Lenken und gelenkt werden – wie wir uns unsere Urteilskraft bewahren

Interview mit Michael Esfeld

Inmitten von Machtkonzentration, Manipulation und Medienkorruption – welche Möglichkeiten bleiben dem Einzelnen, sich eigenständig sein Urteil zu bilden? Und worin begründet sich eigentlich Evidenz? Lilly Gebert und Michael Bubendorf sprachen mit dem Wissenschaftsphilosophen Michael Esfeld über die Freiheit, sich jedweder Propaganda zu entziehen und über die Pflicht, skeptisch zu bleiben.

«DIE FREIEN»: Lieber Michael, im Interview mit Gunnar Kaiser hast du gesagt: «Es ist ja ganz leicht zu zeigen, dass alle wissenschaftlichen Standards über Bord geworfen wurden. Das betrifft nicht nur die Universitäten, sondern die ganze Gesellschaft.» Wenn es so leicht ist: Warum hat es dann trotzdem funktioniert, die Leute anhand offensichtlich falscher Darlegungen in die Irre zu führen?

Michael Esfeld: Weil noch zu viel Autoritätsgläubigkeit da ist. Man hat halt geglaubt, dass wenn ein Wissenschaftler oder eine Wissenschaftlerin etwas sagt, dass das dann auch so ist – das habe ich auch geglaubt. Also bei dem Klimazeugs war ich vorher auch schon skeptisch – es hat mich nicht gross aufgeregt, aber es ist halt politisch. Aber ansonsten geht man eigentlich davon aus, dass eine wissenschaftliche Aussage stimmt. Das ist auch klar, dass wir Experten brauchen. Man muss ja Experten haben, weil man nicht alles selbst prüfen kann, und das hat ja im technischen Bereich durchaus seinen Sinn. Und man würde normalerweise annehmen, dass man denen auch bei grösseren Themen wie Gesundheit und Epidemien vertrauen kann.

Aber es wurde nur einer Seite vertraut.

ME: Ja, natürlich. Man hat dann ganz schnell gemerkt, dass da was nicht stimmt. In dem Moment, wo externe Einflüsse ins Spiel kommen – finanzielle oder ideologische –, ist klar: Man kann dem nicht mehr vertrauen. Und jetzt sind wir bei der Urteilskraft: Es ist klar, dass man auch selbst immer die grösseren Zusammenhänge, also die intellektuelle oder mentale Landkarte braucht, um Sachen einordnen zu können. Und die hat halt vollkommen gefehlt.

Du hast in deinem Buch «Und die Freiheit?» auch mehrfach die «Great Barrington Declaration» erwähnt. Eine wichtige Initiative von Wissenschaftlern, die zwar auch Fehler beinhaltet, aber immerhin: Da waren sehr viele Wissenschaftler, die gesagt haben, dass das alles so nicht stimmt.

ME: Der Punkt ist ja nicht, dass viele, sondern dass qualitativ hochstehende Leute sich gegen die Lockdown-Strategien ausgesprochen haben. Man weiss einfach aus der Wissenschaftsgeschichte, dass es kein innerwissenschaftlicher Prozess sein kann, wenn plötzlich über Nacht ein Strategiewechsel stattfindet –, denn der dauert. Andernfalls kann es nur durch nicht wissenschaftlichen, also politischen, sprich finanziellen Druck und Gehirnwäsche oder sonst irgendwas erklärt werden. Wenn es bisher in der Wissenschaft die Meinung war, X zu tun, und jetzt soll man Y statt X tun, dann müssen natürlich die, die immer der Meinung waren, dass X zu tun ist, erst einmal durch Argumente und Evidenz überzeugt werden. Und das dauert. An der Reaktion hat man sofort gesehen, dass das Fake ist und nicht Wissenschaft. Selbst wenn es richtig gewesen sein sollte, hätte es nicht über Nacht geschehen können.

Hannah Arendt bezeichnete das Urteilen als blosse Vorbereitung für das Wollen: Was also wird hier manipuliert? Unser Wille oder unsere Urteilskraft?

ME: Unsere Urteilskraft. Urteilskraft heisst ja zunächst mal, dass man Dinge ins Verhältnis einordnet, also dass man guckt, was jetzt jeweils einer Sache angemessen ist. Beispielsweise: Es kommt ein neues Virus. Jetzt kann der Wissenschaftler Modelle ausrechnen, wonach sich niemand mehr ansteckt, wenn die Leute zu Hause bleiben. Das ist irgendwie trivial. Dafür brauche ich keinen Wissenschaftler. Und dann wird es umgesetzt. Die Urteilskraft sagt jetzt aber: Wenn Leute zu Hause bleiben, dann schaden sie erstens ihrem Immunsystem, zweitens geht es ihnen irgendwie schlecht, wenn sie keine sozialen Kontakte mehr haben, und drittens gibt es ganz schnell Konflikte, wenn Menschen in einer kleinen Wohnung zusammen eingesperrt werden. Also Urteilskraft wäre jetzt, das ins Verhältnis zu setzen, damit es der Sache angemessen ist. Dafür brauchen wir keinen Wissenschaftler.

Aber all das lässt sich zurückführen auf unser fehlendes Evidenzvermögen: Wir haben keinen Bezug mehr zu unserer eigenen Realität. Kant hat ja die Urteilskraft als das vermittelnde – oder in seinen Worten versöhnende – Element zwischen Natur und unserer Freiheit bezeichnet. Sie verbindet die sinnliche und die moralische Welt, und ihr Gebrauch kennzeichnet sich hierbei dadurch aus, dass man das Besondere im Allgemeinen erkennen kann. Also unsere Abstraktionsfähigkeit in gewisser Weise. Er nennt das Erweiterung des Geistes. Ist es insofern unser Mangel an Abstraktionsvermögen, der unsere Urteilskraft einschränkt?

ME: Natürlich, das Urteilen steht vor dem Handeln: Bevor ich etwas tue, muss ich die Konsequenzen einschätzen können und ich kann nicht einfach einem Algorithmus folgen. Wenn es keine sozialen Kontakte mehr gibt, dann infiziert sich auch keiner. Die Aussage ist trivial, aber jetzt zu beurteilen, zu gewichten, was die Folgen sind, wenn es keine sozialen Kontakte mehr gibt – das ist Urteilskraft.

Wenn aber die Realität, oder das, was in der Realität eintreffen könnte, uns von «Experten» in der Form vermittelt wird, dass es von seiner Komplexität her den Horizont unserer Urteilskraft übersteigt: Sind wir dann angewiesen auf Gehorsamkeit, die Abgabe von Verantwortung und das Auslagern von Entscheidungen über unser Handeln?

ME: Das ist der platonische Fehler: Es gibt keine Experten fürs Handeln. Es gibt nur Experten für technische Fragen. Das platonische Wissen um das allgemein Gute, das kann die heutige moderne Wissenschaft prinzipiell nicht vermitteln, weil sie objektiv ist. Sie ist keine Religion. Sie kann keine Wissenschaft der Werte sein, nur eine Wissenschaft der Tatsachen. Aber das ist falsch – natürlich kann jeder selbst Gefahren beurteilen, und auch bei Viren sind die Gefahren unmittelbar: Man sieht nur Bilder von angeblichen Toten durch das Virus und kann nicht überprüfen, woran die Leute wirklich gestorben sind –, aber in der Nachbarschaft nimmt man nichts davon wahr. Nehmen wir an, jetzt kommt eine Virenwelle, von der man wirklich nicht wüsste, wie gefährlich sie ist, und lassen die Sache laufen. Dann wären einige Personen vorsichtig, und alles Weitere regelt sich ganz schnell von unten durch die Evidenz. Deshalb ist es wichtig, dass das jeder selbst beurteilen kann – Laissez-faire –, denn dann werden verschiedene Strategien ausprobiert.

Aber das ist ja eine der grossen Umkehrungen, die stattgefunden hat. Du sagst, jeder kann Gefahren selbst beurteilen, aber viele Leute sagten nach der ganzen Propaganda: Du stellst eine Gefahr für mich dar und deshalb braucht es Gesetze und Regeln, die dein Verhalten einschränken. Wie konnte das funktionieren?

ME: Indem man so eine Art Story daraus gemacht hat: Modelle haben in der Wissenschaft ja einen Sinn, sie geben mögliche Szenarien an, aber ein Modell ist keine Repräsentation von Wirklichkeit und auch keine Voraussage. Und jetzt ist es leider so, dass in den letzten Jahrzehnten die Modelle gegenüber der Evidenz zugenommen haben, weil man Computer hat und alles Mögliche schön ausrechnen kann. Ob das irgendeinen Sinn macht, ist eine andere Frage. Der Sinn liegt vielleicht darin, Möglichkeiten aufzuzeigen.

Hannah Arendt sagte, dass man die Wahrheit nur erkennen könne bei dem, was aussersinnlich ist – also in der Welt, die nicht von Reizen überfüllt ist. Aber wir leben eben in einer reizüberfluteten Welt. Wie bewahren Sie sich darin Ihre Urteilskraft?

ME: Na ja, also man kann das nur aufgrund von Daten. Und da müssen wir einfach herauszufinden versuchen, was für Daten wir haben.

Also stützen Sie sich trotzdem auf Daten?

ME: Ja, natürlich.

Und was ist mit Bauchgefühl oder Intuition?

ME: Da würde ich jetzt sagen: Nein. Ich möchte Evidenz sehen, weil Bauchgefühl ist ja ganz verschieden.

Aber woher wissen Sie, welche Urteile Ihrer eigenen Denke entspringen und welche vielleicht von Fremdeinflüssen vorbestimmt wurden?

ME: Es gibt eine Grundlage von Daten, wenn wir jetzt hier über empirische Dinge wie Viren oder so etwas reden.

Ja, aber da haben wir ja gerade die letzten drei Jahre die Manipulation schlechthin erlebt.

ME: Wenn ich nach Daten schaue, bin ich erst mal skeptisch, wenn sie aus intransparenten, totalitären Staaten wie China kommen. Bei Daten zu Epidemien oder Pandemien werden in westlichen Ländern die Toten erfasst – da ist Übersterblichkeit das erste. Natürlich kann man immer sagen, dass Leute an irgendwas gestorben sind, aber da müsste man ja im Einzelfall nach Ursachen gucken und davon gibt es immer viele. So, jetzt wäre erst einmal: Haben wir irgendwo Übersterblichkeit? Jetzt kommt was Neues: Die ersten Daten waren von Ioannidis. Er hatte dieses Kreuzfahrtschiff, die Diamond Princess untersucht. Da wurden alle Leute getestet, man rechnete das hoch und kam auf eine Sterblichkeit deutlich unter einem Prozent. Damit war für mich das Thema eigentlich erledigt. Das waren die einzigen zuverlässig erhobenen Daten. Diese Kreuzfahrtschiffpassagiere waren eher alt, und es ist jetzt nicht so, dass es eine Gruppe von Bergsportlern gewesen wäre. Denn wenn ich eine Gruppe von 70-jährigen Bergsportlern nehme, ist das natürlich nicht repräsentativ, weil das besonders fitte Leute sind. Es ist also kein bias sample, denn die Daten und die Spannbreite sind sehr gross. Somit war klar: Es ist nichts Alarmierendes.

Ich finde die Frage dennoch interessant: Was stärkt die Urteilskraft? Du sagst jetzt die Zahlen, aber ich glaube, es ist schon auch mehr. Ich habe die Bilder aus China gesehen, wie die Menschen über die Strasse gehen und mitten im Gehen fallen sie tot um. Am Anfang hiess es: Das ist das Coronavirus, das wird uns jetzt alle umbringen. Ich sah das und wusste: Das kann nicht stimmen –, aber nicht wegen Zahlen, sondern wegen meines Bauchgefühls.

ME: Das kann auch nicht stimmen. Also wenn jemand jemanden erschiesst, dann fällt man halt tot um. Aber das Virus, das ist ja kein Gift wie Zyanid oder so. Man kann daran sterben, klar, aber das dauert einen Moment. Man fällt da nicht einfach so mitten auf einer Strasse tot um. Oder nehmen wir die Bilder von Bergamo, da waren plötzlich Särge da – und man weiss nicht, woher die kommen. Und jetzt will ich nicht irgendwie Vorurteile haben –, aber wenn man weiss, dass es in Italien nicht so gut organisiert ist und denen aus Panik das Gesundheitspersonal wegläuft und die Leute mehr oder weniger in Streik gehen, dann ist doch klar, dass die Patienten sterben. Das war einfach ein Chaos. Aber wieso sollte man das jetzt auf das Virus zurückführen? Wieso sind denn die auf dem Kreuzfahrtschiff nicht gestorben? Da waren ja so viele Alte – das passt irgendwie nicht zusammen. Es passt vielleicht zu den chinesischen Bildern, aber von China weiss ich, das wird von oben bestimmt, was rauskommt und was nicht.

Und da haben wir doch das Problem, Michael: Die Urteilskraft der grossen Masse der Menschen ist an diesen Bildern gescheitert. Menschen haben zu mir gesagt: Ja, ich war auch lange skeptisch, aber dann habe ich diese Särge in Bergamo gesehen, und da war es für mich klar – da muss man etwas unternehmen.

ME: Nehmen wir Folgendes an: Ich habe die Särge aus Bergamo gesehen usw. Und natürlich reagiere ich, bin vorsichtig und nehme Rücksicht gegenüber anderen Leuten. Aber dann möchte ich diese Särge von Bergamo irgendwie durch Evidenz bestätigt haben. Woher weiss ich, ob nicht die Leichenbestatter in Streik gegangen sind oder Sonstiges? Ich kann ja Särge und Fotos von Särgen sehen, aber es braucht ein bisschen Skepsis gegenüber ungewöhnlichen Sachen.

Ich muss wichtige Dinge nachprüfen wollen! Das sehe ich als das Problem derjenigen, die sehr viel in den Nachrichten gesehen haben und dann nicht das taten, was wir gemacht haben – nämlich zu recherchieren, herauszufinden, was da los ist. Die allermeisten Menschen tun das nicht.

ME: Genau. Jetzt haben wir den Boom, dass wir staatlich finanzierte Medien haben und dass die Medien nicht wirklich frei sind. Es wäre ja typischerweise Aufgabe von Journalisten, darüber zu recherchieren, was da wirklich los ist. Denn es passt nicht zu dem, was man sonst sieht. Man muss immer die einzelnen Informationen, die man bekommt, in ein Gesamtbild einzuordnen versuchen, sodass es passt. Und jetzt ist es so, dass wir uns viel mehr auf das Smartphone, auf Computer, auf das Internet verlassen als auf unsere eigene Wahrnehmung der Umgebung – und das ist halt ein Problem. Dadurch wird man manipulationsanfälliger. Das ist halt der Fluch und Segen der Technik. Durch das Internet kann man mit jedem Menschen auf der Welt quasi augenblicklich kommunizieren, auch über Zoom. Man kann sich sehen und Kontakte halten, und das ist eine tolle Sache. Aber man kann Menschen natürlich auch viel einfacher manipulieren: Wenn man ihnen Bilder zeigt von Leuten, die alle nur maskiert rumlaufen, dann fangen die auch an, maskiert auf der Strasse herumzulaufen.

Halten wir also fest: Es fehlt die Skepsis gegenüber Ungewöhnlichem. Das Smartphone macht uns manipulationsanfälliger und die Medien, die unsere Skepsis fördern sollten und auch selbst skeptisch sein sollten, nehmen ihre Aufgabe nicht wahr. Was machen wir jetzt?

ME: Das macht ihr alternativen Medien doch! Ihr versucht, an die Leute zu appellieren, sie resistenter zu machen gegen Manipulation.

Aber ich denke, man kann nur an der Stelle ansetzen, dass es keine Machtkonzentration geben soll. Also wenn es einen Staat gibt, der Medien lenkt, der Wissenschaft lenkt, durch die Finanzierung die Bildung lenkt, der Notstände ausrufen kann usw., ist klar, dass hier die Freiheit fehlt. Nehmen wir mal an, ich habe ein politisches Programm, oder: Ich bin Wissenschaftler und ich bin von irgendwas fanatisch überzeugt – zum Beispiel davon, dass die Menschheit durch Viren oder durch den Klimawandel untergehen wird. Jetzt kann ich zwei Dinge tun: Ich kann Bücher schreiben, Leute zu überzeugen versuchen. Das ist mühsam und andere widersprechen mir. Viel einfacher ist es, wenn es mir gelingt, Berater eines Politikers zu werden, denn der Politiker kann einfach das, was ich will, beschliessen und er kann Medien finanzieren und so weiter. Das ist doch die sinnvollere, also die zweckrationalere Strategie.

Oder ich habe ein Unternehmen, das tolle Produkte herstellt. Jetzt kann ich versuchen, Kunden zu überzeugen, aber wenn die mir die Produkte nicht abkaufen, gehe ich pleite. Und das ist mühsam. Ich kann aber auch einen Politiker überzeugen, der mir ein Gesetz macht und sagt, dass mein Produkt der Menschheit hilft und mir deshalb eine Garantie gibt, dass, wenn ich pleite gehe, es einen bail out gibt, weil es too big to fail ist.

Aber das wäre ja unsozial. Und deshalb muss diese Machtkonzentration weg. Wenn es die zentrale Machtkonzentration nicht mehr gibt, ist es viel schwieriger – man muss dann die einzelnen Menschen überzeugen.

Wie schaffen wir das?

ME: Durch Skepsis gegenüber Machtkonzentration. Indem man sieht, was das alles anrichtet. Wahrscheinlich werden wir es halt irgendwann merken, denn das Ganze lebt ja nur auf Pump, es ist ja nicht finanzierbar – jetzt sind wir beim Geld. Eigentlich müsste man sagen: Okay, wenn ihr einen Lockdown haben wollt, muss aber die direkte Bundessteuer verdoppelt werden, und die Kantonssteuern entsprechend auch.

Angeblich haben wir ja keine Inflation wegen der Massnahmen, sondern wegen Putin.

ME: Natürlich gibt es immer irgendjemand anderes, der schuld ist.

Inwieweit hängt hier Urteilskraft mit unserem Bedürfnis nach Freiheit zusammen?

ME: Ich weiss nicht, ob es ein Bedürfnis nach Freiheit gibt.

Aber es gibt ein Interesse daran, sein Leben selbst zu gestalten. Und das erlischt ohne Freiheit.

ME: Ja, natürlich. Wenn man nicht ein bisschen Urteilskraft und Freiheit hat und das von anderen regeln lässt, dann geht es irgendwann schief. Dafür muss man irgendwann sehr teuer bezahlen. Wenn du dein Urteilsvermögen, deine Freiheit abgibst und denkst, das sei doch so ein wohlmeinender Bundesrat, dann endet das immer schlecht. Obendrein wird dieser Preis von allen bezahlt. Das ist das, was ich real existierende Postmoderne genannt habe: Geld, das durch nichts mehr gestützt ist, das einfach gedruckt werden kann, schafft eine Illusion von Wohlstand und Leistung. Corona hat ja nichts gekostet – das Geld wurde einfach gedruckt. Aber irgendwann, wenn sich die Geldmenge ausweitet, ist ja klar, dass der Wert des Geldes, also die Kaufkraft sinken muss, weil einfach mehr Geld da ist, ohne dass mehr Güter da sind. Wenn mehr Güter produziert werden, also die Produktivität steigt und die Geldmenge entsprechend steigt, ist es ja okay, denn dann müssten ansonsten die Preise fallen. Aber jetzt ist es ja so, dass die Geldmenge ausgeweitet wird und die Produktivität sogar sinkt. Ist ja klar, dass das Geld so an Wert verliert, und das trifft alle, manche mehr und andere weniger. Aber dann sieht man die Konsequenzen. Es ist ja im Leben immer so, dass man viel wollen kann, aber die Mittel knapp sind. Und deshalb ist Urteilskraft so wichtig, um mal zu überlegen: Welche Mittel möchte ich einsetzen, um ein Ziel zu erreichen? Also wie und wofür setze ich knappe Mittel ein?

Maurice Merleau-Ponty sagte, eine fehlende Übereinstimmung entbinde uns nicht davon, das, was wir ablehnen, zu verstehen; vielmehr steigere sie diese Pflicht. Er schreibt: «Die wahre Freiheit … nimmt die Anderen, wo sie sind; sie sucht die Doktrinen, die sie leugnen, zu durchdringen und erlaubt sich kein Urteil, bevor sie nicht alles verstanden hat. Wir müssen unsere Freiheit des Denkens in der Freiheit des Verstehens erfüllen.» Wie kommen wir zurück in einen vorurteilsfreien Diskurs?

ME: Wir haben nie einen vorurteilsfreien Diskurs. Von den Vorurteilen kommen wir weg, indem wir uns mit verschiedenen Positionen auseinandersetzen und Argumente austauschen.

Aber wie kann dann eine gerechte Urteilsfindung stattfinden?

ME: Indem jeder seine Meinung sagen darf. Auch die, die du für falsch hältst oder die, die ich für falsch halte.

Trotzdem leben wir in einer Gesellschaft, wo Regeln für uns alle bestimmt werden.Und wenn wir uns in einem in der Urteilskraft schwer gestörten Kollektiv befinden, dann ist der demokratische Weg versperrt. Weil wir so nicht zur Lösung kommen. Die Leute werden nicht der Vernunft folgen.

ME: Na ja, es ist schwer zu sagen, wo die Vernunft liegt. Der demokratische Weg ist ganz klar: Man kann nur über Sachen abstimmen im Sinne der offenen Gesellschaft. Popper setzt voraus, dass man die anderen respektiert. Man kann nicht darüber abstimmen, ob die anderen ein Lebensrecht haben. Eine Demokratie funktioniert also nur unter der bedingungslosen Anerkennung der Menschenrechte aller. Wenn ein Bundesrat und ein Parlament Unrecht beschliessen, haben wir in der Schweiz glücklicherweise die Volksabstimmung – das ist die einzige Form, in der wir uns im institutionellen Rahmen dagegen wehren können. Aber eigentlich sollten Volksabstimmungen nur über Sachen stattfinden, die im Rahmen der Anerkennung der Menschenrechte aller stehen.

Wir wissen auch, dass von staatlicher Seite versucht wird, Einfluss auf die Urteilskraft der Individuen zu nehmen. MK Ultra, Brutkasten-Lüge, Twitter-Files, das sind nachgewiesene und unstrittige Beispiele. Noam Chomsky nannte es «manufacturing consent», also «die Herstellung von Zustimmung», der Versuch, in der Bevölkerung Rückhalt für das staatliche Handeln gegenüber anderen Staaten zu gewinnen. Bei Corona versuchen die Regierenden oder Machthaber, die eigene Bevölkerung dafür zu gewinnen, sich selbst Schaden zuzufügen.

ME: Im 19. Jahrhundert entstanden Nationalstaaten, die nach aussen aggressiv sind, also zum Imperialismus tendieren, und nach innen repressiv sind, also tendenziell homogene Volkskörper sind. Dabei war das Privatleben jedoch nicht von der Repression betroffen. Die Repression beschränkte sich darauf, dass man Zwangsabgaben erhob, um Leute von staatlichen Programmen abhängig zu machen, also Sozialhilfe, Medizinhilfe usw., und damit die freiwillige genossenschaftliche und wohltätige Organisation von Unterstützung ausschaltete. Man nahm den Leuten die Mündigkeit und die Verantwortung für ihr eigenes Leben weg, machte aber keine Vorschriften für ihr Privatleben. Das ist jetzt einfach einen Schritt weitergegangen. Jetzt wird es totalitär, jetzt geht es in das Privatleben rein.

In dem Sinne ist die Repression eigentlich nicht neu, sondern sie hat sich einfach ausgeweitet.

ME: Rückblickend würde ich sagen, das war einfach der zweite Schritt, jetzt nimmt die Repression wieder zu. Man braucht nur auf die Medieninszenierung zu schauen: Wann immer ein Problem auftritt, wird ein Politiker gerufen, der überhaupt keine Kompetenz oder kein Mandat hat, und dann soll er das Problem lösen. Und es wird dadurch totalitär, dass es ins Privatleben reingeht, und das geht nur, wenn man den Menschen die Selbstverantwortung nimmt – dann nimmt man ihnen ja auch die Urteilskraft. Man suggeriert den Leuten, dass das ein Fürsorgestaat ist, und so entsteht die Haltung: Wissenschaftler müssen das jetzt richten. Und das ist das Absurde. Die Menschen müssen dann auch keine Urteilskraft mehr einsetzen, weil sie vollständig betreut sind. So kommt es, dass sie dies auch befolgen, wenn man ihnen sagt, dass Sie sich jetzt einsperren, Masken tragen oder sich impfen lassen müssen.

Ich denke, man kann niemanden zur Freiheit oder Mündigkeit zwingen. Man muss gegen diese Strukturen angehen und versuchen, sich Freiräume zu schaffen. Man kann den Leuten ja auch vermitteln, dass die, die mitmachen wollen, das tun können. Ich habe nichts dagegen, dass sie mit einer Maske herumlaufen. Ich habe auch nichts dagegen, wenn der Wirt sagt, er lasse nur noch Geimpfte rein – er schadet sich ja selbst. Die, die so leben wollen, sollen so leben können. Aber sie sollen den anderen nichts aufzwingen. Das kann man doch eigentlich vermitteln. Und dann werden wir ja sehen.

Manche Beobachter sagen, diese Ausweitung der Repression ins Private, dieser Totalitarismus sei Teil des Dritten Weltkriegs. Dieser finde nicht zwischen Staaten statt, sondern sei ein Krieg der Mächtigen gegen die allgemeine Bevölkerung und werde auch gegen unsere Wahrnehmung geführt. Was sagst du dazu?

ME: Das glaube ich nicht, dass das so stimmt. Denn erstens sind die Mächtigen ja auch keine homogene Gruppe. Ich würde denken, dass es bei bestimmten Themen eine Allianz gibt, wo sich verschiedene Interessengruppen finden, aber das kann auch wieder zu Ende gehen. Es gibt nicht einfach die Gruppe der Mächtigen versus die allgemeine Bevölkerung. Und zweitens haben wir Abstimmungen, es kann sich jeder ein Urteil bilden. Propaganda hat es auch immer gegeben. Es gibt nicht einfach eine Gruppe von Bösen da oben. Das ist mir irgendwie zu pauschal, es gibt viele verschiedene Interessen, und die sind sich untereinander auch nicht einig. Gab es nicht auch Streit unter den Impfstoffherstellern? Es ist halt wie überall, auch in der Uni: Wenn über etwas im Fakultätsrat abgestimmt wird, dann finden sich Gruppen zusammen, aber es ist nicht so, dass es immer eine Gruppe von Mächtigen gibt, die immer zusammenstehen. Auch die müssen immer ihre Mehrheit finden. Und so haben wir auch die Möglichkeit, dagegen anzugehen.

Wie?

ME: Indem wir reden und versuchen, die Leute zu erreichen.

In einem Interview bei Gunnar Kaiser sagtest du: «Wenn wir den postmodernen Totalitarismus zu Ende führen, dann steht am Ende dieser Entwicklung die totale Zerstörung.» Aber da wollen wir doch nicht hin, oder?

ME: Wir können das verhindern, wenn jetzt genügend Leute ihre Urteilskraft einsetzen. Aber vielleicht wird es zu spät sein. Und: Immer wenn es eine totale Zerstörung gab, gab es wieder einen Neuanfang. Ich will das nicht, aber ich kann es auch nicht verhindern. Es ist klar, dass das Fiatgeldsystem irgendwann in einer Geldentwertung endet, weil es prinzipiell unmöglich ist, die Schulden zurückzuzahlen, weil sie einfach zu hoch sind. Das heisst, das bricht irgendwann zusammen.

CBDC – digitales Zentralbankgeld wird die Lösung sein nach dem Zusammenbruch unseres Fiatgeldes.

ME: Da muss man halt schauen, ob genügend Leute bereit sind, das anzunehmen.

Das werden sie.

ME: Mit dem digitalen Zentralbankgeld bricht es erst recht zusammen. Das ist dann die totale Steuerung. Die totalitären Regime sind entweder durch einen expliziten Krieg oder – wie die Sowjetunion – einfach wirtschaftlich irgendwann zusammengebrochen. Um das zu stoppen, muss man die staatliche Machtkonzentration durchbrechen. Und man muss Urteilskraft einsetzen und Verantwortung für sein eigenes Leben und in überschaubaren Gemeinschaften übernehmen, weil niemand anderes das kann. Wer sagt, dass er das nicht kann, macht das Leben am Ende des Tages kaputt. Vielleicht muss es so weit kommen, dass es kaputt geht – ich weiss es nicht. Ein Zusammenbruch des Geldsystems ist absehbar und schwer zu stoppen, weil halt zu viel Verschuldung da ist. Man müsste sofort mit diesem Geldsystem aufhören und zu einer freien Wirtschaft mit freiem Geld statt staatlichem Geldmonopol übergehen, sodass es ein Produktivitätswachstum gibt. Man müsste da also eine 180-Grad-Kehrtwende machen. Aber danach sieht es Moment nicht aus. ♦

von Lilly Gebert und Michael Bubendorf


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