«Damals» und heute – 75 Jahre Nürnberger Kodex

1947 wurde der Nürnberger Kodex, der Gründungstext der medizinischen Ethik, verfasst. Anlässlich der Feierlichkeiten zum 75. Jahrestag reiste die Holocaust-Überlebende Vera Sharav erstmals seit dem Krieg nach Deutschland. Dort stellte sie mit Entsetzen fest, wie sich die Schrecknisse einer überwunden geglaubten Vergangenheit wiederholen.

Der Nürnberger Kodex wurde 1947, im Anschluss an die Prozesse gegen die Naziverbrecher, zusammengestellt. Dabei wurden zehn Grundsätze für eine ethische Medizin festgehalten, beispielsweise die freiwillige Zustimmung des Menschen bei jeglichen medizinischen Behandlungen (informed consent). Ende August 2022 veranstalteten verschiedene deutsche Vereinigungen, die sich für medizinische Ethik engagieren, Feierlichkeiten zum 75. Jahrestag des Nürnberger Kodex. Als Ehrengast wurde Vera Sharav eingeladen, eine KZ-Überlebende und Gründerin der Organisation «Alliance For Human Research Protection», die sich für die Verteidigung und Durchsetzung des Nürnberger Kodex einsetzt. Die in Rumänien geborene 86-jährige US-Staatsbürgerin sollte an einer Kundgebung in München die Schlussrede halten. Doch die Diffamierungen und Einschüchterungen schockierten sie so sehr, dass sie ihre Teilnahme absagte. Senta Depuydt, belgische Journalistin und Gründerin von «Children’s Health Defense Europe», hatte zweimal die Gelegenheit, Vera Sharav zu interviewen, erst in Nürnberg am Vorabend der Feierlichkeiten sowie drei Wochen danach.

«Die Medizin verlieh dem Holocaust einen Anschein von Legitimität.»Vera Sharav am 19. August 2022 in Nürnberg.

Senta Depuydt: Vera, Sie sind anlässlich des 75. Jahrestages des Nürnberger Kodex aus New York angereist und besuchen Deutschland zum ersten Mal seit dem Krieg. In welcher Stimmung kommen Sie hierher?

Vera Sharav: Ich muss zugeben, dass ich ziemlich angespannt war. Auch wenn das alles schon sehr lange her ist, löst es viele Erinnerungen und Emotionen in mir aus, nach Deutschland, nach Nürnberg zu kommen. Ich wurde mit meiner Familie in Nazilager in der Ukraine deportiert, wo ich meinen Vater verlor und drei Jahre lang Hunger und Leid erlitt. Heute sieht es so aus, als ob die Welt wieder auf dem falschen Weg ist. Nie hätte ich gedacht, dass ich das erleben würde. Seit Wochen denke ich über diese Reise nach, darüber, was passieren könnte, über die Menschen, die mir zuhören werden, über das, was ich sagen werde. Es ist wirklich nicht einfach … Aber ich denke, dass ich wirklich eine Pflicht zu erfüllen habe. Ich bin eine der wenigen Personen, die sagen können, was los ist, und auch die Legitimation dafür haben.

Sie hätten bei der grossen europäischen Freiheitsversammlung in Brüssel als besonderer Gast die Schlussrede halten sollen. Fast 400’000 Menschen waren anwesend, aber die Veranstaltung wurde von der Polizei unterbrochen und die Hauptredner wurden daran gehindert, zu sprechen. Es ist spürbar, dass Menschen wie Sie gewisse Leute stören.

VS: Ja, offensichtlich … Mit der Komplizenschaft der Medien wird jede Erwähnung einer autoritären Politik von Regierungen oder medizinischen Behörden nicht nur zensiert, sondern als «Missbrauch des Andenkens an die Opfer des Holocaust» abgestempelt. Das ist wahnhaft! Die Daseinsberechtigung des Nürnberger Kodex besteht doch gerade darin, der Gegenwart zu dienen. Er soll eine Leitplanke sein, ein Schutz für künftige Generationen vor der globalen Bedrohung, der unsere Zivilisation heute ausgesetzt ist.

Man kann sagen, dass der Nationalsozialismus nach dem Krieg nicht völlig verschwunden ist. Aber in der aktuellen Situation geht die Gefahr wohl eher von der Eugenik aus: Sie bedroht uns weltweit. Wir müssen immer wachsam bleiben – vergessen wir nicht, dass dies nicht von einem Tag auf den anderen passiert. In Deutschland wurde alles im Jahrzehnt vor dem Krieg in Gang gesetzt, die Rechte und Freiheiten wurden schrittweise abgeschafft. Dann startete das eugenische Programm in Zusammenarbeit mit der damaligen Medizin und den wissenschaftlichen Instituten. Zu den ersten Opfern der Nazis gehörten etwa 10’000 deutsche Kinder, Waisen und Behinderte, die von Regierungsärzten heimlich euthanasiert wurden – das T4-Programm. Die Ärzte logen die Eltern an und beseitigten in den Heimen diese Menschen, die man als Kümmerlinge betrachtete, als unnötige Mäuler, die es zu stopfen galt. All dies geschah unter Berufung auf die Wissenschaft und das Gemeinwohl. Später wurden Juden aus «hygienischen Gründen» in Ghettos gesperrt, weil sie angeblich Typhus verbreiteten.

Denken wir daran, was während der Pandemie geschehen ist: Vielen Menschen wurde der Zugang zu medizinischer Versorgung verwehrt. Andere wurden mit gefährlichen Protokollen und überdosierten Medikamenten behandelt, insbesondere ältere Menschen und Behinderte. Ganz zu schweigen davon, dass Menschen verpflichtet wurden, sich mit experimentellen Produkten impfen zu lassen. All dies steht in völligem Widerspruch zu den Grundsätzen des Nürnberger Kodex.

Warum ist dieser Kodex so wichtig?

VS: Aus mehreren Gründen: zunächst einmal aufgrund seines historischen und rechtlichen Wertes. Im Gegensatz zu anderen Rechtsinstrumenten wurden die Grundsätze des Kodex im Anschluss an den Prozess gegen die Naziverbrecher von den Richtern formuliert. Diese Grundsätze galten auf internationaler Ebene als höchste Referenz, sie wurden häufig kopiert und ganz oder teilweise in nationale Gesetze aufgenommen, im gleichen Sinne wie die Menschenrechte.

Zweitens ist es das erste Mal in der Geschichte, dass Ärzte verurteilt und hingerichtet wurden. Die Verantwortung eines Arztes besteht darin, Leben zu retten. Es ist nicht erlaubt, Menschen bei medizinischen Experimenten zu töten, nur weil man im Auftrag der Regierung handelt. Das Grundlegende an dem Kodex ist, dass er die Verantwortung und die Wahl des Einzelnen festschreibt, sowohl im Konzept der Einwilligungserklärung des Patienten oder Versuchsobjekts als auch in der persönlichen Verantwortung des Arztes. Dies ist nicht nur die Grundlage der medizinischen Ethik, sondern auch das, was die Demokratie von kommunistischen und faschistischen Regimen unterscheidet. Wenn eine Gesellschaft beginnt, diese Prinzipien zu ignorieren oder neu zu interpretieren, ist sie auf dem falschen Weg.

Dieses Risiko ist sehr real, aber niemand wagt es, die Parallelen zur heutigen Politik anzusprechen. Die Menschen sind verblendet und nicht in der Lage, das zu denken. In meinem Umfeld, der jüdischen Gemeinde in New York, leben die meisten Menschen in meinem Alter ziemlich isoliert. Sie leben in ihrer eigenen Blase und vertrauen den Medien. Sie wurden mit der Krankheit und dem Virus in Angst und Schrecken versetzt und haben nicht realisiert, was vor sich geht. Als ich mich zu Beginn der Pandemie geäussert hatte, wurde ich jedoch von anderen Überlebenden kontaktiert, die ebenfalls empört und zutiefst schockiert darüber sind, wie unsere Gesellschaft zerstört wird. Natürlich hört man von ihnen nie etwas in den Medien. Viele haben Angst davor, aber es wäre sehr wichtig, dass sie zu Wort kommen, denn sie könnten wirklich Menschen wachrütteln. …

von Senta Depuydt


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