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Die Rückkehr des Todes

Der Tod ist das grosse Tabu unserer Gesellschaft. Diese Behauptung stellte der Soziologe Jean Ziegler 1975 in seinem Buch «Die Lebenden und der Tod» auf. Ein halbes Jahrhundert später gilt festzuhalten: Zieglers These hat durch die vergangenen zwei Jahre an Dringlichkeit gewonnen, denn in der Konfrontation mit etwas potenziell unkontrolliert Gefährlichem offenbart sich, welche Werte wirklich zählen.

Die pandemiepolitischen Überreaktionen erfolgten vielfach in einem irrationalen, aktivistischen Panikmodus. Erklären lässt sich dies mitunter dadurch, dass sich etwas verdrängt Geglaubtes – der Tod – seinen Weg aus der Dunkelkammer des kollektiven Gedächtnisses bahnte und sich in direkter Konfrontation für jeden Einzelnen als omnipräsentes Risiko offenbarte.

Viele Menschen in westlichen Staaten, die während der vergangenen 70 Jahre ohne Kriegserfahrung aufgewachsen sind, verspürten in der allgemeinen Hysterie womöglich zum ersten Mal in ihrem Leben die Angst vor dem Tod. Diese Angst schaltete jedes kritische Nachdenken über das Geschehen aus, und sie legte eine tiefsitzende Pathologie unserer Kultur frei.

Die Politik behauptete zwar, Leben zu retten. Damit meinte man jedoch eine reduzierte Auffassung von Leben, eine, die sich auf das nackte biologische Leben (Giorgio Agamben) beschränkt. Dieses allein hat aber keinen sinnvollen Inhalt. Es ist absurd zu behaupten, Leben retten zu wollen, wenn dabei dessen Sinn zerstört wird.

Diese Reaktion zeugt von unserem inexistenten Verhältnis zum Tod, dem blinden Fleck in unserer Kultur. Pathologisch ist dies deswegen, weil der Tod eine Konstante des Lebens darstellt und ein integrativer Teil desselben ist. Das ist gewiss – doch wir verleugnen es.

Die Rückkehr des Todes erscheint derart bedrohlich, weil wir ihn abspalten. Der Tod zwingt uns, über die Sinnhaftigkeit oder Sinnlosigkeit unseres eigenen Lebens nachzudenken. Das Gutheissen repressiver Massnahmen dürfte nicht zuletzt darin gründen, dass man auch dieser Aufgabe aus dem Weg gehen will. Der moderne Mensch ist unfähig, sich mit sich selbst zu beschäftigen, oder wie es Blaise Pascal formulierte: «Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.»

Die Angst – die zur politischen Manipulation missbraucht wird – liesse sich reduzieren, wenn wir zu akzeptieren lernen würden, dass menschliches Leben befristet ist. Denn das Bewusstsein über die eigene Endlichkeit macht unser Leben einzigartig, eben weil nichts wiederkehrt und jeder Moment eigen ist. Das Schöne liegt im Vergänglichen.

Als Abwehr einer akuten Lebensgefahr kann Angst nützlich sein. Doch sie darf nicht zum permanenten Zustand werden. Eine während zwei Jahren immer weiter eskalierende Drohkulisse hat nichts mehr mit einem affektiven Schutz zu tun. Vielmehr mündet die Verdrängung des Todes in Gewalt – auch rhetorischer, symbolischer und psychischer – gegenüber vermeintlichen Sündenböcken, die als physische Manifestation der Todesgefahr gesehen werden.

Es ist diese verdrängte Angst vor dem Tod, die es verunmöglicht, zum Leben zurückzukehren. Wir werden lernen müssen, mit dem Tod zu leben. Es scheint, als gäbe es zum jetzigen Zeitpunkt zwei Möglichkeiten, mit dieser Tatsache umzugehen.

Die technologische Verwaltung

Die transhumanistische Ideologie gibt vor, die biologische Existenz technologisch konservieren zu können. Diesen Glauben hat man der Menschheit in den vergangenen zwei Jahren schmackhaft zu machen versucht. Doch ein Glaube, der uns von fremden Autoritäten aufgezwungen wird – ein Dogma –, kann keine Befreiung und auch keine Erlösung sein. Dogmen haben in der Geschichte der Menschheit noch nie dem Einzelnen genützt. Diese Zweckreduktion des Lebens kann keine Zukunft haben, denn die menschliche Existenz besteht nicht nur aus rationalistischem Kalkül, sondern zum Beispiel auch aus Intuition oder moralischem Gewissen. Diese Fundamente der menschlichen Existenz sind nicht eingrenzbar, und auch dies gilt es auszuhalten.

Die Transhumanisten sehen im Menschen bloss eine vergängliche Apparatur, die schwach ist und überwunden werden muss. Aber dieses Evolutionsnarrativ haben sie sich selbst konstruiert. Dabei geht verloren, dass sich mit dem Bewusstsein über die eigene Endlichkeit auch die Einsicht entwickeln kann, sein Leben sinnvoll gestalten zu müssen. Das transhumanistische Ziel des ewigen Lebens nimmt dem Leben seinen Zusammenhang und seinen Sinn. Dabei ist das Leben für den Menschen nicht vom Sinn zu trennen, ohne dass er zum Tier degradiert wird.

Diese Wahnvorstellung des ewigen Lebens speist sich aus der Angst vor dem Tod und dessen Verdrängung. Man glaubt, dieser Angst mit technologiebasierter «Human Augmentation» begegnen zu können. Die transhumanistische Heilslehre schöpft ihre Suggestionen aus der Komplexität der heutigen Welt und zielt darauf ab, Menschen ein verwaltetes, delegiertes Leben führen zu lassen.

Im politischen Feld ist mittlerweile offenkundig, dass der Staat sich heute in diese Richtung bewegt. In seiner technokratischen und expertokratischen Massnahmen-Manie war nicht zu erkennen, dass man bereit ist, die individuelle Lebensgestaltung zu respektieren. Auch ein sinnhaftes politisches Ziel war nicht zu identifizieren. Der Sinn fehlte überhaupt gänzlich. Diese ultimative Rechtfertigung aller Repressalien trieb sich so selbst ad absurdum. Doch durch das kollektive Bedürfnis nach Sicherheit sah sich der Staat legitimiert, den Wert des biologischen Überlebens absolut – und damit totalitär – zu setzen.

Doch über den Wert des Lebens kann keine Politik entscheiden; dies muss ein offener Prozess auf individueller und gesellschaftlicher Ebene bleiben. Im Kosmos Platons ist der Mensch nicht das Beste, hat aber eine ewige Seele, die ohnehin unsterblich ist. Wer wie die Transhumanisten selbst Hand am Schicksal anlegen will, wird überheblich. Auf die Hybris folgt die Ernüchterung.

Die aufgeklärte Selbstbestimmtheit

Die andere Möglichkeit fusst in einer radikalen Selbstreflexion, die zu Selbsterkenntnis führt. Es ist im Kern ein aufklärerischer Gedanke, ein Bekenntnis dazu, dass niemand anderes als der Einzelne selbst den Sinn seines Lebens bestimmen kann. Dieser Sinn kann seine Entfaltung auf verschiedene Weise finden: zum Beispiel im Glauben, in der Spiritualität. – Es ist die Verantwortung jedes Einzelnen, sein Koordinatensystem zu kennen, zu überprüfen und anzupassen. Diese Aufgabe scheint unumgänglich zu sein. Anthropologische Erkenntnisse legen nahe, dass ein Glaubenssystem jenseits des Materialismus fundamental für das menschliche Leben ist. Doch mit Technologie werden wir uns nicht einfach der Natur entledigen können. Technologie löst keine Sinnfrage. So hat doch gerade die Technologie der Moderne – nebst ihren zweifellos nützlichen Errungenschaften – zu unfassbaren Beschleunigungs- und Zerstörungsorgien beigetragen.

Jean Ziegler schlägt vor, jeden Tag durch Gedanken, Taten und Träume so viel Glück und Sinn wie möglich für sich und die anderen zu erschaffen. Auf diese Weise soll die Angst vor dem Tod, der Negation des Lebens, gemindert werden.

In der Akzeptanz von Ängsten und Verletzlichkeit sowie der Integration des Todes ins diesseitige Bewusstsein liegt ein grosses existenzialistisches Potenzial für den Menschen. Wenn wir Jean-Paul Sartres «Der Mensch ist zur Freiheit verdammt» als lebenspraktischen Leitfaden wählen, akzeptieren wir keine aufoktroyierten Einschränkungen mehr, die dem Menschen seine Fähigkeit und sein Bedürfnis absprechen, sein Leben selbst zu gestalten. Dann lassen wir auch nicht mehr zu, dass man uns für transhumanistische Pläne instrumentalisiert.

Die Angst vor dem Tod kann wohl verdrängt werden, doch nicht ohne Konsequenzen. Die Verdrängung führt zu einer latent psychotischen Realitätsflucht und zur Entfremdung des Selbst von der Wirklichkeit. Der Mensch muss also der Verdrängung der Angst entsagen, denn sie hält ihn in Gefangenschaft.
Ein mündiger Mensch wählt nie mehr freiwillig den Zustand der Entmündigung, der Angst und der Schuld. Der mündige Mensch bedient sich nach Immanuel Kant nicht mehr der Anleitung eines anderen, sondern benutzt seinen eigenen Verstand. Das Projekt der Aufklärung gibt es nicht umsonst: Es setzt Mut und Entschlossenheit voraus. ♦


von Armin Stalder
Credit (Bild): pexels.com – Cottonbro


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