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«Mein Roman ist ein Versuch, die Zeitenwende in ihren Anfängen und Gefahren zu begreifen»

Der Osteuropa-Historiker, Politologe und Publizist Alexander Rahr gilt als ausgewiesener Russlandexperte. Seit mehreren Jahrzehnten setzt er sich für Völkerverständigung zwischen Moskau und Berlin ein. Rahr leitete unter anderem das Berhold-Beitz-Zentrum der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik und beriet die Bundesregierung. Er ist Autor mehrerer Sachbücher und schreibt Romane. 2018 erschien sein Politthriller «2054: Putin decodiert». Nun hat Rahr einen weiteren unter dem Titel «Das Goldene Tor von Kiew» vorgelegt. Im Interview spricht er über die Beweggründe, die Zeitenwende in einem Politroman zu verarbeiten. Er nennt Bezugspunkte in den Werken russischer Schriftsteller und erklärt, welche Bedeutung dem Titel zukommt. 

«DIE FREIEN»: Herr Rahr, warum haben Sie einen Politthriller über den Ukraine-Krieg und dessen geopolitischen Kontext geschrieben? Und warum ausgerechnet einen Thriller – und nicht etwa ein Familiendrama?

Alexander Rahr: In der überladenen Empörungskultur und Cancel Culture, die seit geraumer Zeit die deutsche Politik, unsere wissenschaftlichen Forschungsinstitute und Medien unter Beschlag genommen haben, erschien es für mich nicht sinnvoll, ein nüchternes Sachbuch zur Zeitenwende zu veröffentlichen. Für eine fundierte Analyse des Geschehens ist die Zeit noch nicht reif. Schnappatmung ist aber nicht mein Ding. Erkenntnisgewinn schon. Der Ukraine-Krieg wird irgendwann einmal enden, und dann müssen wieder alle sachlichen Argumente und strategischen Fragen auf den Tisch. Der Politroman ist geeignet, Hilfestellung beim richtigen «Verstehen» der Gegenseite, also Russlands, zu leisten. Um die Handlung literarischer zu machen, habe ich die Geschichte der russischen Adelsfamilie tatarischer Herkunft, Oreschak, konzipiert, die zu Beginn der Romanov-Dynastie in Russland ihren Lauf nahm.

Genannt haben Sie Ihren Roman «Das Goldene Tor von Kiew». Können Sie das bitte erklären? Warum dieser Titel?

AR: Zunächst hatte ich einen ganz anderen Buchtitel vor Augen: Die Dämonen aus dem gleichnamigen Roman von Dostojewski seien zurückgekehrt. Ich beschreibe, wie die sogenannten Revolutionäre der Moderne den Kulturkampf in die Welt hinaustragen, der uns in den Dritten Weltkrieg stürzen kann. Doch dann wählte ich als Titel das historische Denkmal mitten in Kiew. Das goldene Tor war eine Festung, durch die Kriegshorden und Eroberer in den Jahrhunderten rein und rausgezogen sind: die Mongolen, die Polen, die Wehrmacht. Es ist ein trächtiges Symbol der historischen Slawenvölker, und was wir in der Ukraine erleben, ist ein nie dagewesener Bruderkrieg um die Existenz zweier ostslawischer Völker, in den nun die gesamte Welt involviert ist.

Die Handlung Ihres Romans spielt in der Gegenwart. Dennoch gibt es sehr viele und ausführliche Passagen, in denen die russische Geschichte rekapituliert wird, angefangen bei der Kiewer Rus. Können Sie diesen formalen Griff erklären? Welche Funktion haben diese historischen Exkurse?

AR: Seit 1054 besteht ein Schisma zwischen Ost- und Westeuropa, zwischen den Erben von Byzanz und dem Heiligen Römischen Reich. Der Konflikt betrifft die Orthodoxie und die Westkirchen, Etatismus versus Aufklärung, Traditionalismus versus Woke Culture. Wer diese Konfliktlinien ignoriert, versteht die Ursachen des Krieges nicht. Mit einem literarischen Kunstgriff versetze ich den Leser in das Denken der europäischen und russischen Herrscher der Vergangenheit, um Brücken in die Neuzeit zu schlagen. Allerdings ist das Schisma nicht zu überwinden.

Ein interessanter Aspekt in Ihrem Roman ist die UFO-Forschung, bei der Russland und die USA kooperieren, um sich auf einen potenziellen gemeinsamen Feind vorzubereiten. Wie realistisch schätzen Sie ein solches Szenario ein?

AR: Wie gesagt, mein Werk ist ein Roman, in dem auch Utopisches mit der Realität in Berührung kommt. Dazu gehört auch die Beschäftigung mit den UFOs, über deren Existenz derzeit stundenlange Hearings im US-Kongress organisiert werden. In Fragen von exterritorialen Gefahren arbeiten US- und russische Geheimdienste seit dem Zweiten Weltkrieg eng zusammen. Ich finde, das trägt zur Vertrauensbildung, unter anderem im Weltraum, zwischen den beiden Atommächten bei, und wir Europäer sollten da nicht abseitsstehen. Nika Stawrogina, die Hauptperson im Buch, beschreibe ich als führende Grenzwissenschaftlerin. Sie gibt viele Geheimnisse preis.

Zum Figurenpersonal gehört auch kein Geringerer als Wladimir Putin. Er hat schon in Ihrem ersten Roman eine wesentliche Rolle gespielt, wie bereits aus dem Titel «2054: Putin decodiert» hervorgeht. Was fasziniert Sie an dem russischen Präsidenten so sehr, dass Sie sich mit ihm auch literarisch beschäftigen? 

AR: Weder mein erster Roman, den Sie ansprechen, noch mein letzter, heroisiert den russischen Präsidenten. Nichtsdestotrotz ist er wohl der Machtpolitiker des 21. Jahrhunderts, der gerade die Weltordnung umkrempelt. Im Buch wird Putin mit der Frage konfrontiert, ob der Ukraine-Krieg nicht der grösste geopolitische Fehler eines russischen Herrschers in der jüngsten Geschichte gewesen war. Putin darf fairerweise im Roman seine Deutung des Krieges wiedergeben. Natürlich ist die NATO-Osterweiterung die Mutter aller Probleme gewesen. Der Westen hätte als Sieger des Kalten Krieges Russland rechtzeitig in ein neues Konzert der Mächte in Europa einbauen sollen. Trump will den Fehler korrigieren, die EU nicht. Der Roman ist übrigens ein Vorgriff auf das Putin-Trump-Friedenstreffen in Alaska. Ich bin sicher, dass letztlich der Kremlchef auf Trumps Vermittlung eingehen wird. 

Wie Ihr vorheriger Roman hat auch «Das Goldene Tor von Kiew» fantastische Elemente. Unter anderem tritt ein Dämon auf. Das erinnert ein bisschen an den magischen Realismus eines Michail Bulgakow oder Gabriel García Márquez. Warum wählen Sie diesen Ansatz?

AR: Sowohl Dostojewski als auch später Bulgakow haben sich der Figuren von Dämonen bedient, um Russlands Umstürze zu beschreiben und in die Zukunft zu blicken. Ich als Historiker verneige mich tief vor diesen Weltliteraten. Gleichzeitig bediene ich mich der gleichen künstlichen Instrumente, um in die tieferen Gründe unserer heutigen gesellschaftlichen Konflikte und Politik einzutauchen. Die «Dämonen» sind eigentlich Akteure, die grosse leidenschaftliche politische Ziele ausgeben, doch im Grunde nur der Zerstörung Folge leisten. Ich bin in grosser Sorge angesichts des Weltenumbruchs vor dem wir stehen.

Herr Rahr, zum Abschluss: In Ihrem Roman wird auch die Frage nach der Zeitenwende aufgeworfen. Welche Antwort haben Sie darauf? 

AR: Der Roman ist ein Versuch, die Zeitenwende in ihren Anfängen und Gefahren zu begreifen. Nichts wird mehr so sein wie früher. Der Ukraine-Konflikt wird irgendwann enden, doch dann gerät die Welt in neue globale Konflikte. Der Konflikt Norden–Süden wird das 21. Jahrhundert dominieren. Dazu kommen Herausforderungen wie Klimakatastrophen, Massenmigration, KI-Problematik, Rohstoffkriege, Einsatz von Atomwaffen, Systemwandel. Sie sind nur gemeinsam zu lösen – das ist mein Appel im Buch. Der Roman erzählt auch eine persönliche Geschichte eines Zeitgenossen, der sich 40 Jahre der Völkerverständigung zwischen Deutschland und Russland und den anderen Sowjetrepubliken hingegeben hat. Der Autor hat mit der Nachkriegsgeneration von Politikern wie Schröder, Genscher, Bahr eng zusammengearbeitet. Er kann nicht mit ansehen, wie eine neue bellizistische Politikergeneration Europa in den Wahnsinn treibt.


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