Der Ungeist der Moderne
Alte Städte, Dörfer und Gebäude strahlen eine erhabene Schönheit und Beständigkeit aus, die in der entfesselten, beschleunigten Gesellschaft völlig zersetzt wurden. Wie konnte die Kunstfertigkeit und Strukturiertheit früherer Zeiten so schnell verloren gehen?
Als Bob Dylan 1964 mit dem Song «The Times They Are a-Changin´» an die Öffentlichkeit trat, traf er damit den Nerv der Zeit. Die 1960er-Jahre waren die Zeit des Aufbruchs, die Zeit, in der verkrustete Strukturen aufgeweicht und neue Freiheiten gewonnen werden sollten. Was sich in den Jahrzehnten zuvor angestaut hatte, löste sich nun fast explosiv. Dass Explosionen immer auch Zerstörungen nach sich ziehen, wurde dabei wohl kaum bedacht.
Alles verändert sich: der einzelne Mensch, die Gesellschaft, Städte und Dörfer, die Kontinente und auch das Klima. Die meisten Veränderungen lassen sich jedoch beeinflussen: Sie lassen sich beschleunigen oder hemmen, lassen sich in diese oder jene Richtung lenken. Das ist im Grossen die Aufgabe der Politik, im Kleinen der Auftrag des Einzelnen. Problematisch kann es jedoch werden, wenn den Veränderungen oder dem Wandel Vorstellungen und Ideologien zugrunde liegen. Wenn man das Mass des Gegebenen überschreitet.
Wie alles, hat auch der Wandel ein Gegenstück. Es sind dies die Beständigkeit und die Kontinuität. Sie geben dem Wandel Struktur, Mass und Ziel. Mehr noch: Aus der Beständigkeit und Kontinuität geht der eigentliche Wandel erst hervor. Nur was Bestand hat, kann sich angemessen wandeln. Andererseits kann ein entfesselter Wandel den Bestand aufzehren, er beginnt, eigengesetzlich geworden, das Bestehende zu verbrauchen.
Eine Gesellschaft, in der Beständigkeit und Kontinuität eine wesentliche Rolle spielen, orientiert sich entweder an den natürlichen Gegebenheiten oder an einem religiösen Motiv. Natürliche Gegebenheiten, die Bestand und Wandel verkörpern, finden sich in der Natur und auch im Universum zuhauf. So kreisen etwa die Planeten um die «unbewegte» Sonne, genauso wie die Elektronen um den Atomkern kreisen; ein Apfel besteht aus dem Kerngehäuse und dem das Gehäuse umgebenden Fruchtfleisch; bei einem Baum unterscheiden wir zwischen dem Stamm und dem raumergreifenden Geäst mitsamt dem Laub, während der Mensch und das höherentwickelte Tier sich durch Rumpf und Glieder auszeichnen. Dementsprechend ist das Königreich strukturiert. Der König stellt die in sich ruhende Mitte dar, um die das Volk «kreist». Das zeigt sich besonders deutlich beim Schachspiel, bei dem der König den geringsten Spielraum hat – er wirkt, ohne zu handeln. Im Gegensatz dazu stehen die «Offiziere» und die Bauern, die geradezu auf Bewegung angewiesen sind.
Auch die alten Städte, die wir wegen ihrer Ausstrahlung und Schönheit bewundern, sind nach diesem Prinzip strukturiert. Marktplatz, Kirche und Rathaus stellen die unbewegte Mitte dar, von der die Wege und Strassen mit den diversen Wohngebäuden ausgehen. Hervorgegangen ist die Stadt aus der wehrhaften, unbewegten Burg, um die sich nach und nach ein lebendiger und bewegter Markt bildete.
Der entfesselte Wandel
Mit dem Beginn der Neuzeit, im Besonderen aber durch die Französische Revolution und die Aufklärung, verschieben sich die Gleichgewichte. Der König hat real, vor allem aber im übertragenen Sinn, abzutreten oder wird abgesetzt, wodurch die in sich ruhende Mitte verwaist. Die Bewegung oder der Wandel nehmen überhand. Die gesteigerte Bewegung ist die Beschleunigung, und so beschleunigen sich allmählich sämtliche Lebensbereiche. Problematisch dabei ist, dass eine Struktur, der die Mitte fehlt, letztlich weder Mass noch Ziel und auch keine Richtung hat.
Die Burg, um die herum sich die Märkte bildeten, ist mittlerweile zur Ruine geworden, während sich die Märkte selbst entfesselt haben und alles zu beherrschen beginnen. Konsum und Fortschritt heissen die Schlagwörter. Die Organismen, die bisher aus Rumpf und Gliedern bestanden, haben sich auf die Glieder reduziert – Strassen bestimmen das Bild der Stadt und namenlose, nicht voneinander zu unterscheidende Wohneinheiten. Unsere Städte und Dörfer haben kein Haupt und kein Herz mehr, sie sind zu organisierten Zellklumpen geworden.
Die Entfesselung bewirkt letztlich, dass sich die Dinge – und dies besonders seit den 1960er-Jahren – aufzulösen beginnen. Das betrifft sämtliche gewachsenen Strukturen: die Familie, die Sprache, die Traditionen – Gemälde werden abstrakt, die Musik atonal, die Geschlechter undefinierbar, die Landschaft wird zum zersiedelten Gebiet.
Dörfer und Städte
Eng verbunden mit der Entfesselung und der Beschleunigung ist das Aufkommen der Industrialisierung. Es müssen immer mehr Produkte in immer kürzerer Zeit produziert werden. Dass die Produkte dadurch vereinheitlicht werden, liegt auf der Hand. Zudem muss alles, was über den reinen Nutzen hinausgeht, eliminiert werden.
Für die Stadt bedeutet dies, dass technisch hergeleitete Konzepte und Planungen in das Gewachsene einzugreifen beginnen. Eindrückliche Beispiele dafür liefern die schachbrettartigen Strassenmuster von La-Chaux-de-Fonds (1841) oder New York (1811). Dazu kommt, dass die alten Strukturen, die auf eine Mitte hin ausgerichtet waren, dem neuen «Geist» zuwiderlaufen. In Deutschland etwa wurde nach 1945 mehr historische Bausubstanz zerstört als während des Krieges.
In einer Stadt, die nur noch aus Gliedern besteht, die wahllos ins Nichts hinauslaufen und beliebig erweitert werden können, findet man sich ohne technische Hilfsmittel auch nicht mehr zurecht. Ohne Navi würde kaum noch jemand sein Ziel erreichen.
Das Argument, dass mit dem «Fortschritt» dem weltweiten Bevölkerungswachstum Rechnung getragen werden müsse, wirkt dabei fast zynisch. Auch das Bevölkerungswachstum und die Migration sind Folgen der allgemeinen Entfesselung und Beschleunigung.
Die Auflösung der Zeitlosigkeit
Fast etwas irritiert blickt man bisweilen auf die alten Gebäude: auf romanische oder gotische Kirchen, auf die Bürgerhäuser der Renaissance und des Barock.
Wie war das möglich?, fragt man sich angesichts der Erhabenheit und Kunstfertigkeit, die bei diesen Bauten in praktisch jedem Detail deutlich werden – angesichts der Zeitlosigkeit und Gültigkeit, die diese Häuser ausstrahlen. Es war deshalb möglich, weil der Wandel aus der Beständigkeit hervorging, weil die Dinge wie von einem in der Mitte sich befindenden Magneten gehalten wurden. Das beginnt bei den Handwerksberufen, indem der Gipser Stuckateur, der Maler Kunstmaler, der Maurer Bildhauer und der Schreiner Holzbildhauer waren. Sie alle schufen Originale, die aufgrund der Kunstfertigkeit des jeweiligen Handwerkers und nicht mittels Maschinen und einem genormten und zertifizierten Arbeitsablauf entstanden.
Mit der Industrialisierung haben sich die Dinge in ihr Gegenteil verkehrt. Die Arbeitskraft wurde teurer, das Material billiger. Deshalb musste mit allen Mitteln versucht werden, die Arbeitskraft gering zu halten oder sie auszulagern. Die Automatisierung geht auf diesen Umstand zurück, ebenso die Digitalisierung, die entgegen der analogen Denkweise, die in kontinuierlichen, stetigen Schritten abläuft, die Einzelschritte auflöst – und in vorläufig letzter Konsequenz auch die künstliche Intelligenz.
Der verlorene Sohn
Was müsste getan werden, damit wieder Grosses, Erhabenes entsteht, und zwar nicht nur im Einzelfall, sondern im Sinne eines allgemeinen Ausdrucks? Ansatzpunkte gibt es viele: Masshalten, die Bildung kleinräumiger Strukturen, griffige Verordnungen, die die Nachhaltigkeit fördern usw. Manche dieser Massnahmen gleichen jedoch Lippenbekenntnissen, denn es kann nicht darum gehen, den vorhandenen Zustand durch den Austausch der Mittel aufrechtzuerhalten. Was Not tut, ist zunächst das Eingeständnis, dass man sich verrannt hat. Dass wir, entsprechend dem verlorenen Sohn, unser Erbe verschwendet haben. Am tiefsten Punkt angelangt, folgt die Umkehr, bei der mit jedem Schritt die Gewissheit wachsen dürfte, dass die ewig gültigen, auf Beständigkeit beruhenden Strukturen im Verborgenen nach wie vor vorhanden sind. Wir haben zwar die Oberfläche gründlich umgekrempelt und beginnen mittlerweile auch in die Substanz einzugreifen. Aber die letzten Dinge sind unangreifbar. Aus ihnen bilden sich die Strukturen des Lebens immer wieder neu; aus ihnen geht der wirkliche Wandel erst hervor.
Das Pendel wird zurückschwingen – die Zeiten ändern sich. ♦
von Volker Mohr
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