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Die Protokolle der Weisen von Zion – als Tarnkappe britischer Regime-Change-Operationen 

Wer sich in den letzten Jahren in den Kaninchenbauten des Internets herumgetrieben hat, der wird mit hoher Wahrscheinlichkeit an einem Punkt auf die infamen Protokolle der Weisen von Zion und Varianten einer jüdisch-freimaurerischen Weltverschwörung gestossen sein. 

In meinem Fall war es eine auffallend gut produzierte mehrteilige Dokuserie auf Telegram, die mir eine Freundin gesendet hatte. Vom Teil über die Impfungen rückwärts zur ersten Episode klickend, fand ich die Protokolle dort ausgiebig als Referenz zur Taktik und Intention der Verschwörer zitiert. – Eine geheimdienstlich produzierte Falle mit dem Ziel, Beweismittel zu erzeugen, die es erlauben, Impfskeptiker als Antisemiten zu framen und dann legal und durch die öffentliche Meinung legitimiert von entsprechenden NGOs und Task Forces innerhalb der EU beobachten und anderweitig sabotieren zu lassen. Dass Geheimdienste so vorgehen, wissen wir spätestens seit Edward Snowdens Leak zu den schmutzigen Tricks der JTRIG (Joint Threat Research Intelligence Group) des britischen GCHQ zum Framing und zur Diskreditierung von Zielpersonen im digitalen Raum. (Quellenangabe 1)

«Wie viel Antisemitismus in der Impfgegnerbewegung steckt», erklärt uns die Österreichische Akademie der Wissenschaften. (Quellenangabe 2) «Corona-Leugnung und Antisemitismus. Warum Verschwörung, warum die Juden?», fragt Der Spiegel. (Quellenangabe 3) – Nur zwei plakative Beispiele aus der Corona-Zeit. Dass der Antisemitismus das Betriebssystem der modernen Verschwörungsideologie sei, ist auch das Mantra der in deutschen Talksendungen gern gesehenen Vorsitzenden des 2021 in zeitlicher Nähe zum Beginn der Impfkampagne gegründeten CeMAS – Center für Monitoring, Analyse und Strategie, Pia Lamberty. Und die Protokolle sind die antisemitische Verschwörungserzählung par excellence, sozusagen das Original, geglaubt und gepriesen von NS-Vordenkern wie Alfred Rosenberg und von Hitler höchstpersönlich in «Mein Kampf» zitiert. 

Der Weltverschwörungsgipfel, der nie stattfand 

Viele werden gehört haben, dass es sich bei den Protokollen um eine Fälschung handeln soll, dass also das behauptete Gipfeltreffen des Weltjudentums in Prag Ende des 19. Jahrhunderts, oh Wunder, gar nicht stattgefunden hat. Der Autor habe dabei zu weiten Teilen und sogar wortwörtlich aus dem gegen Napoleon III. gerichteten, aber aufgrund der Zensur wenig bekannten satirischen Roman «Dialogues aux Enfers entre Machiavel et Montesquieu» (1864) von Maurice Joly abgeschrieben. Die Rolle der gegen das Ancient Régime opponierenden Liberalen wurde einfach gegen das Weltjudentum getauscht. Die Idee eines jüdischen Weltverschwörungsgipfels in Prag stammt aus dem Roman «Biarritz» (1868) von Hermann Goedsche, der Rest der Themen im Wesentlichen aus der Verschwörungsliteratur des späten 18. und 19. Jahrhunderts. 

Darunter der Grossvater der Illuminaten-Verschwörungstheorie, der katholische Abt Augustin Barruel, der sich im Nachgang der Französischen Revolution in seinem fünfbändigen Werk «Mémoires pour servir à l’histoire du Jacobinisme» (1797/1798) zu deren mutmasslichen Drahtziehern geäussert hat. Das Jakobiner-Blutbad und das Ende der Bourbonenmonarchie, so urteilte Barruel aus dem Londoner Exil, sei kein Werk britischer Agentenringe, wie das etwa Thomas Jefferson annahm, der zum Zeitpunkt der Revolution amerikanischer Botschafter in Paris gewesen ist und darüber mit dem Marquis de Lafayette in einem Brief vom 14. Februar 1815 konferierte, der ebenfalls eine Reform in Richtung konstitutioneller Monarchie bevorzugt hätte. – Eine Auffassung, die der amerikanische Historiker Micah Alpaugh in seinem 2014 veröffentlichten Paper «The British Origins of the French Jacobins»4 argumentativ untermauern soll, das die französischen Jakobinerklubs mit der London Revolutionary Society in Verbindung bringt. – Nein, die Spur führt sehr zum Beifall des britischen Vaters des Konservatismus, Edmund Burke, laut Barruel überhaupt nicht nach England, sondern nach Deutschland zum bayerischen Illuminatenorden, der eine satanische Weltordnung anstrebe. Zu diesem Zeitpunkt brauchte es dafür noch kein jüdisches Element. Dieses kam erst 1806 mit einem Brief des ominösen und auch für Barruel nicht auffindbaren Jean Baptiste Simonini hinzu, der behauptete, die Freimaurerei und die Illuminaten seien in letzter Instanz eine jüdische Intrige, der das Geschlecht der Bourbonen als letztes Hindernis im Wege gestanden hätte. Die Geburtsstunde der jüdischen Weltverschwörung, die in den Protokollen der Weisen von Zion gleichsam ihre finale Form annehmen sollte. 

Als Fälschung entlarvt 

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Gwendolin Kirchhoff studierte Philosophie und Judaistik in Berlin und Jerusalem. Seit über 20 Jahren beschäftigt sich die praktizierende Buddhistin mit östlichen Weisheitslehren und der abendländischen Naturphilosophie. Sie lebt als freie Philosophin und Yoga-Lehrerin in Berlin. 

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Quellenangaben unter: 
diefreien.ch/ausgaben/ausgabe19/quellen


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