Wie es sein wird
In einem Gespräch mit einem Freund kam gestern die Frage auf: «Was ist in den nächsten zehn Jahren zu erwarten?»
Vorher hatten wir über Elon Musk gesprochen, daher sagte ich: «Weisst du, würden wir Elon Musk diese Frage stellen, könnte er sie ganz anders auffassen. Vielleicht würde er so anfangen: ‹Ich werde dir sagen, was passieren wird›, und dann würde er beschreiben, was er vorhat in der Welt zu bewirken.» Vielleicht würde er sagen: «Zwölftausend Satelliten werden die Erde in der niederen Erdumlaufbahn umkreisen. Man wird in der Wildnis Alaskas Breitband-Internet empfangen können. Wir alle werden in einem Internet der Dinge vernetzt sein.»
Vorhersagen über die Zukunft sind von einer Art Fatalismus befallen, als wäre die Zukunft eine objektive, vorherbestimmte Realität, die uns einfach widerfährt. Sag mir, wie es sein wird, damit ich mein Leben danach ausrichten kann. Elon Musks Antwort fasst die Frage anders auf, indem er von seiner eigenen Macht und Gestaltungskraft für die Zukunft ausgeht. Er geht von einer metaphysischen Wahrheit aus – dass das Selbst und die Welt, das Innen und das Aussen, nicht gänzlich getrennt sind, und dass die Frage nach der Zukunft unser innigstes Selbst mit einbezieht.
Wir könnten uns leicht darauf einigen, dass wir alle die Zukunft gemeinsam gestalten, aber mein hypothetischer Elon Musk sieht sich selbst als den Gestalter. Warum tut er das? Es liegt nicht nur an seinem immensen Reichtum. Viele ausserordentlich reiche Menschen fühlen sich hilflos angesichts der Zukunft, und ihre Versuche, sie zu gestalten, scheitern letztendlich. Die Macht, die er nutzt, nenne ich prophetische Sprache. Prophetische Sprache ist die Fähigkeit, eine Möglichkeit herbeizureden. (Sie beinhaltet auch die prophetische Warnung, die eine Möglichkeit aus der Wirklichkeit herausredet.)
Elon Musk macht nicht den Eindruck, sich einer vorherbestimmten Zukunft ausgeliefert zu fühlen. Niemand konnte ihm vor ihrem Start versichern, dass Zehntausende Satelliten Millimeterwellen in alle Winkel des Planeten senden würden. Niemand konnte ihm versichern, dass es realistisch war, einen neuen Elektroautokonzern zu gründen. Sehr wahrscheinlich haben viele Leute das Gegenteil gesagt. Doch er wusste es besser. Also sagte er nicht: «Sag mir, was sein wird, damit ich weiss, was zu tun ist.» Er sagte eher: «So wird es sein. Jetzt weiss ich, was zu tun ist.»
Elon Musk besitzt Aktien im Wert von etwa 162 Mrd. USD. Meine Aktien sind weniger als die Hälfte davon wert, und doch glaube ich, dass ich etwas von ihm und von anderen, die die Macht des Wortes zu nutzen wissen, lernen kann. Nicht alle von ihnen haben oder hatten Geld. Nelson Mandela. Martin Luther King. Neema Namadamu und die Frauen von Maman Shujaa. Subcomandante Marcos. Die indigenen Bauern, die das Friedensdorf von San José de Apartadó gegründet haben. Ein vierjähriges Waisenkind namens Jacqueline. Und viele mehr, deren Namen wir niemals wissen werden, deren machtvolle Errungenschaften nach modernen Massstäben nicht sichtbar sind. Ihr fehlendes Geld hat ihre Macht, Wunder zu bewirken, nicht gemindert. Das ist die Art von kreativer Macht, die nötig ist, um eine Zukunft zu manifestieren, die ich «Die schönere Welt, die unser Herz kennt» nenne. Sie unterscheidet sich von Elon Musks Vision, aber wer weiss, wo die verschlungenen Pfade von Kreativität, Enttäuschung, Bedauern und Erneuerung hinführen werden? …
von Charles Eisenstein
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