
Zwischen Code und Wirklichkeit
Kennst du das? Du stehst auf, frühstückst, machst dich auf den Weg – ein Tag wie jeder andere. Und doch ist da diese nagende Ahnung, dass etwas nicht stimmt. Als bewegtest du dich durch eine Kulisse, die lediglich vorgibt, echt zu sein. Und du erinnerst dich – ohne recht zu wissen, woran.
Mit diesem diffusen Gefühl bin ich durch meine Kindheit und Jugend gegangen, unfähig, es zu erklären. Bis zu einem Abend im Jahr 1999. Ich sass mit Freunden im Kino, Popcorn auf dem Schoss, völlig ahnungslos, was da auf uns zukommen würde. «The Matrix» war angekündigt, ein Sci-Fi-Film – okay, das klang nach zwei Stunden guter Unterhaltung.
Was dann geschah, traf mich unerwartet: Irgendwo zwischen grünen Codes, surrealer Ästhetik und der Frage nach der roten Pille rastete etwas in mir ein. Das vage Störgefühl, das mich so lange begleitet hatte, bekam plötzlich Bestätigung: Diese Welt ist nicht echt.
«The Matrix» war für mich nicht einfach Fiktion – dieser Film war ein Spiegel. Und das, was ich darin sah, löste Sehnsucht in mir aus. Ich hätte mir auch einen Morpheus gewünscht, der mir die Augen öffnet und mir endlich die Tür hinaus zeigt. Aber da sass ich nun – Popcorn im Mund, Fragen im Kopf –, während in mir etwas aufschrie: Holt mich hier raus.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich nicht die Einzige war, die in den darauffolgenden Wochen im Schneidersitz auf dem Boden hockte und einen Löffel anstarrte. Verbogen hat er sich kein Stück – und auch die Realität blieb, wo sie war. Aber ich hatte eine Mission. Und so setzte ich den ersten Fuss in den Kaninchenbau.
Erster Halt: Realitätscheck
Ich begann zu forschen. Wenn wir tatsächlich Teil einer gigantischen Simulation waren, dann müssten sich Abweichungen zeigen. Kein System funktioniert einwandfrei. Also begann ich nach Fehlern zu suchen.
Ich starrte nicht mehr nur Löffel an – ich starrte den Alltag an. Ich achtete auf Déjà-vus und Synchronizitäten. Nachts studierte ich das Flimmern hinter meinen geschlossenen Lidern, tagsüber die Menschen um mich herum. Waren sie wirklich alle echt – oder gab es Statisten darunter?
In der Gamewelt nennt man sie NPCs: Non Player Characters. Sie sind Teil des Programms – Figuren, die nicht bewusst gesteuert werden. Anders als die Avatare, die von menschlichen Spielern durch den virtuellen Raum navigiert werden, folgen die NPCs einem festen Ablauf: Sie reagieren auf Reize, erfüllen ihre Funktionen, halten das Spiel am Laufen – aber sie sind nicht wirklich bewohnt.
Um das Spiel zu entlarven, schob ich bei neuen Begegnungen den Small Talk beiseite und stellte gezielte Fangfragen. Statt «Was machst du so?» fragte ich lieber: «Was beseelt dich?» Oder: «Hast du Angst vor dem Tod?» Die meisten Menschen wichen diesen Fragen mit grossem Unbehagen aus. Ob ich damit tatsächlich das Programm herausforderte oder einfach nur eine höchst irritierende Gesprächspartnerin war, liess sich schwer bestimmen. Also musste ich tiefer tauchen.
Ich versuchte, luzid zu träumen (und scheiterte kläglich), experimentierte mit psychoaktiven Substanzen (und gewann dabei genauso oft Erkenntnis, wie ich den Faden verlor) und begann mit Meditation (man denke sich seinen Teil). Ich verbrannte Räucherstäbchen, verschlang dystopische Bücher, lauschte der Poesie Jim Morrisons – und bastelte, halb barfüssige Waldfee, halb Science-Fiction-Nerd, an einem Weltkonzept, das meinem unruhigen Geist zumindest für eine Weile Heimat bot. Und es funktionierte. Zumindest bis zu dem Tag, an dem ich das erste Mal starb.
Zweiter Halt: Game over. Und Neustart
Ich war 26, als ich auf einer Reise in Ägypten an einer schweren Lebensmittelvergiftung erkrankte. Im Laufe einer langen Nacht begannen Schmerzen und Fieber die Welt um mich herum aufzulösen. Ich verlor das Bewusstsein in Wellen und erwachte in vollkommener Klarheit. Die Zeit verliess ihre lineare Bahn – und ich meinen Körper.
Ich weiss noch, wie ich von stiller Freude erfüllt im Kosmos schwebte und auf mein Leben blickte, das sich, zu einem einzigen gelebten Augenblick verdichtet, vor mir entfaltete. Da wurde es mir bewusst: Ich war im Begriff, dieses junge Leben zurückzulassen.
Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag und stürzte mich in tiefe Verzweif lung und Angst. Ich wollte nicht sterben. Auf gar keinen Fall.
Und so begann der schmerzhafteste Teil dieser Reise: der Kampf, das Ringen, das Festhalten, das Verhandeln. Nichts half.
Als sich schliesslich meine Kraft erschöpfte und mein Widerstand wich, passierte etwas Wunderbares: Ich löste mich aus der Verankerung meines Körpers, schwebte mit ausgebreiteten Armen nach oben, zersprang mit einem Aufschrei purer Lust in unzählige Lichtpartikel – und ergoss mich in grenzenloses, lebendiges Licht, welches mich mit grosser Zärtlichkeit umfing.
Ich erinnere mich lebhaft an meine Verblüffung, als ich erkannte: Dies hier war meine wahre Gestalt – diese grenzenlose, pulsierende, leuchtende Struktur aus kollektivem, schöpferischem Bewusstsein. «Wir» dachten, fühlten, spielten, erschufen – in alle Richtungen und Zeiten.
Dritter Halt: Das Paradoxon der Wirklichkeit
Als ich zurückkehrte in die Dunkelheit und Enge einer materiell verdichteten Welt, fühlte sich die Wirklichkeit noch weniger echt an – aber diesmal wusste ich wenigstens, warum.
Was wir für real halten, ist nicht falsch, nur eben: die 4D-Projektion einer vielschichtigen, multidimensionalen Wirklichkeit, die wir vor uns selbst aus gutem Grund verschleiern.
Wir simulieren Realität und vergessen dabei, dass wir selbst die Architekten sind. Denn ohne dieses Vergessen, ohne das vollständige Eintauchen, wäre das Spiel nicht spielbar.
Entweder würden wir auf der Stelle den Verstand verlieren – oder in permanenter Glückseligkeit durch die Ebenen treiben, umweht von kosmischem Kichern, während wir uns in sanfter Einigkeit die Hände reichen. Keine Reibung, keine Spannung, keine Wandlung. Keine Geschichte.
Nein – wir brauchen scheinbar das volle Programm: ein kosmisches Spiel mit eingebautem Gedächtnisverlust. Was für ein wilder Einfall.
Doch die Sache ist die: Ein einziger Moment jenseits der Kulisse genügt – und die Täuschung funktioniert nicht mehr einwandfrei. Etwas bleibt für immer wach. Still. Wartend.
Und hier entsteht ein Paradoxon, das nicht leicht zu meistern ist: Mit offenen Augen durch die Illusion zu gehen, ohne innerlich zu fliehen – gerade weil man die herrliche Absurdität des Spiels erkannt hat. Den Film zu durchschauen und trotzdem mit aller Inbrunst die Hauptrolle zu verkörpern – weil alles andere Verschwendung wäre. Präsent zu bleiben, selbst dann, wenn unsere Mitspieler gerade das Level «Weltkrieg» freischalten – weil man dem Kollektiv gegenüber Verantwortung spürt.
An dieser Schwelle zu tanzen, schafft man nur mit einem Herzen, das mutig genug ist, beide Wirklichkeiten in sich zu halten.
In diesem Sinne: ein leiser Gruss an dich, der du bis hierher gelesen hast.
Vielleicht ist es kein Zufall, dass wir uns in diesen Zeilen begegnen. Hier – Zwischen Code und Wirklichkeit.
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