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Wo gehts denn hier zur nächsten Sekte?

Was in Sekten vor sich geht, hat seine eigene Logik. Die Mitglieder haben eine Welt manifestiert, die nur sie selbst verstehen. Vieles erscheint völlig absurd.Und doch: Die demokratische Gesellschaft ist den darin wirkenden Mechanismen näher als sie denkt.

Im Frühjahr 2006 wurde er vom FBI auf die Liste der zehn meistgesuchten Verbrecher gesetzt; dort rangierte zu dieser Zeit auch Osama bin Laden. Ein Jahr später sass er bereits im Gefängnis. Der Grund: Er hatte ein 14-jähriges Mädchen gegen ihren Willen zum Sex mit ihrem fünf Jahre älteren Cousin gezwungen. Dann kam ans Licht, dass er selbst zwei minderjährige Mädchen geheiratet und vergewaltigt hatte. Dafür wurde er schliesslich im August 2011 zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Bei guter Führung könnte er allerdings 2038 auf Bewährung entlassen werden, dann ist er 82 Jahre alt. Die Rede ist von Warren Jeffs, US-Amerikaner und Anführer der Fundamentalistischen Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, kurz FLDS. Es handelt sich um eine abgespaltene Gruppe der mormonischen Glaubensgemeinschaft, die Polygamie befürwortet und rund 15 Millionen Mitglieder zählt.

Man würde glauben, dass Jeffs bei seinen Anhängern derart in Ungnade gefallen ist, dass niemand ihm mehr traut und schon gar nicht seinen Rat sucht. Doch dass er Kinder vergewaltigt hat, dass er ein verurteilter Straftäter ist, kümmert die meisten nicht. Statt nun aufzuwachen und aus der Sekte auszutreten, verehren seine Jünger ihn weiterhin als Propheten. Einige von ihnen besuchen ihn regelmässig im Gefängnis. Durch sie gibt er Botschaften weiter, die er angeblich von Gott erhalten hat. Zudem hat er bereits zwei sogenannte «Offenbarungen» in der Haft geschrieben, jeweils 1000 Seiten, an denen sich seine Jüngerschaft orientiert. Kurz: Jeffs hat weiterhin unüberbietbare Macht über sie.

Eine eigene Welt, eine eigene «Sektenlogik»

Zu Recht fragt man sich, wie das sein kann. Das typische Irritiertsein des Aussenstehenden. Was in Sekten vor sich geht, hat seine eigenen Gesetze, seine eigene Logik. Ja, die Dynamiken sind mitunter so komplex, zugleich so diffus, dass sie selbst von deren Mitgliedern nicht in Gänze durchschaut werden. Fest steht: Es handelt sich um eine eigene Welt innerhalb der Welt, ähnlich der Matrjoschka-Puppen. Sie entsteht, weil Menschen sich dazu entschliessen, sie gedanklich aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Anders gesagt, sie manifestieren diese Welt. Die allerwenigsten tun das allerdings freiwillig, sondern werden durch Manipulation und Isolation dazu gebracht oder mitunter hineingeboren.

Das sogenannte «Brainwashing» ist bekanntlich die Methode schlechthin, um überhaupt eine Sekte installieren zu können. Gelenkt von einer Führungsperson, die möglichst charismatisch und überzeugend sein muss. Wesentlich ist, dass sie ihre Lehre als etwas Einzigartiges darstellt, als etwas, das bei der Lösung aller Probleme unabdingbar ist und zum ersehnten Seelenheil führt. Die Mitglieder müssen das Gefühl haben, dass sie zu den Auserwählten gehören, dass sie besonders sind und deshalb dabei sein dürfen. Ein besonders schauerliches Beispiel war die sogenannte Manson Family, angeführt von dem berüchtigten Charles Manson. Davon überzeugt, dass die Apokalypse im Jahr 1969 eintreten würde, scharte der US-Amerikaner seine – vor allem weiblichen – Anhänger um sich. Ihm zufolge seien sie die Auserwählten, die als Einzige in der Lage wären, die Gesellschaft im Anschluss neu aufzubauen. Sex- und Drogenexzesse waren obligat – und das Ermorden von Menschen, die aus dem verhassten weissen Establishment stammten, wie etwa die damals schwangere Schauspielerin Sharon Tate.

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Sylvie-Sophie Schindler ist philosophisch und pädagogisch ausgebildet und hat über 1500 Kinder begleitet. Die Journalistin ist Trägerin des Walter-Kempowski-Literaturpreises und publiziert unter anderem bei der Weltwoche.


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