bächlein geworfen hatte. Achtlos? Sie lag so provozierend mitten in der Idylle, dass ich annehmen musste, der Täter habe mit Absicht gehandelt. Manche Menschen können Harmonie kaum ertragen. Eine Wiese mit einem Bächlein finden sie derart friedlich, dass sie das Bild zerstören müssen.
Ich blieb einen Augenblick stehen und machte mir meine Gedanken über die Büchse im Bach. Das Wasser zog und zerrte an ihr, doch sie steckte so hartnäckig fest, dass ich annehmen musste, sie habe auf mich gewartet. Offensichtlich stand das Leben hinter der Sache. Es hatte den Täter ausgeschickt, mich zu prüfen. Denn die Büchse fragte mich interessiert:
Was tust du nun?
Mein erster Gedanke war: Ich hole sie aus dem Bach. Ich befriedige meinen Ordnungssinn, mein Gefühl für Ästhetik. In einer Idylle ist eine Redbullbüchse am falschen Platz. Sie gehört nicht hierher. Eine Büchse mit Apfelsaft hätte mein Urteil gemildert. Doch Redbull ist künstlich. Redbull ist ungesund.
Dann aber dachte ich: Lass’ die Büchse da, wo sie ist. Du musst lernen, Unordnung zu ertragen. Die Welt ist kein Paradies. Wo ein Bächlein über die Steine hüpft, wo die Welt intakt und geordnet scheint, ist die Schattenseite nicht weit. Lerne mit Widersprüchen zu leben.
Der dritte Gedanke war: Hier geht es nicht um dich, sondern um die Natur. Sie ist ein lebendiges Wesen und mag keine Fremdkörper. Die Büchse tut dem Bächlein weh. Befreie es von der menschlichen Gleichgültigkeit. Nimm die Büchse zu dir und wirf sie in den nächsten Papierkorb.
Dieser dritte Gedanke gefiel mir am besten. Ich zog das metallisch glänzende Ding zwischen den Ästen hervor, nahm es mit und gab der Natur ihren Frieden wieder. Das war nett von mir und sehr umweltbewusst.
Nach ein paar Schritten jedoch entschied ich mich anders. Ich kehrte um und stellte die Büchse zurück in den Bach. So dass jeder sie sehen konnte, wenn er vorbeiging.
Was bewog mich, den Weg noch einmal zurückzugehen?
Im Papierkorb vorn an der Strasse fällt eine Redbullbüchse niemandem auf. In einem Bächlein schon. Denn die weggeworfene Büchse will, dass wir über sie nachdenken.
***
Nicolas Lindt ist Schriftsteller. Sein jüngstes Buch «Orwells Einsamkeit» (380 Seiten) ist 2024 erschienen.
nicolaslindt.ch
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