Der digitalisierte Unterricht und seine blinden Flecken
Ein KI-Lerncoach beim Selbstlernen, Texte schreiben mit ChatGPT, Lernbegleitung mit Mega-Prompts, die Kunde von Wiesenblumen via YouTube und der Roboter als Klassenassistent. Wenn das die Schule der Zukunft ist, bin ich gerne von gestern.
Seit 2020 und mit der global orchestrierten Gesundheitskrise hat sich der Unterricht massiv verändert. Während vorher IPads und Computer in Volksschulen spärlich eingesetzt wurden, sind sie heute nicht mehr wegzudenken. Vor zehn Jahren sah ich selten ein Schulkind an einem Bildschirm sitzen. Der Computer wurde höchstens für die Internetrecherche, zur Erstellung eines Word-Dokuments oder einer PowerPoint-Präsentation benutzt. Heute werden Vorträge praktisch nur noch am IPad vorbereitet und via PowerPoint präsentiert. Englisch-Vocabularyübungen, Blitzrechnen, Buchstabenlernen auf der Anton-App, Leseverständnis auf Antolin, ein Walddossier auf Bookcreator und Geschichten schreiben mit ChatGPT. Das alles ist heute so üblich wie die Arbeit mit Stift und Papier.
Wie der digitale Komplex den Kurs in unseren Schulen bestimmt
Eine Schule der Zukunft heisst für die heutigen Volksschulen vor allem, die Medienkompetenzen der Lernenden zu fördern. Die Schulung ihrer kommunikativen, sozialen und eigenverantwortlichen Kompetenzen wird zur Randerscheinung. Dabei spielen diese Fähigkeiten in jeder Zukunft eine wichtige Rolle. Auch praktisches, logisches und kritisches Denken werden neben dem Gebrauch von Chatbots, KI-Tools und Social-Media-Kanälen zur Nebensache. Lebensbereiche, die vorher schon kaum Beachtung im Unterricht fanden, Beziehungsfähigkeit, Selbstfürsorge, die Begegnung mit der Natur, all dies wird vom technokratischen Hype erst recht überschattet. Schulen wetteifern geradezu um die modernste IT-Ausstattung, statt sich mehr um die körperliche und psychische Gesundheit der jungen Lernenden zu bemühen. Dabei zeigen immer mehr Studien, wie hinderlich die häufige Nutzung von Medien für junge Menschen sein kann. Konzentrationsfähigkeit, Ausdauer, Aufnahmefähigkeit, das Speichern und Verarbeiten neuer Informationen, Rechtschreibung, Wortschatz, Gesprächsführung, Empathiefähigkeit, Selbstbewusstsein, das Erkennen grösserer Zusammenhänge – all dies fällt dem Diktat von Tech-Firmen aus dem Silicon Valley zwecks Milliardengewinnen zum Opfer.
Kognitive … was?!
«Wir laufen Gefahr, diese wesentlichen Fähigkeiten zu verlieren, die ich als Empfänglichkeit bezeichne. Es geht um die Fähigkeit, ein gutes Urteilsvermögen zu haben und Menschen zu verstehen», so der Organisationspsychologe Richard Davis, der beklagt, dass den Menschen die kognitiven und sozialen Fähigkeiten abhandenkommen, die sie für ein erfolgreiches Privat- und Berufsleben brauchen. Kinder und Jugendliche lernen sich so sehr auf ihre Handys zu verlassen, dass sie zunehmend nicht mehr in der Lage sind, eigenständige Entscheidungen zu treffen. Dies sei eine kognitive Fähigkeit, die man tatsächlich täglich trainieren müsse, um sie nicht zu verlieren, so Richard Davis.
Ein Beispiel, das auch für viele von uns Erwachsenen gilt: Wenn das Smartphone ausfällt, während wir an einen unbekannten Ort wollen, verirren wir uns leichter, als wenn wir uns den Weg zum Ort gemerkt hätten.
Wir tragen als Schule zur Abhängigkeit bei, indem wir den Gebrauch dieser Technologien so stark fördern. Dabei hätten wir die Verantwortung, die Kinder und Jugendlichen vor den Auswüchsen des digitalen Medienkonsums zu bewahren. Spätestens jetzt, da Forschungen und Studien aus aller Welt die Schäden für das Lernen, die kognitiven und sozialen Fähigkeiten so deutlich aufzeigen.
Forscherinnen und Forscher der Universität Paderborn berichteten 2023 nach Konzentrationstests im Fachblatt Scientific Reports, dass schon die Anwesenheit eines Smartphones die Aufmerksamkeitsleistung verringert. Zudem habe das Handy einen negativen Einfluss auf die Arbeitsgeschwindigkeit und die kognitive Leistungsfähigkeit.
Kinder vor Suchtmitteln schützen, aber nicht vor jedem
In der Diskussion um den Einsatz digitaler Medien an Schulen geht es viel zu wenig um den Schutz der Kinder und Jugendlichen. Es wird fast immer das Totschlagargument angeführt, den jungen Menschen den richtigen Umgang mit digitalen Medien zu lehren. Das sei schliesslich die Zukunft. Die Frage, ob diese Zukunft für uns alle gesund ist, wird gar nicht gestellt. Und was für einen richtigen Umgang sollen denn die Kinder lernen, wenn sie auch noch in der Schule immer öfter vor Bildschirmen sitzen?
Es ist durchaus sinnvoll, wenn Schüler sich mit Programmen wie Word, Excel, PowerPoint und Co. auskennen und sie für die Arbeit nutzen. Wenn Schülerinnen Suchmaschinen kennenlernen und Übungen via Apps machen, mag das – massvoll eingesetzt – geeignet sein. Doch diese nützlichen Apps und Programme werden in der Freizeit, oder wenn die Kinder wählen können, kaum benutzt. Stattdessen swipen sie sich ohne Ende durch Reels, schicken Memes hin und her, gamen Minecraft und Fortnite, schauen sich YouTube-Schminktipps von Influencerinnen an, lesen sich durch die Posts von Taylor Swift, schauen Pornos und chatten miteinander in einem Sprachstil, bei dem einem die Haare zu Berge stehen.
Selfie me, selfie you
Studien häufen sich, die aufzeigen, wie schädlich der Konsum von sozialen Medien ist. Depressionen, Angststörungen und Suizidraten sind seit 2010 rapide gestiegen – seit jenem Jahr, in dem die Frontkamera der Smartphones den Boom der Selfies ermöglichte. Seither konkurrieren junge Menschen und Erwachsene in den sozialen Medien mit ihren Posts darum, wer das abenteuerlichere und glanzvollere Leben führt. Der Druck, diesen Vorlagen nachzukommen, die Angst, etwas zu verpassen, das Vergleichen, der Neid und das Gefühl der Einsamkeit in einer Welt voller unvertrauter Facebook-Freunde wirkt sich auf die psychische Gesundheit von jungen Menschen aus. Psychische Störungen unter immer jüngeren Menschen sind die Folge. In weniger schlimmen Ausprägungen macht der häufige Gebrauch digitaler Medien Kinder und Jugendliche träge, denkfaul, abhängig und depressiv.
Risiken und Nebenwirkungen digitaler Medien
Wenn auch noch in der Schule die digitalen Medien dominieren und musische Fächer, das Lernen in der Natur, Spiritualität und Themen wie gesunde Lebensführung, Selbstfürsorge und Kommunikation zunehmend verdrängt werden, versagt man den Kindern wichtige Werkzeuge für eine gesunde Lebensgestaltung fernab der virtuellen Welt.
Der Neurowissenschaftler Manfred Spitzer verweist diesbezüglich auf die internationale evidenzbasierte medizinische Fachliteratur zu den Auswirkungen des Umgangs von Kindern mit digitalen Bildschirmmedien: «Die mit Bildschirmen im Kindesalter verbrachte Zeit, das heisst das Ausmass der Bildschirmzeit in Stunden pro Tag, steht in einem negativen Zusammenhang mit der Gehirnentwicklung sowie der Entwicklung der kognitiven und psychosozialen Fähigkeiten. Die Bildschirmzeit wirkt sich – wie experimentelle Studien und Längsschnittstudien zeigen – auch negativ auf die körperliche und seelische Gesundheit aus.» Auch der Sozialpsychologe Jonathan Haidt hat eine besorgniserregende Datenauswertung vorgelegt und ruft dazu auf, «die Gehirne unserer Kinder vor irreversiblen Schäden» zu bewahren.
Wo ist der Mehrwert?
Ich stosse mich schon länger am Druck auf uns Lehrpersonen, möglichst oft verschiedene Medien, neue Apps und KI im Unterricht einzubauen. Wenn ich die Schüler und Schülerinnen bitte, für ihre Vortragsrecherche auf Bücher zurückzugreifen, handschriftliche Notizen und Zusammenfassungen zu machen, statt auf dem IPad einzutippen, und ihr Thema ohne PowerPoint-Präsentation (PPT) vorzustellen, geht ein genervtes Raunen durchs Klassenzimmer. Das Lesen mehrerer Buchseiten oder ausgedruckter Textseiten ist mühsamer, als die knappen Google-Antworten zu kopieren und in die PPT einzufügen. Informationen rauszuschreiben ist anstrengender, als einen Text zu kopieren und auszudrucken. Bilder mit Leimstift auf ein selbst gestaltetes Plakat kleben dauert länger, als ein paar Bilder in eine Folie einzufügen. Wenn kaum noch Eigenleistungen der Kinder erforderlich sind, die über das Überfliegen von Website-Texten und das Kopieren und Einfügen von zusammenhangslosen Textfragmenten hinausgehen, dann nimmt man ihnen die wichtigen Lernschritte und Denkprozesse, die das vertiefte Lesen (auf Papier), das Markieren (auf Papier) und handschriftliche Zusammenfassen des Gelesenen (auf Papier) bringen. Recherchieren bedeutet für die Schüler heute, isolierte Fragen bei Google einzugeben. Das Resultat ist bruchstückhaftes Wissen. Denn ausserhalb der Fragen, auf die Kinder aufgrund ihres begrenzten Vorwissens Antworten suchen, entsteht wenig neues Wissen und ein vertieftes Verständnis zu einem Thema. Auf viele Themenbereiche stossen sie erst gar nicht, wenn sie nicht einen längeren, ausführlichen Text auf einer für Kinder geeigneten und wissenschaftlich fundierten Internetseite durchlesen. Durch dieses oberflächliche Fastfood-Lernen werden Kinder zunehmend bequemer.
Zerstückeltes Wissen
Durch das Smartphone sind Informationen und Texte für junge Leute ständig verfügbar. Doch das sind geschriebene Worte in Fragmenten in Verbindung mit Bildern. Währenddessen ergab eine Umfrage der Journalistin Rose Horowitch unter 33 Professoren führender US-Universitäten, dass Studierende zunehmend nicht mehr fähig seien, ganze Bücher zu lesen. Als Reaktion darauf werden in den Lehrveranstaltungen die Anforderungen an die Lektüre gesenkt und Auszüge aus dem Buch gelehrt. Die Studierenden werden zwar schwächer, aber sie bringen den Universitäten weiterhin Einnahmen. Das Online-Magazin Unherd meint dazu: «Einen Roman anhand eines Auszugs zu studieren, ist wie der Versuch, ein Gemälde anhand eines Puzzleteils zu verstehen.»
Valium für die breite Masse
Und so gehen heute nicht wenige Kinder und Jugendliche durch ihr Leben, mit einer Scheibe vor der Nase, dem Tor zur Welt – aber mit immer weniger Verständnis von der realen Welt um sie herum. Von zwischenmenschlichen Beziehungen, Einfühlungsvermögen und dem grossen Ganzen. Wertvolle Eigenschaften wie Kreativität und Einfallsreichtum gehen verloren. Die Obrigkeiten dieser neuen schönen Welt freuts. Denn von jungen Menschen, die einen Grossteil ihrer Schul- und Freizeit vor Bildschirmen verbringen, dauerberieselt von oftmals willkürlichen, stupiden Inhalten, von ihnen sind keine kritischen Blicke auf Politiker, die Machenschaften von Grosskonzernen und die subtile Manipulation gewisser Leitmedien zu befürchten und schon gar keine Aufstände zu erwarten.
Schweden als Vorreiter?
Während in der Schweiz noch das Fortschritts-Credo gilt, den digitalen Medien mehr Raum zu geben, findet in Schweden, dem ehemaligen Digitalpionier, ein Umdenken statt. Dort mahnt seit 2023 sogar die Regierung vor dem Rückgang der Lernkompetenzen wegen des breiten Einsatzes von Digitalmedien und fordert die Lehrpersonen dazu auf, zu Stift, Papier und Büchern zurückzukehren. Dabei empfahl die Schulbehörde in Schweden noch 2018 in einer nationalen Richtlinie, digitale Lehrmittel wie Laptops oder Apps einzusetzen. Grundschüler wurden über Jahre fast ausschliesslich digital unterrichtet. Das führte dazu, dass die Lesegeschwindigkeit, der Wortschatz und das Leseverständnis bei den Schülern zurückgegangen sei. Zudem seien viele Schüler durch soziale Medien wie TikTok vom Unterricht abgelenkt gewesen. In Klassen mit kleineren Kindern werden digitale Medien gänzlich weggelassen. Denn nach den Erkenntnissen der Hirnforschung sollen jüngere Kinder überhaupt nicht mit Bildschirmen in Berührung kommen.
Richtungswechsel
Ich würde mir diesen Mut von unseren Bildungspolitikern und schulischen Entscheidungsträgern wünschen. Fortschritt heisst manchmal innehalten. Entwicklungen differenziert zu beobachten. Studien, die auf defizitäre Auswirkungen eines allzu digitalisierten Unterrichts hinweisen, ernst zu nehmen. Den eingeschlagenen Weg zu korrigieren. Ein Richtungswechsel wird zur Pflicht, wenn die gesunde geistige und psychische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen gefährdet ist. Wir können aus den Erfahrungen lernen, die andere Länder in diesem Bereich gemacht haben. Von der positiven Bilanz, die Schüler und Lehrerinnen ziehen in Schulen wie in Köniz im Kanton Bern, die bereits einen Kurswechsel vorgenommen haben. Digitale Medien und Online-Tools sollen ihren Platz haben, ein sinnvoller Umgang soll gelernt werden. Daneben sollte jedoch die Herausbildung menschlicher Fähigkeiten wie eigenständiges Denken, Mitgefühl und Erfindergeist ebenso hochgehalten und gefördert werden.
Es wäre bedauerlich, wenn Kinder immer weniger im Kopf haben, weil sie das Denken den Maschinen überlassen. Das Haptische, das menschlichen Händen vorbehalten ist, Sinneserfahrungen und ein intuitives Gespür für zwischenmenschliche Vorgänge – dies alles kann das Digitale nicht ersetzen. Es ist die Aufgabe der Eltern und Schulen, darauf zu achten, dass diese Dinge nicht verloren gehen.
von Alma Pfeifer
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Alma Pfeifer ist Lehrerin und Mutter zweier Kinder. Daneben arbeitet die ausgebildete Paar- und Familienberaterin als freischaffende Journalistin und Autorin für verschiedene Zeitschriften.
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