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«Digital first. Bedenken second.»

Mit diesem Slogan warb einst die «Freie Demokratische Partei Deutschlands» für die Digitalisierung aller Lebensbereiche – ohne Rücksicht auf Verluste. Seitdem haben Politik, Grosskonzerne und Stiftungen ihre Gangart diesbezüglich noch verschärft. Wachsame Menschen stellen sich dem entgegen und kämpfen für ein Recht auf analoges Leben.

Digital kann hilfreich sein: Nachrichten erreichen ihren Empfänger schnell und unkompliziert. Elektronische Kassen nehmen dem Menschen zeitraubendes Rechnen mit Zettel und Stift ab. Informationen lassen sich mit einem Klick aktualisieren. Doch mehr und mehr zeigt die Digitalisierung ihr hässliches Gesicht. Wo mancher nur Arbeitserleichterung, Zeitersparnis und Modernität sieht, bemerken diejenigen, die wachsam für solche Trends sind, Überwachung, Kontrolle und Zwang. Wichtige Bausteine für eine Durchdigitalisierung aller Lebensbereiche, die den Bürger «gläsern» macht, sind digitale Identitäten, die Abschaffung des Bargelds und Smartphone-Zwang. Auch die Tendenz, im Unterricht zunehmend elektronische Endgeräte einzusetzen, gehört zum Gesamtbild. Denn so gewöhnt man Kinder und Jugendliche daran, dass Bildung digital zu sein hat. Gleichzeitig zieht man eine Generation heran, der es an sozialen Fähigkeiten mangelt. 

Der Journalist und Blogger Norbert Häring beschäftigt sich mit den Akteuren, die diese Strategie vorantreiben. Auf internationaler Ebene seien das vor allem die grossen Finanz- und IT-Konzerne: 

«Sie haben zusammen mit der US-Regierung die Better-Than-Cash-Alliance geschaffen, die weltweit das Bargeld zurückdrängen will. Unternehmensnahe Stiftungen aus demselben Bereich gründeten Initiativen wie ID2020. Dabei möchte man alle Erdenbürger mittels einer eindeutigen biometrisch-digitalen Identität automatisiert überwachbar machen.» 

Regierungen und Mainstream-Parteien setzen diese Strategie vor Ort um. Ein besonders unrühmliches Beispiel in Deutschland war der Digitalminister Volker Wissing. Er sprach offen aus: Man wolle den Menschen die analogen Wege abschneiden und sie so in die digitale Welt zwingen. «Die zielgerichtete Zurückdrängung des Bargelds etwa nötigt uns, digital zu bezahlen. So kann man speichern und auswerten, wie wir uns bewegen, was wir kaufen, lesen, hören und sehen», sagt Häring. Beim Smartphone-Zwang tun sich besonders die Deutsche Bahn und die Deutsche Post/DHL hervor. Das günstige Deutschlandticket kann man kaum ohne App nutzen. Bei DHL bekommt man teilweise seine Pakete ohne Smartphone nicht mehr ausgeliefert. «Smartphone-Zwang bedeutet: Zwang, sich überwachen zu lassen. Denn das Telefon sendet ständig Daten über uns an die Hersteller der Soft- und Hardware», so der Journalist. 

Magda von Garrel, Politologin und ehemalige Sonderschulpädagogin, sorgt sich angesichts der forcierten Digitalisierung des Bildungsbereiches um die Kinder und Jugendlichen: «Wir züchten uns digitale Trottel heran. Die jungen Menschen lernen nicht mehr, sich in andere einzufühlen, lange bei einer Sache zu bleiben.» Die Berlinerin warnt aber auch vor anderen Gefahren durch die Durchdigitalisierung des Lebens: «Wenn Hacker zum Beispiel in die elektronischen Steuersysteme eines Unternehmens der städtischen Wasserwirtschaft eindringen, können sie es erpressen: Entweder ihr zahlt eine hohe Summe – oder wir leiten eine giftige Substanz in eure Rohre ein.» Gerhard Fischer von der Bürgerinitiative GemeinWohlLobby fügt hinzu: «Digitalisierung setzt voraus: Die benötigte Energie muss vorhanden sein. Aber Stromausfälle zeigen, wie problematisch das ist.» Die GemeinWohlLobby, die unter anderem eine Verfassung für Deutschland mit Ideen aus dem Volk erarbeitet, unterstützt und verbreitet Petitionen zum Schutz des Bargelds.

Die drei Experten engagieren sich dagegen, dass der Mensch durchgängig überwachbar wird, und dafür, das Recht auf analoges Leben zu erhalten. «Ich will nicht, dass meine Kinder in einer Gesellschaft leben müssen, in der alle Bürger gläsern sind und keiner sich mehr trauen kann, den Mächtigen zu widersprechen», fasst Norbert Häring zusammen. Häring klärt deshalb nicht nur über die freiheitsfeindlichen Umtriebe von Organisationen und Politikern auf, sondern hat in Sachen Bargeld auch den Rechtsweg beschritten: «Ich sehe nicht ein, dass der Staat es ablehnt, das von ihm selbst herausgegebene gesetzliche Zahlungsmittel zur Zahlung anzunehmen.» Neben Rückschlägen verzeichnet Häring Erfolge: «Ich habe mit kritischen Beiträgen bekannt gemacht, dass die Bahn die Bahncard nur noch für die App anbieten wollte und Sparpreistickets nur noch gegen Angabe von Mobilnummer oder Mailadresse. Beides nahm sie zurück.»

Bei seinem Engagement für das Bargeld vernetzte sich Norbert Häring auch mit Hakon von Holst. Der 25-Jährige gehört zu der Generation, für die das Digitale so selbstverständlich ist, dass sie es oft zu unkritisch benutzt. «Ich habe in meinem Leben jedoch noch nie mit Karte oder Handy bezahlt», betont er. Für ihn ist Bargeld etwas Schätzenswertes. «Es lässt Jung und Alt teilhaben. Wir können damit selbstständig zu unserem Lebensunterhalt beitragen. Dafür brauchen wir keine Bank, kein digitales Gerät, kein Kartenterminal.» Von Holst schreibt regelmässig Artikel zum Thema. Ausserdem hat er mit Hansjörg Stützle die Plattform bargeldverbot.info aufgebaut und die Petition bargelderhalt.eu für den europaweiten Schutz des Bargelds initiiert. «Wir wollen so die Akzeptanz dieses Zahlungsmittels durch Unternehmen und Behörden und seine Verfügbarkeit gesetzlich verankern. In jeder Gemeinde sollte mindestens eine Bargeldquelle bestehen.» Derzeit arbeitet Hakon von Holst an einem Buch über Bargeld.

Magda von Garrel setzt bei ihrem Engagement für das Recht auf analoges Leben auf soziale Kontakte und eigene Vorbildwirkung. Sie bezahlt nicht mit Karte, kauft nicht online, vereinbart keine Termine online, betreibt kein Online-Banking. Sie telefoniert übers Festnetztelefon, hat kein Smartphone, orientiert sich mit gedruckten Stadtplänen, kauft Bücher in Papierform beim lokalen Buchhändler, regelt Behördenkontakte per Post oder persönlich. Ihr ist bewusst, dass sie in Berlin noch auf eine gute Infrastruktur zurückgreifen kann. «Aber man sollte trotz allem immer versuchen, die vorhandenen analogen Möglichkeiten zu nutzen. Sonst werden sie abgebaut mit dem Argument, dass sie keiner braucht.» In Gesprächen versucht sie geduldig, ihre Mitmenschen zum Nachdenken anzuregen. «Oft kommen dann die klassischen Gründe, warum man kritiklos den digitalen Weg wählt: bequem, zeitsparend, man hat ja nichts zu verbergen … Ich lege dann argumentative Samenkörner dagegen und hoffe, dass sie aufgehen.» 

Bei Hermann Conen und Henrik Mühlenbein brauchte es diese Samenkörner nicht. Die beiden Männer gründeten im Mai 2020 die Initiative «Digitalfreies Leben». Sie hat eine Petition vorbereitet, die das Recht auf digitalfreies Leben ins deutsche Grundgesetz schreiben will. «Wir suchen dafür einen Juristen, der uns unterstützt», berichtet Henrik Mühlenbein. Als Berufsschullehrer erlebt er, wie das digitale Lernen seine Schützlinge verbildet. «Viele starren während des Unterrichts abwechselnd auf drei Bildschirme: die digitale Tafel, das Tablet auf ihrem Tisch und das Handy unter der Bank.» Parallel setzen Conen und Mühlenbein auf Vernetzung mit Gleichgesinnten und waren dabei schon erfolgreich. Ähnlich wie Magda von Garrel es schildert, können auch «normale» Bürger mit ihrer Lebensweise dazu beitragen, dass die Tür des digitalen Gefängnisses offen bleibt. «Man muss aber bereit sein, auf ein gewisses Mass an Bequemlichkeit zu verzichten. Denn der Wunsch nach dieser ist der Hauptköder, der uns in die digitale Abhängigkeit führt», meint Norbert Häring. Er selbst besitzt zwar ein Smartphone, lässt es jedoch meist zuhause und nutzt es nur, wenn er es wirklich braucht. Häring rät ebenfalls dazu, konsequent bar zu zahlen, auch grössere Summen. «Das zeigt den Geschäften: Sie verlieren etwas, wenn sie kein Bargeld nehmen. Ausserdem werden so die digitalen Dossiers weniger vollständig, die überall über uns angelegt werden.»

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Beate Diederichs arbeitete 20 Jahre parallel als Lehrerin und Autorin. Seit 2021 kombiniert sie das Schreiben mit anderen Berufen.


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