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Trotz alledem!

Jean Zieglers Buch «Trotz alledem!» ist ein echter Ziegler: anprangernd, schonungslos, klare Fronten. Eine Kritik und eine Würdigung.

«Das kämpferische Vermächtnis des unermüdlichen Globalisierungskritikers» steht auf dem Umschlag von Jean Zieglers neuem Buch «Trotz alledem!». Ziegler prangert unermüdlich an, was schief liegt: Hunger, Elend, Ausbeutung. Auch kämpferisch ist er immer noch, vor allem seine Sprache. Wo Ziegler draufsteht, wird Ziegler serviert: «Weltdiktatur der Oligarchen des globalisierten Finanzkapitals», «kannibalische Weltordnung», «Raubkapitalismus».

Jetzt, mit 91 Jahren, ein neues Buch. Leider ist auch Rhetorik nicht davor gefeit, sich abzunützen. In «Trotz alledem!» steht viel vom bereits Bekannten: der Hunger in der Dritten Welt, die Zitate von Jean-Paul Sartre und Che Guevara, die Bruderschaft der Nacht, die neue planetarische Zivilgesellschaft. Es ist eine Mischung aus Analyse der Globalisierung, serviert mit Anflügen von Ideologiekritik sowie empathischen Anekdoten von persönlichen Begegnungen aus Zieglers reichhaltiger internationaler Karriere.

Die Apokalypse sieht Ziegler allseitig hereinbrechen: Wenn nicht wegen Putin, dann wegen des Klimas. Der ewige Opferdiskurs, da die Guten, dort die Bösen, es wäre schön, die Welt wäre so einfach gestrickt. Um Differenzierung war Ziegler in seinen Büchern noch nie bemüht, vielmehr geht es ihm darum, «das Kollektivbewusstsein zu bewegen». Da hilft eine kraftvolle Ausdrucksweise, die Ziegler beherrscht, wenn es darum geht, «die Herrscher der Welt» zu benennen. Aber er verwendet nach all den Jahren immer noch das gleiche Vokabular. Zum Beispiel: Die weltweite Landwirtschaft könnte problemlos 12 Milliarden Menschen ernähren, die 500 grössten Konzerne kontrollieren mehr als die Hälfte des Bruttosozialprodukts, alle fünf Sekunden verhungert ein Kind auf einem Planeten, der vor Reichtum überquillt. Starke Gegensätze, deren Absurdität unmittelbar einleuchtet.

Ist die Welt so schlimm?

Bereits bei einem seiner jüngeren Bücher, «Der schmale Grat der Hoffnung», war der Gesamteindruck dürftig, es mangelte an wirklich neuen Erkenntnissen. Das Buch vermochte nicht mehr gleich zu fesseln wie frühere, die wegen der aufgedeckten Machenschaften äusserst öffentlichkeitswirksam waren, Skandale publik machten und Ziegler in eine helvetische Persona non grata, zum «Nestbeschmutzer», verwandelten.

Dass die UNO kaum noch eine ernstzunehmende Rolle in der Weltpolitik einzunehmen vermag, ist hinlänglich bekannt. Sie schafft es beispielsweise nicht, im Israel-Gaza-Konflikt zu vermitteln, sie schafft es kaum, die humanitäre Hilfe an die notleidende Bevölkerung zu bringen. Ziegler scheint über die Organisation, mit der er so lange verbunden ist, desillusioniert zu sein. Dennoch ist sie die einzige Option: «Es ist kein Sieg über die kannibalische Weltordnung möglich, kein dauerhafter Frieden ohne eine funktionierende normative internationale Ordnung. Diese Ordnung ist vor allem in der Charta der Vereinten Nationen und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgeschrieben.» Die Charta und Menschenrechte, so Ziegler, würden den Horizont unserer Geschichte bilden.

Nach den acht Kapiteln breitet sich Ernüchterung aus. Ist die Welt wirklich so schlimm? Diesen Eindruck kann man bei der Lektüre leicht gewinnen. Wenn man ihn teilt, so wird der Hoffnungsschimmer des Buches, der «Aufstand des Gewissens», kaum Trost bieten. Angeführte Studien von Oxfam sind dürftige Belege, leben doch genug sogenannter NGOs gerade von jenem Elend, das sie beschreiben. Verschwindet es, haben sie keine Existenzberechtigung mehr, und die üppigen öffentlichen Mittel, die sie mitfinanzieren, entfallen. Und wenn schon Oxfam und die katalysierte sozioökonomische Ungleichheit während der Corona-Krise thematisiert wird, weshalb dann kein kritisches Wort über die zweifelhafte Recht- und Verhältnismässigkeit der politischen Massnahmen, die diese gigantische Bereicherungsmaschinerie befördert haben?

Das Buch offenbart blinde Flecken. So war die EU-Flüchtlingsproblematik das Thema eines der jüngsten Bücher Zieglers. Doch sich immer noch unkritisch gegenüber allen mit Zuwanderung assoziierten Problemen zu positionieren, grenzt an Naivität. Asyl ist Schutz auf Zeit, kein automatisches Bleiberecht. Menschlich fühlt jeder Leser mit den unter unwürdigen Lebensumständen leidenden Migranten mit, sicherlich gibt es auch an der Grenzsicherungsagentur Frontex viel zu kritisieren, aber das ändert nichts daran, dass die EU-Politik unfähig ist, die Migration gesetzesgemäss zu steuern. Immer dann, wenn Sachverhalte nach Erklärungen verlangen, wechselt Ziegler auf die anekdotische Ebene und der Leser wird mit sich aufdrängenden Fragen allein gelassen. Eine Entschuldung armer Länder, wie Ziegler sie fordert, beendet nicht von selbst die systematische Korruption. Zurecht hingegen kritisiert er EU-Subventionen, dank denen Landwirtschaftserzeugnisse aus der EU die afrikanischen Märkte mit Dumping-Preisen fluten, mit denen kein einheimischer Bauer konkurrieren kann.

«Es gibt keine Ohnmacht»

«Trotz alledem!» ist weniger das versprochene Vermächtnis als das Sammelsurium des geistigen Arsenals eines der bekanntesten Schweizer Intellektuellen. Man muss auch sehen: Für Bücher wie «Eine Schweiz, über jeden Verdacht erhaben», mit dem er als erster Politiker den Missbrauch des Bankgeheimnisses aufdeckte, nahm Ziegler viel auf sich: Aufhebung der parlamentarischen Immunität, Prozesslawinen, Drohungen. Welcher Politkarrierist, der auf das nächste Pöstchen schielt, würde heute für seine Überzeugungen solche Umstände riskieren? Das Vermächtnis Zieglers ist eher diesen Büchern zuzuschreiben – jene, die statt blosser moralischer Anklagen soziologische Analysen enthalten, zum Beispiel wie die Herrschaftsschicht des Schweizer Finanzsektors durch Lobbying und Propaganda die Politik und Medien für seine Interessen vereinnahmt und im helvetischen Filz die widerwärtigsten Geschäftspraktiken unter dem Deckel gehalten werden. Gleiches gilt für seine Darstellungen von politischen und wirtschaftlichen Zusammenhängen der Globalisierung. Etwa die mafiösen Verflechtungen, in denen Akteure wie Industriestaaten und Organisationen in ihren Diensten wie der Internationale Währungsfonds (IWF) handeln, und wie sie zum Elend auf der Welt beitragen. Hunger ist kein Zufall, sondern ein Problem der Verteilung. Er ist ein Produkt struktureller Gewalt.

Ziegler hat Menschen mehrerer Generationen geprägt. Als einer der wenigen traute er sich, als «Verschonter», wie er sich manchmal bezeichnet, die Pseudorealität bei ihrem Namen zu nennen. Ein Mensch mit Privilegien, der aber nie ein Blatt vor den Mund nimmt. «Rebell» ist wohl der richtige Begriff, nicht nur Jürg Wegelins Biografie trägt ihn im Titel, auch das Buch «Jean Ziegler – citoyen et rebelle», eine Hommage mit Texten, die «aus vielfältigen Blickwinkeln nicht nur die Person Jean Ziegler, sondern auch Dimensionen seiner Einbettung in nationale und globale Entwicklungen» würdigen. Geht man von dieser Umschreibung aus, erzielt Ziegler wohl mehr Breitenwirkung als ein Bundesrat, im Ausland ist höchstens Roger Federer noch bekannter. Es gibt sonst kaum einen schweizerischen Sachbuchautor, dessen Werke auf Arabisch übersetzt worden sind. Sein Einfluss ist unbestritten, auch wenn er ihn kleinredet («Ich bin ja nur ein kleiner Trottel, der Bücher schreibt»). Aber Bücher, und das sagt er selbst immer wieder, sind eine Waffe der Aufklärung.

Kaum jemand in der kompromissbedachten Schweiz ist so kontrovers. So galt Ziegler schlicht auch als «der Un-Schweizer» (Buch von Roman Brodmann, Untertitel: «Was machen Eidgenossen mit einem Dissidenten? Vom ‹Fall Ziegler› zum Fall Schweiz»). Der langjährige SP-Präsident und Weggefährte Helmut Hubacher schrieb: «Er wird geliebt oder gehasst, verehrt oder verurteilt. Um Jean Ziegler ist es heiss oder kalt, nie lauwarm.» Ziegler selbst hat eine ambivalente Beziehung zur Schweiz. Aus dem deutschsprachigen Thun im Kanton Bern in seine Wahlheimat exiliert, ein französischsprachiges Weinbauerndorf in der Nähe von Genf unmittelbar an der Grenze zu Frankreich, dorthin, «wo die Schweiz endlich aufhört». Die Bücher werden vom Französischen ins Deutsche übersetzt, nicht umgekehrt. Er hat erlebt, wie er schreibt, was es «kostet», wenn man «in diesem Lande der Freiheit» eine «negative Kritik» formuliert. «Trotz alledem!» heisst: Weiterkämpfen, denn «ein Intellektueller wird nie pensioniert». Man beachte das Ausrufezeichen im Titel. Und sicher sind die Grundfarben des Covers, Rot und Weiss, kein Zufall. Ziegler will die angebliche Fatalität der Wirtschaftsgesetze nicht akzeptieren, was einer Unterwerfung unter die herrschende Ordnung gleichkäme: «Ich sage und wiederhole es, in unseren demokratischen europäischen Gesellschaften gibt es keine Ohnmacht.» Insofern wäre eine genaue Übersetzung des Originaltitels («Où est l’espoir?» – Wo ist Hoffnung?) passender gewesen.

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Jean Ziegler (*1934) war Professor für Soziologie in Genf und an der Pariser Sorbonne, bis 1999 langjähriger SP-Nationalrat und von 2000 bis 2008 UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Danach war er von 2009 bis 2019 Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrats, heute dessen Berater. Ziegler hat zahlreiche Bücher über den Schweizer Finanzplatz und zur Globalisierung publiziert.

Buchinfos:
Jean Ziegler: «Trotz alledem! Warum ich die Hoffnung auf eine bessere Welt nicht aufgebe», 2025, 205 Seiten, C. Bertelsmann Verlag.


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