35 Jahre später
Am 3. Oktober jährte sich die «Herstellung der Einheit Deutschlands» zum 35. Mal. Längst ist der westliche Siegestaumel in Ernüchterung umgeschlagen. Die damalige Prognose, wonach sich die liberale Demokratie weltweit durchsetzen würde, hat sich als falsch erwiesen. Der letzte Staatschef der DDR, Egon Krenz, nahm die Fehlentwicklungen lange vorweg.
Wer heute von Lübeck entlang der Ostsee in Richtung Wismar fährt, also von Hansestadt zu Hansestadt, von Schleswig-Holstein nach Mecklenburg-Vorpommern, wird die landschaftlichen Reize registrieren, die touristischen Sehenswürdigkeiten, aber kaum auf die Idee kommen, dass hier einmal die deutsch-deutsche Grenze verlief, jene Demarkationslinie, welche über vier Jahrzehnte hinweg die Teilung der Welt manifestierte. Die Region ist seit 1989 wieder zusammengewachsen, mehr vielleicht als andere Regionen entlang der ehemaligen Grenze. Lübeck hat sein mecklenburgisches Hinterland zurückerhalten, für Besucher wirken die Unterschiede unerheblich, Mundart und Mentalität sind für Auswärtige fast identisch. Und doch hat sich hier, geopolitisch betrachtet, ein tektonisches Beben ereignet, welches bis heute nachwirkt. Dieses wird schon dadurch deutlich, dass 1989 gleich hinter den Stadtgrenzen von Lübeck nicht nur die Bundesrepublik endete, sondern auch die Europäische Union sowie das Territorium der NATO.
Die NATO 2000 Kilometer östlich
Heute, 35 Jahre später, verläuft die Grenze der Bundesrepublik etwa 350 Kilometer weiter östlich, jene der NATO sogar knapp 2000 Kilometer, im estnischen Narwa, nicht weit von St. Petersburg entfernt. Dazwischen erstreckt sich das Territorium der EU, von Polen über die drei baltischen Staaten hinweg.
Ich bin bei Lübeck aufgewachsen. Als Kind fuhren meine Eltern mit uns ab und zu ins Maritim-Hotel nach Travemünde. Das Restaurant befand sich in einem der oberen Stockwerke, weshalb sich von dort ein fantastischer Ausblick über die Ostsee, über den Eisernen Vorhang hinweg, in die DDR offenbarte. Dieses Land, obwohl zum Greifen nah, war für uns weiter weg als ein Urlaubsort am Mittelmeer. Am 18. Juni 1989 feierte ich meinen 18. Geburtstag. Die Welt und Deutschland waren noch geteilt, Handys und Internet Begrifflichkeiten aus Science-Fiction-Filmen oder -Büchern. Am gleichen Tag fanden die Wahlen zum Europäischen Parlament statt, was dazu führte, dass ich an diesem Tag auch zum ersten Mal meine Stimme abgeben durfte. Eine Lokalzeitung machte ein Foto von mir, wie ich meinen Umschlag in die Wahlurne steckte, schrieb einen kleinen Artikel dazu unter dem Titel «Am 18. wurde er 18, und wählte zum ersten Mal», was dazu führte, dass ich einige Wochen später von dem damaligen Ministerpräsidenten meines Bundeslandes, Björn Engholm, in den Landtag nach Kiel eingeladen wurde.
Fukuyamas Fehlprognose
In jenem Sommer 1989 erschien in der US-Zeitschrift The National Interest ein Beitrag des Politikwissenschaftlers Francis Fukuyama, der weltweit für grosses Aufsehen sorgte und kontrovers diskutiert wurde. «Das Ende der Geschichte» lautete der Titel seines Essays, in welchem er das Debakel der sozialistischen Utopie (in diesem Fall der realsozialistischen sowjetischer Prägung) analysierte und zu dem Schluss kam, dass mit dem Erfolg der liberalen Ordnung die denkbaren ideologischen Alternativen erschöpft und der gesellschaftliche Entwicklungsprozess abgeschlossen sei. Weltweit würden sich nun die Demokratie und die Marktwirtschaft westlich-liberaler Prägung durchsetzen, so Fukuyama unter Berufung auf den russisch-französischen Philosophen Alexandre Kojève, der sich wiederum auf Hegels «Phänomenologie des Geistes» stützte.
In einem drei Jahre später erschienenen Buch mit dem gleichen Titel argumentierte Fukuyama ausführlicher, breiter und auch umsichtiger. Im Gegensatz zu Karl Popper (der seine These von der «Offenen Gesellschaft» mit dem Hinweis zu garnieren pf legte, er habe «keine Ahnung, was die offene Gesellschaft eigentlich ist», sondern wisse lediglich, «was sie nicht ist») wusste Fukuyama anscheinend ganz genau, was man sich unter seinem Ende der Geschichte vorzustellen hatte.
…
***
Ramon Schack studierte Politische Wissenschaft und Osteuropastudien an der Universität Hamburg. Seit 2003 arbeitet er als Publizist und Journalist. Schack veröffentlichte mehrere Bücher, u.a. «Begegnungen mit Peter Scholl-Latour. Ein persönliches Portrait» (2015) sowie «Das Zeitalter der Idiotie» (2023).
Du möchtest den ganzen Artikel lesen? Dann bestelle jetzt die 21. Ausgabe oder gleich ein Abo in unserem Shop.
Deine Meinung ist uns wichtig: Teile dich mit und diskutiere im Chat mit unseren Lesern.