«Europa ist verrückt geworden»

Ägypten ist trotz hoher Inflation und teilweise enormer Armut eines der sichersten Länder. Die Menschen sind trotz allem gastfreundlich und liebenswürdig und legen eine bewundernswerte Gelassenheit an den Tag. Über die «Luxussorgen» in Europa müssen sie schmunzeln.

«Ihr habt ja Probleme in Europa», äussert sich Mohamed in einem Coffeeshop im ägyptischen Küstenort Dahab im Süd-Sinai schelmisch und zieht genüsslich an seiner Wasserpfeife. Soeben hat er davon erfahren, dass in der Schweiz Frauen an immer mehr Orten kostenlos Hygieneartikel erhalten und somit die Eigenverantwortung dem Staat überlassen. Eine andere Welt.

Ägypten hat in der Tat andere Probleme als derartige «Luxussorgen». Das bedeutendste arabische Land, welches mehrheitlich aus Wüste besteht, beherbergt mittlerweile rund 100 Millionen Menschen, welche sich vor allem in den Grossstädten an der Lebensader Nil, dem längsten Strom der Welt, drängen – kombiniert mit einer teilweise enormen Armut. Aber die Menschen sind allem Unbill zum Trotz ausgesprochen liebenswürdig und gastfreundlich – und das unfassbar geschichtsreiche Land trotz hoher Inflation einer der sichersten Orte weltweit.

Erfrischende Gelassenheit

Unlängst verlor die Landeswährung, das Ägyptische Pfund, gegenüber der Leitwährung (US-Dollar) von einem Tag auf den anderen fast 50 Prozent an Wert, und der Trend hält weiter an. Das sorgt für existenzielle Sorgen und Ängste und die Volksseele kocht. Und trotzdem legen die Ägypter selbst in diesen Tagen eine erstaunliche, bewundernswerte Gelassenheit an den Tag. Das Lebensmotto «el hamdolelah» ist und bleibt zentral. Es bedeutet «Danke Gott für alles, es könnte viel schlimmer sein.»

In diesem Sinne bewältigten die Ägypterinnen und Ägypter auch die vor allem in Europa grassierende Corona-Hysterie. Etliche liessen sich eine oder mehrere Impfungen verabreichen (oder hatten berufstechnisch keine andere Wahl), viele andere sind und bleiben aus einer tiefen Überzeugung ungeimpft – und gesund und fröhlich. Während in Europa die Schotten dichtgemacht wurden, stiegen in Ägypten im Herbst 2020 wunderbare Wüsten- und Strandparties bei tropischen Temperaturen. «Europa ist verrückt geworden, da machen wir nicht mit. Viele hier trauen diesem Hype nicht.» Das ist in Ägypten seit Herbst 2020 vielerorts zu hören.

Aber woher kommt diese Gelassenheit, dieser gesunde Menschenverstand in einem Land, in welchem der Staat wohlverstanden alles andere als zimperlich ist, wenn es darum geht, Massnahmen durchzusetzen? Sehr vieles hat seinen Ursprung im Sozialleben, das für den Durchschnittseuropäer weder vorstellbar, noch greifbar ist.

Erlebnis Coffeeshop

Im Coffeeshop trifft man sich, da wird diskutiert, gestritten, gelacht, gespielt und natürlich viel geraucht und getrunken (kein Alkohol). Gerade während der Fussball-WM, welche Katar zugegebenermassen beeindruckend und phantastisch ausgerichtet hat (trotz des hartnäckigen, diametral anders lautenden Narrativs fast des gesamten Westens), machten die Coffeeshops feine Umsätze, welche in diesen wirtschaftlich schweren Zeiten zweifellos hoch willkommen sind. Vor drei oder vier TV-Geräten unter freiem Himmel versammelten sich zeitweise gegen 200 Menschen, jung und alt, Beduinen und Ägypter (alles Araber), Ausländer, Niedergelassene und Einheimische – und konnten so die Alltagssorgen etwas vergessen.

Für umgerechnet fünf Schweizer Franken kann man zum Beispiel in Dahab einen ganzen Abend bei Tee, Wasser und Wasserpfeife verbringen, für wenige Franken mehr gibt es auch noch Glacé oder frische Fruchtsäfte dazu. Diesen Lebensstil muss man erlebt – und auch gerochen haben!

In der Familie und an Orten wie den Coffeeshops schöpfen die Ägypter Kraft und Zuversicht, auch wenn die Perspektiven schon besser waren. Hier ein feiner Witz, dort der neuste Klatsch, eine herzliche Umarmung oder ein «Chawäga» (Ausländer), der Schokolade verteilt – das alles hat mehr Bedeutung als der reine Mammon. Dass aber dabei auch das Geschäft nicht zu kurz kommt und sich die lokalen Handwerker, welche sich mitunter im Coffeeshop treffen, gegenseitig berücksichtigen, versteht sich von selbst.

Inflation bereitet Sorgen

Wegen der massiven Inflation (gegen 50 Prozent) ist das Leben zuletzt sehr rasch deutlich teurer und komplizierter geworden. Tauschhandel und Gegengeschäfte, aber auch der Schwarzmarkt blühen – gut für wenige, ungünstig für die meisten, aber kaum vermeidbar. Die Preise für viele Güter und Lebensmittel des täglichen Bedarfs sind empfindlich gestiegen, die Löhne blieben (natürlich) gleich tief wie zuvor, womit die Kaufkraft weiter abgenommen hat. Zahlreiche Familien wissen kaum mehr, wie sie sich ernähren sollen.

Ein durchschnittlicher Monatslohn beträgt zwischen 3000 und 4000 Ägyptischen Pfund, umgerechnet maximal knapp 200 Franken. Damit lassen sich selbst die minimalsten Lebenskosten nur mit allergrösster Mühe decken – oft helfen Ersparnisse, Gold (das in Ägypten eine enorme Bedeutung hat), Familie oder Freunde – und eben der Zusammenhalt, welcher dieser Tage noch bedeutender geworden ist.

Gleichzeitig nimmt die Einflussnahme des Staates spürbar zu, sei es in Form von neuen Gesetzen, Vorschriften und Gebühren, oder durch teilweise mühsame Kontrollen. Doch auch dies lassen die Ägypter mit stoischer Ruhe über sich ergehen. Selbst als Ahmed unlängst zu einer skurrilen Busse von rund 15 Franken verurteilt wurde wegen Nichttragens der Sicherheitsgurte auf dem Motorrad (!!!), reagierte er mit Achselzucken und einem breiten Grinsen – und den Worten «das ist Egypt, el hamdolelah». ♦

von Meinrad Stöcklin

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Meinrad Stöcklin (56) ist seit 1988 im Journalismus tätig und arbeitete bis zum Jahre 2000 als Redaktor bei Radio Raurach sowie acht Jahre bei der Basellandschaftlichen Zeitung. Anschliessend erlangte er als Polizeisprecher des Kantons BL nationale Bekanntheit. Seit 2017 wirkt Meinrad Stöcklin selbständig und vielfältig im Journalismus, in der Kommunikation und im Sport. Er weilt seit über 20 Jahren regelmässig in Ägypten.


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