
Alles fühlt – das Mikrobiom und die Lebendigkeit der Erde
Es gibt Themen, die einem begegnen, die packen und nicht mehr loslassen. So erging es mir mit der Frage: Was macht die Lebendigkeit der Erde aus? Ich spürte schon immer, dass sie ein lebendiger Organismus ist. Doch wie dieser Organismus wirklich lebt und Leben hervorbringt, davon hatte ich kaum eine Vorstellung.
Es gibt auch Menschen, die uns begegnen und nachhaltig in unser Leben wirken. So geschah es mir vor drei Jahren in der Oase Sekem, als ich Frau Professor Gabriele Berg kennenlernte. Während eines gemeinsamen Nachtessens erfuhr ich, dass sie seit 30 Jahren am Mikrobiom arbeitet. Bis dahin hatte ich nur eine vage Vorstellung davon, was damit gemeint sein könnte. So verabredeten wir uns für ein längeres Gespräch.
«Auf einem Kaffeelöffel Humus befinden sich fünf bis acht Milliarden Wesen», erklärte sie. Das schien mir schier unglaublich. Als Frau Berg mir erklärte, dass die Erde drei Viertel ihrer Entwicklungszeit benötigt hatte, um die Einzeller hervorzubringen – die Algen, die Pilze, die Bakterien und Viren – und dass erst danach die Entwicklung der Pflanzen, Tiere und Menschen erfolgt sei, war ich elektrisiert.
Wir sassen in einem wunderschönen Zimmer, von dem man auf die inzwischen hohen Bäume sah, die Helmy Abouleish und sein Vater Ibrahim zusammen mit vielen Helfern vor Jahren mitten in der Wüste angepflanzt hatten. Ich wollte von Frau Berg wissen, wie sie auf das Thema gestossen ist und was sie motivierte, ihre Forschung den Einzellern zu widmen.
«Die Zerstörung des Mikrobioms ist ebenso ein Thema wie die Entdeckung seiner Bedeutung», erklärte sie mir. Vor 30 Jahren wurde Gabriele Berg an die Technische Universität in Graz berufen, mit dem Auftrag, das sogenannte Mikrobiom der Erde zu erforschen. Da sie eine sehr hoffnungsvolle Absolventin war, schauten die anderen sie etwas komisch an und fragten sie, ob sie nicht vielleicht etwas Interessanteres und Wichtiges anpacken wolle. Doch Gabriele Berg begann hartnäckig und akribisch, diese Wesen zu erforschen, die in Symbiose miteinander die Grundlage der Lebendigkeit der Erde und durch die Nahrung die Basis der Gesundheit aller lebenden Organismen darstellen. Es schien, dass dies nur möglich war, indem man diese Organismen in einem Labor mikroskopisch untersuchte. So baute das Team um Frau Berg im Laufe der Zeit das wohl beste Labor Europas zur Forschung von Mikroorganismen auf.
Der Kreislauf des Lebens
Ich fragte sie, ob sie mir ein einfaches Beispiel geben könne, das auch für Nichtakademiker schnell verständlich mache, welche Funktion diese Lebewesen erfüllen – Lebewesen, auf die viele Menschen oft nur mit Angst und Ekel reagieren: Viren, Schimmelpilze, Bakterien, die Lungenentzündungen verursachen können und deshalb mit Antibiotika bekämpft werden müssen … Frau Berg lachte und erzählte mir, sie hätte gerade eine grössere Arbeit in einer Fachzeitschrift abgeschlossen, in der sie die Forschung von sieben Jahren darlegt, wie durch die Bakterien, Viren, Algen und Pilze an der Wurzel eines Apfelbaumes ein Apfel entsteht. Diese Symbiose, in der die kleinen Wesen die nötigen Nähr- und Mineralstoffe vom Magnesium bis zum Kalzium und unzählige weitere Grundstoffe bereitstellen, ist entscheidend dafür, dass der Baum gedeihen kann und schliesslich den Apfel hervorbringt.
Der Apfel enthält dieselben Mikroben wie die Wurzeln. Die Belohnung für die Arbeit der Mikroorganismen besteht darin, dass der Baum mit seinem Chlorophyll und durch Photosynthese eine Art Zuckerwasser an die Wurzel leitet. Am Abend, wenn es etwas ruhiger wird, feiern die kleinen Wesen vielleicht eine Zuckerwasserparty, stellte ich mir vor. Wenn der Mensch nun diesen Apfel isst, nimmt er alle diese Mikroben mit auf. Im Magen, vor allem aber im Darmtrakt des Menschen, breiten sich die gleichen Mikroben aus, die sich oben im Apfel und unten in den Wurzeln befanden. Diese Mikroben sind die Voraussetzung dafür, dass der nächste Apfel verdaut werden kann und der Mensch sein Immunsystem aufbaut.
Dabei kommen unzählige dieser Wesen in eine sogenannte Homöostase, also in ein Gleichgewicht der Kräfte, welches die Grundlage für gute Gesundheit ist. Mir wurde nun klar, dass der Kreislauf von der Wurzel über den Apfel zum Menschen und zurück, in dem der Mensch eine göttliche Verdauung und einen gesunden Stuhlgang erlebt, nicht nur die Bodenfruchtbarkeit, sondern auch die Gesundheit des Menschen beinhaltet.
Frau Berg zeigte mir weiter auf, wie die Bakterien durch den Vagusnerv ins Gehirn gelangen. Obwohl man lange Zeit dachte, dass Bakterien keinen Einfluss auf das Gehirn haben, wurde nach längerer Forschung erkannt, dass die geistig-mentale genauso wie die seelische Gesundheit eng mit dem Mikrobiom zusammenhängt: Geistige und seelische Krankheiten werden oft durch ein zu wenig reichhaltiges und ausgeglichenes Biom begleitet oder verursacht – je nach Blickwinkel.
Hier machte Frau Berg einen Schritt hinaus aus der objektiven, rein wissenschaftlich beschreibenden Perspektive hin zum Wunder der Homöostase. Die Vorstellung, dass der Körper des Menschen ein Schlachtfeld ist, auf dem Mikroben gegen die weissen Blutkörperchen kämpfen, stellte sie entschieden infrage, da das Mikrobiom vom Wesen her nicht auf Krieg ausgerichtet, sondern stets bestrebt ist, einen harmonischen Ausgleich zu schaffen.
Das führte mich zur Frage: Wer regelt das Zusammenspiel dieser Milliarden von kooperierenden Wesen? Und ist das eine ähnliche Frage wie diejenige nach dem Verhalten der Bienen? Wie kommt es, dass sie sich zu einem gemeinsam arbeitenden und überlebensfähigen Volk entwickelten? Frau Berg meinte dazu, dies resultiere aus einer nicht erklärbaren Symbiose all dieser Einzelwesen, die gemeinsam ein grosses Wesen bilden, das man als Mikrobiom oder als Bienenvolk bezeichne. Und: Ohne eine holistische Sicht sei es unmöglich, diese Fragen zu beantworten. Als Wissenschaftlerin müsse sie aber bei den beschreibbaren Tatsachen bleiben und überlasse die Interpretation oder auch Spekulation den Philosophen, Theologen – oder eben jedem denkenden und fühlenden Menschen.
***
Linard Bardill ist Liedermacher, Autor und Geschichtenerzähler und zählt zu den erfolgreichsten Persönlichkeiten der Schweizer Kleinkunst- und Kindermusikszene. Er steht seit fast 40 Jahren auf der Bühne, in dieser Zeit sind über 100 Musikalben, Theaterstücke, Bühnenprogramme, Gedichtbände, Romane oder Kinderbücher entstanden. Er engagiert sich im World Ethic Forum, einem Versuchslabor, das eine Kultur der radikal geteilten Lebendigkeit verwirklichen will.
bardill.ch
worldethicforum.com
Hat dir der Artikel gefallen? Dann bestelle jetzt ein Abo in unserem Shop.
Deine Meinung ist uns wichtig: Teile dich mit und diskutiere im Chat mit unseren Lesern.