Begriffe, Grenzen, Widersprüche
Im Gespräch mit Gabriele Gysi
1946 in Berlin geboren, stand die Regisseurin und SchauspielerinGabriele Gysi früh auf den Bühnen der DDR – einem System, das ihr zufolge das Glück des Menschen auf seine eigene Weise im Blick hatte, und das sie weder anklagen noch verteidigen will.
«DIE FREIEN»: Liebe Gabriele, für mich, mit dem Bild einer von Stasi und Kontrolle geprägten Gesellschaft im Kopf, wirkt es widersprüchlich zu hören, dass es in der DDR durchaus möglich war, gut zu leben. Bot die DDR etwa mehr Frei- und Zwischenräume als das heutige «beste Deutschland aller Zeiten»?
Gabriele Gysi: In vielen Bereichen war die DDR offener als die Bundesrepublik. In der BRD wurden die Menschen stärker auf eine Karriere orientiert und am Besitz gemessen. In der DDR war die soziale Ausdifferenzierung wesentlich weniger extrem – natürlich gab es soziale Unterschiede, aber Geld konnte sich nicht vermehren und hatte nicht die gleiche Kraft wie in der Bundesrepublik oder in unserer gegenwärtigen Gesellschaft. Die Arbeit stand neben dem Geld auf andere Weise im Zentrum. Das galt für die Bundesrepublik, verglichen mit den Verhältnissen heute, natürlich ebenso. Ein heute oft tabuisiertes Thema, die Existenzangst, kannte man nicht.
Auch die Beschreibung der Staatssicherheit als Buhmann der deutschen Nachkriegsgeschichte wird der Dramatik der Geschichte beider deutscher Staaten als aufeinanderbezogene Nachkriegsgeschichte in keiner Weise gerecht. Die Staatssicherheit hatte durchaus unterschiedliche Funktionen: Im Gefängnis zum Beispiel und bei der Wiedereingliederung hatte dieser Apparat auch Funktionen von Sozialarbeitern zu erfüllen. Natürlich wurde der Apparat mit dem Bau der Mauer ständig erweitert bis hin zu absurden Datensammlungen und sich immer neu codierenden Systemen der Kontrolle. Im Grunde ist der Apparat auch an der Last der eigenen Datensammlungen erstickt. Mein Vorschlag war immer: Weniger Kontrolleure, mehr Soziologen – die hätten Probleme schneller erkannt und wären zu anderen Lösungsvorschlägen in der Lage.
Lag es auch daran, dass die Strukturen in der DDR klarer waren – die Menschen wussten, welche Konsequenzen drohten, und konnten so eher mit den Umständen spielen?
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Gabriele Gysi (*1946) ist Schauspielerin und Regisseurin. Sie besuchte die Staatliche Schauspielschule Berlin, war unter anderem an der Volksbühne Berlin beschäftigt und inszenierte zahlreiche Theaterstücke. In ihrem neusten Buch «Die Nacht, als Soldaten Verkehrspolizisten wurden» (2025, 200 Seiten, Westend Verlag) blickt sie auf die DDR zurück.
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