Europa – Zwei Abgesänge
Rezension zum gleichnamigen Buch von Karen A. Swassjan
Was heisst ein Buch rezensieren? Dass man es beurteilt? Dass man dabei womöglich auch eine strenge Form einhält? Das ist so gang und gäbe, aber es gibt definitiv Ausnahmen, bei denen es angezeigt ist, nicht in eine Gewohnheitsfalle zu tappen. Das könnte sonst ein Bumerang werden, von dessen Qualität man keine Ahnung hat und den man nicht einmal als solchen erkennte, wenn er trifft. Ein Bumerang, der enthauptet, und keiner kann sich vorstellen woher und warum.
Deshalb, Vorsicht! Wer wäre ich, einen Autor wie Karen A. Swassjan, seines Zeichens Philosoph, Ästhetiker, Anthroposoph und als solcher dazu noch ein echter zeitgenössischer Denker, beurteilen zu wollen? Einen, der als Armenier die erste postsowjetische Nietzsche-Ausgabe in Russland besorgte, die er zu Teilen selbst übersetzt und die andern Teile redigiert hatte, von der innert einer Woche 100’000 Exemplare verkauft waren? Einer, der seine steile akademische Karriere in Armenien und Russland einem nahezu unbekannten Fruchtbarmachen der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners hierzulande geopfert hat … Einen Menschen, der mein Denken und Wahrnehmen geschult, geprägt und ein tiefes Verständnis der geistigen Motivation und der ideellen Zusammenhänge des Weltgeschehens eröffnet hat? Das ist keine Laune einer zufälligen, durchgeknallten Adeptin – da es nämlich keine Zufälle gibt!
«Zufall ist der Name Gottes, wenn er anonym bleiben will.»
– frei nach Théophile Gauthier
«Gott weiss davon nicht mehr als ich.»
– J.W. von Goethe über das Urphänomen.
«Ähnlich wie die moralische Phantasie eine gewisse moralische Technik zur Voraussetzung hat, so setzt auch der Umgang mit Urphänomenen eine entsprechende Technik voraus, die in langen Lehrjahren erwartet werden muss und deren Höhepunkt das Vermögen wäre, sich von den Zufällen nicht überrumpeln zu lassen und sie sogar zu lenken zu verstehen.» Karen Swassjan (in: Rudolf Steiner, «Ein Kommender»).
Wenn diese drei Ideen zu Dominosteinen werden und die Lücken dazwischen als quälendes Vakuum erlebt werden, können die Steine aufs Mal fallen wie Schuppen von den Augen, die Ideen zu ihrem gemeinsamen Ursprung hinauffusionieren und in Kürze eine 250-jährige verschlafene Entwicklung ablösen. Will sagen: es lohnt sich, wenn das Kamel, schwerbeladen mit Bergen von Wissen auf dem Rücken nach einem Löwen Ausschau hält, der ihm aus dem Herzen brüllt und es von innen heraus in seinesgleichen verwandelt.
Ein solcher Löwe (man denke: und mehr) ist Karen Swassjan, der Autor von zwei prophetischen Abgesängen auf Europa, verfasst in den 1990er-Jahren und überarbeitet 2018. Swassjan sucht die Urphänomene des Zeitgeschehens auf, zu denen die anthroposophischen Kinderkrankheiten in keinem unbedeutenden Verhältnis stehen. Ja, er spricht in Urphänomenen, und jeder Satz kann als Fernrohr dienen, um ein unermessliches Implizites zu umsegeln und schliesslich sich selbst zu erobern.
Wenn noch im 19. Jahrhundert der Löwe Nietzsche brüllte: Es ist unanständig, heute ein Christ zu sein – er meinte das heuchlerisch-antichristliche Kirchenchristentum – so gräbt sich ein anthroposophisch-swassjansches Echo aus dem 20. Jahrhundert – ex post Rudolf Steiner – in die Trommelfelle ein: Es ist unanständig, heute kein Anthroposoph zu sein! Anthroposophie als Pflicht eines jeden wachenden Zeitgenossen.
Aber so haben wir die Anthroposophen doch gar noch nicht kennengelernt? Wir denken eher an struppige Männer mit gestrickten Socken in Heilandsandalen und schwebende Frauen in lila Gewändern. An fremd klingende Sprüche und gesunde Salben und Tomaten. Oder an eine strenge graue Gestalt, bei der einem vor lauter Ernst das Herz zu klopfen beginnt. Oder an einen Nullachtfünfzehn-Akademiker oder einen Schönling, der flüssig die Philosophie der Freiheit doziert und den Anschein erweckt, besonders die jungen Hinzchen und Künzchen könnten sich darüber im Handumdrehn ein Urteil erwerben, um bald wieder zu Martin Buber, Albert Einstein und Karl Popper zurückzukehren.
Die Tiefe und Gründlichkeit jedoch, wie sie nur von der würdigsten geistigen Höhe zu erreichen ist und mit welcher Karen Swassjan Rudolf Steiner zu lehren fähig war – und in seinen Büchern bleibt – ist bisher unerreicht. Vom brillanten Stil – wohlgemerkt, Deutsch ist seine zweite Fremdsprache! – ganz zu schweigen.
Ich schreibe immer noch nichts Konkretes über dieses Buch, das ich rezensieren soll. Ich will ja auch nicht über das Buch schreiben, sondern sende sozusagen einen «Lichtblick aus der Grube».
Nach diesem stammelnden Versuch, den Dschungel der Gewohnheiten zu überbrücken, der zwischen wachem Leser und noch weitaus wacherem Autor sich ausbreitet, möge nun endlich letzterer selbst zu Wort kommen:
«Im Ernst: Wenn behauptet wird, dass das Denken deutsche Tugend par excellence sei und dass Gott selbst den Deutschen zu denken aufgetragen habe, nachdem er über seine Mediokrität unter den an ihn Glaubenden erschreckt und sich entschlossen haben soll, sein Glück unter den Denkenden zu versuchen, so folgt daraus gar nicht, dass die Deutschen denken, sondern dass die Welt aus der Haut fährt und ihr Bestes tut, um sie nicht denken zu lassen. Nicht dafür schliesslich hatte man das Christentum im christlichen Abendland so tief ins Konventionelle getrieben und da versonntäglicht, um dann eines Tages über den Ernst dieser germanischen Hinterwäldler stolpern zu müssen, die sich in den Kopf gesetzt hatten, dem Weltgott dazu zu verhelfen, nicht mehr geglaubt, sondern erkannt zu werden.
Das Überraschende an diesem deutschen Denken ist, dass es eine nicht im Geringsten mindere Objektivität und Weltkonformität aufweist, als sie das englische Wort experience meint. Der Deutsche wagt es, zu denken, was sonst nur der Beobachtung gilt: die Welt des Werdens. Demnach ist er Metaphysiker der Erfahrung. Er wagt es aber auch, das zu beobachten, was sonst nur dem Denken gilt: die Welt des Seins. Er ist somit Empiriker des Übersinnlichen. Er kennt keinen Zugang zum Sein ausser dem des Werdens. Er denkt in ständigen Widersprüchen, da sein Denken nicht vor den Begriffsformen stramm steht, sondern sich in lauter Begriffsmetamorphosen bewegt. …»
…
«Wie ein physisches Organ, das nicht trainiert wird, sich zurückbildet, so atrophiert auch der faulenzende Sinn und Verstand. Er wird schwach. Der schwache Sinn heisst aber Schwachsinn. Wir treten in das Zeitalter des Schwachsinns. Ein erstes Symptom dieses Schwachsinns: Allgemeines Geschrei über die Gefahr, die der Natur droht, und die Notwendigkeit, die Natur in Schutz zu nehmen. Die Natur ist aber nicht vor den «Abgasen», sondern vor den «Abgedanken» in Schutz zu nehmen; die Zonen ökologischen Notstands lassen sich nicht am Zeigerausschlag des Geiger-Zählers, sondern an der Auflaufdichte der Intellektuellen erkennen.»
…
«Wieso, bei allen tollen Heiligen, muss ich gerade unter dem Volk der Denker jede Hoffnung aufgeben, auf eine einzige Mannsperson zu stossen, mit der in diesem gottverdammten Land über die jüngsten Gesta Gottes nachzusinnen wäre!
Es gilt, sich im Andenken an einen seligen Kyniker einmal des Niveaus bewusst zu werden, auf dem der repräsentative deutsch-redende Gedanke seit der Nachkriegszeit und bis heute anschwellend dahinvegetiert. …»
…
«Daran ist nun einmal nicht zu rütteln: Wollen die lieben Anthroposophen nicht Anthroposophen werden, was soll’s!, dann sind es vielleicht die Nichtanthroposophen, die es würden wollen werden. Man hätte nur einen Satz wie: ‹Der Mensch […] erreicht als Geist die höchste Form des Daseins und vollbringt im Denken den vollkommensten Weltprozess› [R. Steiner], lange Jahre zu meditieren, damit die Möglichkeit besteht, an die Anthroposophie weder stumm noch redselig, sondern intelligent heranzukommen.»
…
«Ahrimans Kalkül, die Gretchenfrage durch die Brot- und Magenfrage matt zu setzen und von Luzifers Enthaltsamkeit in Sachen Brot zu profitieren, hat, wie man sieht, eine ganz falsche Prämisse zur Voraussetzung. Sein Haupttrumpf, Brot, scheint insofern nur jede Karte zu stechen, wie er als Widerpart des Geistes ausgespielt wird. Wird aber indoktriniert, man müsse zuerst an den Bauch denken und dann erst an Höheres, so fragt sich, ob man genug Grütze im Kopf hat, um sich über diese mickerige Suggestion lustig zu machen, die dem Bauch gibt, was des Denkens ist. Man darf mit dem erstbesten Dorfschullogiker Einspruch erheben, angesichts eines logischen Schwachsinns, in dem gedacht werden kann, dass allem Gedachtwerden-Können der Bauch zugrunde liegt. – Ahrimans Coup ist, dass er selber nicht ist, was er sagt und wozu er verführt. Er selbst lebt nicht vom Brot allein, ja überhaupt nicht von Brot (in der Legende Dostojewskis verbringt er Jahrzehnte in der öden, kahlen Wüste und nährt sich von Heuschrecken und Wurzeln). Wovon er einzig lebt, ist sein Denken und sein Nachsinnen über das Brot der Mitmenschen. Er lebt als Abstinenzler und Asket, als stets fastender und abgemagerter Säulenheiliger des materialistischen Martyrologiums, kurz, er lebt luziferisch – er lebt also überhaupt nicht, will aber, dass die anderen leben: von des Bauchs bis (einmal pro Woche) des Geistes Gnaden. Es ist dies sein Opfer, seine Hingabe und Entsagung, dass er luziferisch leben muss, damit die anderen ahrimanisch leben können. Ahrimans Commonwealth steht und fällt mit der Torheit des Bedarfsträgers, das Geistige sei ein Naschwerk und dürfe nur als solches (zumal nie und nirgends auf nüchternen Magen) genossen werden. Dass der Geist heute nur als Weekend-Geist von sich hören lassen darf, dass man sich heute nur so viel Geist gönnen kann, wie es der Terminkalender gerade erlaubt, ist immer noch die dauernde dritte Versuchung, diesmal übrigens nicht mehr im erlittenen luziferischen Pathos des Grossinquisitors, sondern unter der Plakattafel Take your Cola and smile.»
…
«Wo sich das Tagesgeschehen als Apokalypse offenbart, wagen sich die gescheiten Leute nicht hinaus. Sie lassen dagegen den Unstern vorüberziehen, indem sie sich zwischen zwei oder mehr Lehrstühle setzen, um sich gegenseitig Perlen vorzuwerfen. ‹Wie sicher, meint man, ist man im Sitzen!›, sagt der heilige Augustin. ‹Und doch fiel der Hohepriester Heli von dem Stuhl, worauf er sass, und war tot.›»
Inhalt:
I. Zur Geschichte eines nahenden Zusammenbruchs
Ein deutsches Requiem • Zwischen zwei Barbareien • Konstantinopel Anno Domini 869 • Was tut der Körper in unserem Denken? • Go West! • Der entwerdende Bürgerleib des Abendlandes • Leichenschmaus für Ikarus.
II. In Erinnerung an eine versäumte Genesung
Blumen des Bösen (deutsche Floristik) • Incipit Anthroposophia • Tatort Deutschland 1945 • Lichtblicke aus der Grube.
Alle Infos zum Buch:
Karen A. Swassjan: «Europa – Zwei Abgesänge», 304 Seiten, 2. Auflage 2025, Hardcover, gebunden, Edition Nadelöhr, CH-Ossingen, ISBN 978-3-907460-09-2
CHF 29 / EUR 24. Erhältlich bei edition-nadeloehr.ch oder in jeder Buchhandlung.
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