Deutschland vor der Entscheidung
Interview mit Erich Vad
«Einige Scharfmacher haben noch nie eine Kaserne von innen gesehen», sagt der Exmilitärberater von Angela Merkel. Wir sprachen mit Brigadegeneral a. D. Erich Vad über die Kriegsbegeisterung unter westlichen Politikern, die aktuelle Lage im Ukrainekrieg und mögliche Zukunftsszenarien.
«DIE FREIEN»: Herr Vad, erstmals seit 2022 nahm der russische Präsident Wladimir Putin an einem Gipfeltreffen eines westlichen Landes teil: Im August wurde er von US-Präsident Donald Trump in Anchorage, Alaska, empfangen. Wie beurteilen Sie dieses Treffen jetzt mit etwas zeitlichem Abstand?
Erich Vad: Ich halte dieses Gipfeltreffen der beiden Staatschefs Trump und Putin grundsätzlich für ein richtiges, gutes Signal. Seit Trump erneut Präsident ist, haben die Amerikaner wieder Kontakte auf verschiedensten Ebenen zu den Russen und nutzen diese Kanäle für ihre Backchannel-Diplomatie. (Informelle Gespräche, die nebst der offiziellen Diplomatie erfolgen; Anm. d. Red.) Die Europäer hingegen verfügen auch im mittlerweile vierten Kriegsjahr infolge ihrer einseitigen Parteinahme über keine belastbaren Kanäle nach Moskau.
Schauen wir doch kurz in die Ukraine. Wie präsentiert sich gegenwärtig die allgemeine militärische Lage?
EV: Der Ukrainekrieg ist seit Langem ein Abnutzungs- und Zermürbungskrieg mit wenig Bewegung im Raum. Die Russen sind zwar auf dem Vormarsch, aber sehr schwerfällig. Durch den Einsatz von Kampf- und Aufklärungsdrohnen haben wir ein regelrechtes «gläsernes Gefechtsfeld», das heisst, jede Bewegung wird aufgeklärt und in Echtzeit bekämpft. Ein Bewegungskrieg mit grossangelegten gepanzerten Operationen wie man ihn etwa aus dem Zweiten Weltkrieg kennt, kann aufgrund der Drohnentechnologie kaum stattfinden. Alles erinnert mehr an den Ersten Weltkrieg – ein Stellungs- und Abnutzungskrieg mit wenig Bewegung. Die Ukraine hat massive Probleme, genügend Soldaten und Waffen aufzubieten. Hunderttausende wehrfähiger Ukrainer haben sich abgesetzt; die Fahnenflucht ist ein grosses Problem für die Ukraine. Und weil keine militärische Lösung im Sinne der Ukraine absehbar ist, muss verhandelt und eine politische Lösung gefunden werden. Egal welche «Wunderwaffen» wie Taurus oder Flamingo eingesetzt würden, wir würden die militärische Gesamtlage allenfalls in einen europäischen Krieg eskalieren, aber eben nicht zugunsten der Ukraine drehen können. Unsere Unterstützungsleistungen sollten daher um Dialog und Interessenausgleich ergänzt werden.
Wenn wir etwas zurückblicken: Was sind die Hintergründe und Ursachen des Konflikts?
EV: Die Russen hatten seit fast 20 Jahren klar kommuniziert, dass sie eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine quasi als Kriegsgrund ansehen und nicht akzeptieren werden. Ich nahm 2008 mit Bundeskanzlerin Angela Merkel am NATO-Gipfel in Bukarest teil, wo sie und der damalige französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy den Prozess, die Ukraine in die NATO aufzunehmen, gestoppt haben. Dennoch wurde dieses Ziel von den Vorgängerregierungen Trumps weiterverfolgt. In der Folgezeit wurden die politischen und militärischen Vorbereitungen auf einen späteren NATO-Beitritt der Ukraine massiv vorangetrieben. Das Auswechseln der damaligen Regierung und die Unterstützung einer westlich orientierten Regierung seitens der USA 2014 führte als Reaktion mit zur Besetzung der Krim und zur Intensivierung der Kämpfe im Donbass. Letztlich blieb den Russen, wohlgemerkt, in ihre Sicht hineinversetzt, keine Wahl, als den völkerrechtswidrigen – was sie in Kauf nahmen – Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 zu starten. Die Vorgeschichte des Ukraine-Krieges und die russische Perzeption zu verstehen ist wichtig, und Verstehen bedeutet natürlich nicht, dass man das Verhalten der Russen akzeptiert. Man stelle sich vor, Mexiko würde sich eine russlandfreundliche Regierung zulegen und Mitglied in der eurasischen Union von Putin werden wollen und zu Lande und im Golf von Mexiko Manöver mit den Russen durchführen – das würden die Amerikaner sofort unterbinden. Auch in der Kubakrise 1962 konnte John F. Kennedy aus strategischen Gründen es nicht zulassen, dass die damaligen Sowjets auf Kuba militärisch Fuss fassten. Für die Russen ist die Krim mit ihren eisfreien Häfen und dem Zugang zum Schwarzen Meer ähnlich strategisch bedeutsam. Der Krieg der Russen gegen die Ukraine bleibt völkerrechtswidrig, aber man muss diese Beweggründe der Russen verstehen, wenn eine tragfähige politische Lösung dieses inzwischen sinnlosen Krieges herbeigeführt werden soll.
Man liefert zwar Waffen aus westlichen Staaten, aber welche politischen Ziele verfolgen sie eigentlich mit den militärischen Auseinandersetzungen?
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Dr. Erich Vad ist Brigadegeneral a. D. der Bundeswehr, Unternehmensberater, Publizist und Universitätsdozent. Von 2006 bis 2013 war er Gruppenleiter im Bundeskanzleramt, Sekretär des Bundessicherheitsrats und militärpolitischer Berater der damaligen Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel.
Zusammen mit Dr. Klaus von Dohnanyi hat er 2025 das Buch «Krieg oder Frieden: Deutschland vor der Entscheidung» (144 Seiten, Westend Verlag) veröffentlicht. Von Dohnanyi (*1928) ist promovierter Jurist und war unter anderem Bundeswissenschaftsminister, Staatsminister im Auswärtigen Amt und Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg. Er gehört seit 1957 der SPD an.
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