
Wege aus dem Trauma
Wie verkorkst sind wir wirklich? Im Gespräch mit Birgit Assel
Traumata sind mehr als einzelne, schockierende Ereignisse. Sie sind Erfahrungen, die tief in unser Sein eingreifen und unsere Wahrnehmung der Welt verändern. Oft leben wir mit ihren Auswirkungen, ohne uns ihrer bewusst sein – in Form von Ängsten, Selbstzweifeln oder unerklärlichen körperlichen Symptomen.
Ich persönlich kann mich an kein einschneidendes Erlebnis in meinem Leben erinnern. Und doch habe auch ich oft das Gefühl, etwas halte mich ab vom eigentlichen Leben. Da ist wie eine Milchglasscheibe, die mir meine vollständige Lebendigkeit zu verwehren scheint. So frage ich mich nun gut seit einem Jahr, was mich wirklich belastet? Sind es nur meine «Gedanken»? Oder ist es das, was mich meine Gedanken überhaupt erst denken lässt, und entsprechend verhindert, dass mir andere Gedanken, und mit ihnen andere Gefühle, möglich wären?
Wie finde ich heraus, was mich wirklich belastet? Und noch wichtiger: Wie kann ich mich davon befreien? Um Antworten auf meine Fragen zu bekommen, wandte ich mich an die Psychotraumatherapeutin Birgit Assel. Mit ausserordentlicher Klarheit erklärte sie mir, woran man unverarbeitete Traumata erkennt, wie sie unser Leben unbewusst steuern und warum Heilung immer mit Selbstreflexion beginnt. Ein Gespräch über die Kraft der Bewusstwerdung und die Möglichkeit, aus alten Mustern auszubrechen.
«DIE FREIEN»: Liebe Birgit Assel, wie würden Sie Ihren therapeutischen Ansatz in wenigen Worten beschreiben?
Birgit Assel: Ich arbeite seit 2006 mit der Identitätsorientierten Psychotraumatherapie (IoPT) nach Prof. Dr. Franz Ruppert. Ziel ist es, traumatische Erlebnisse ins bewusste Erleben zu integrieren, damit verdrängte Gefühle nicht unbewusst unser Leben beeinflussen. Zentral ist das Resonanzphänomen, das ermöglicht, unbewusste Anteile sichtbar zu machen und zeitlich sowie emotional einzuordnen. So entsteht eine tiefere Selbstverbindung, die neue Handlungsoptionen eröffnet.
Welche Rolle spielt das systemische Denken in Ihrer Traumaarbeit?
BA: Das systemische Denken spielt eine untergeordnete Rolle, da der Fokus auf der individuellen Psyche liegt. Innerfamiliäre Prägungen sind wichtig, doch Ziel ist nicht, ein System zu «harmonisieren», sondern zu verstehen, wie prägende Erfahrungen das eigene Leben beeinflussen und welche neuen Wege möglich sind.
Was ist in Ihrem Ansatz mit Identität gemeint?
BA: In der IoPT wird Identität als lebenslanger Prozess verstanden, der von der Zeugung bis in die Gegenwart durch Erfahrungen geprägt wird. Traumatische Erlebnisse können zur Abspaltung von Teilen der eigenen Biografie führen, um Schmerz zu überleben. Diese Anteile beeinflussen jedoch unser Denken, Fühlen und Handeln unbewusst weiter.
IoPT ermöglicht es, diese abgespaltenen Anteile bewusst zu machen und in die eigene Biografie zu integrieren. Dabei unterscheidet sich Identität von Identifizierungen, die oft Überlebensstrategien sind.
Zur besseren Veranschaulichung:
- Gesunder Anteil (Ich): Authentischer, lebensbejahender Teil.
- Überlebensanteil: Schutzmechanismen wie Verdrängung oder Anpassung.
- Traumatisierter Anteil: Abgespaltene Gefühle von Schmerz und Angst.
Wie erkennt man, dass man unter einem nicht verarbeiteten Trauma leidet?
BA: Unverarbeitete Traumata beeinflussen unser Leben auf verschiedenen Ebenen:
- Körperlich: Chronische Erkrankungen, diffuse Schmerzen, Migräne, Autoimmunprobleme, ständige Erschöpfung.
- Emotional: Panikattacken, Angststörungen, Depressionen, emotionale Überreaktionen oder Gefühlskälte.
- Verhaltensmuster: Wiederkehrende destruktive Beziehungen, Kontrollzwang, Vermeidungsverhalten, Perfektionismus, Suchtverhalten.
- Dissoziation: Gefühl der Abkopplung vom eigenen Leben, Erinnerungslücken, verzerrte Selbstwahrnehmung.
- Erinnerungslücken und Idealisierung: Fehlende emotionale Erinnerungen an die Kindheit, übermässige Idealisierung der Eltern.
Trauma führt zu Überlebensstrategien, die kurzfristig schützen, aber langfristig einschränken. Erst durch Selbstreflexion und therapeutische Unterstützung können diese unbewussten Anteile bewusst gemacht werden, um mehr Selbstbestimmung zu erlangen.
Wie sieht die eigentliche Arbeit in der Traumatherapie aus?
BA: IoPT ist eine Bewusstseinsarbeit, die verdrängte Erlebnisse wieder ins Bewusstsein bringt und integriert. Trauma wird nicht nur psychisch, sondern auch körperlich gespeichert, weshalb körperorientierte Methoden unterstützend wirken können. Bekannte körperorientierte Traumatherapien sind:
- Somatic Experiencing (SE) (Peter Levine): Regulierung des Nervensystems.
- Sensorimotor Psychotherapy (SP) (Pat Ogden): Arbeit mit Körpersignalen bei Bindungstraumata.
- TRE® – Trauma Releasing Exercises (David Berceli): Körperübungen zur Spannungsentladung.
- Polyvagal-Theorie (Stephen Porges): Vagusnervregulation durch Atemübungen und Berührung.
- Körperpsychotherapie (Wilhelm Reich und Alexander Lowen): Atem- und Bewegungsarbeit.
Effektiv sind körperbasierte Methoden dann, wenn bereits ein Zugang zu abgespaltenen Trauma-Strukturen geschaffen wurde und eine zeitliche Zuordnung stattgefunden hat.
Warum glauben viele nicht, dass sie traumatisiert sind? Wird «Trauma» inflationär gebraucht?
BA: Der Begriff «Trauma» wird zunehmend differenziert verstanden. Trauma zeichnet sich durch Ohnmacht, Hilflosigkeit und Kontrollverlust aus – oft verbunden mit existenzieller Bedrohung.
Viele glauben, nicht betroffen zu sein, weil Trauma meist mit offensichtlichen Extremerfahrungen wie Gewalt, Unfällen oder Kriegen assoziiert wird. Begriffe wie Bindungs- oder Entwicklungstrauma sind hingegen noch wenig bekannt. Dabei können auch Vernachlässigung, emotionale Kälte oder übermässige Kontrolle tiefe seelische Wunden hinterlassen.
Psychische Gewalt wird oft unterschätzt, da sie keine sichtbaren Wunden hinterlässt. Viele erleben diese Dynamiken als «normal» und erkennen daher nicht, dass sie traumatisiert wurden. Das steigende Bewusstsein für Trauma ist eine Chance, um tiefere Zusammenhänge zu verstehen und frühzeitige Prävention zu ermöglichen.
Was braucht es, um die transgenerationale Traumaweitergabe zu durchbrechen?
BA: Um die Weitergabe von Trauma zu verhindern, braucht es sowohl individuelles als auch gesellschaftliches Bewusstsein für dessen langfristige Auswirkungen.
- Individuell: Eltern müssen bereit sein, sich mit ihrer eigenen Kindheitsgeschichte auseinanderzusetzen. Unverarbeitete Traumata führen dazu, dass sie ihre Kinder oft nach Erziehungsideologien statt nach ihren wirklichen Bedürfnissen begleiten.
- Gesellschaftlich: Der Glaube, dass Kinder «erzogen» werden müssen, trägt dazu bei, dass Macht-Ohnmacht-Dynamiken fortbestehen. Kinder brauchen stattdessen eine sichere Umgebung, die ihnen Selbstentfaltung ermöglicht.
Notwendige Schritte:
- Öffentlicher Diskurs über Bindungs- und Entwicklungstraumata.
- Eltern frühzeitig unterstützen, um unbewusste Muster zu reflektieren.
- Erziehungsansätze hinterfragen, weil sie immer auf Kontrolle und Manipulation basieren.
- Kinder als vollständige Menschen wahrnehmen, nicht als «unfertige Erwachsene».
Die transgenerationale Weitergabe kann nur unterbrochen werden, wenn Menschen bereit sind, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen und emotionale Verantwortung zu übernehmen. Nur dann entstehen sichere Bindungen – und eine neue Generation, die nicht weiter unbewusst die Traumata der Vergangenheit trägt.
***
Birgit Assel ist Diplom-Sozialpädagogin und in eigener Praxis als Traumatherapeutin tätig, seit 2006 in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Franz Ruppert. In ihrem Podcast «Wer bin Ich? Früh verletzt und spät verstanden» erklärt sie gemeinsam mit ihrer Tochter, wie traumatische Erlebnisse aus der Kindheit die Bindung zu anderen und die persönliche Entwicklung beeinflussen.
igtv.de
Hat dir der Artikel gefallen? Dann bestelle jetzt ein Abo in unserem Shop!
Deine Meinung ist uns wichtig: Teile dich mit und diskutiere im Chat mit unseren Lesern.