Skip to main content

Vertrauen und ich

Plötzlich ist es sehr laut. Kalte Luft dringt herein. Der Geruch von verbranntem Kerosin. Die Stimmung ändert sich schlagartig, wenn auf viertausend Metern über Grund die Flugzeugtür aufgeht. Am deutlichsten bei den Tandem-Passagieren, die diese Situation zum ersten Mal erleben und jetzt realisieren: gleich ist es soweit. Die erfahrenen Springer, die gerade noch herumgeblödelt haben, konzentrieren sich auf den geplanten Exit. Letzte Kontrollen, um den festen Sitz der Griffe zu prüfen. Ungewollte, vorzeitige Schirmöffnungen können nicht nur Fallschirmspringer das Leben kosten, sondern auch Mitspringer gefährden und haben schon ganze Flugzeuge zum Absturz gebracht. Es geht um Leben und Tod und jede Menge Spass. Diese eigentümliche Mischung fasziniert mich immer wieder.

Ich liebe diese intensive Situation, kurz vor dem Exit. Fast mehr noch als den Freifall, bei dem wir gemeinsam Richtung Erde rasen. Beim «Tracking» fliegen wir gemeinsam eine zuvor abgesprochene Kurve. Wir nehmen mit unseren Körpern eine Haltung ein, die an ein Flugzeug erinnert und können so nicht nur einfach fallen, sondern nehmen auch richtig Vorwärtsfahrt auf. Ich komme mir oft vor wie in einer Kampfjet-Formation. Es gilt die Regel, dass man nah genug am anderen fliegt, wenn man sein Lächeln sieht. Wann sonst kann man einem Kumpel bei 250 Stundenkilometern einen High-Five gegeben? Und dabei legen wir richtig Strecke zurück; als ich es zu Beginn damit übertrieb, flog ich bis zur Kirche des Nachbarortes. Als ich meinen Schirm öffnete, wusste ich, dass ich keine Chance hatte zurückzufliegen, begann sofort die Suche nach einem alternativen Landeplatz und führte meine erste erfolgreiche Aussenlandung durch. Kuhfladen inklusive.

Momente der Wahrheit

Natürlich ist auch der Moment der Schirmöffnung immer speziell. Ich greife nach hinten, umfasse den Griff und werfe ihn in den mich umgebenden Wind. Am Griff ist eine Miniaturversion des Fallschirms angenäht, die sich mit Luft füllt und mit über 30 Kilogramm Zugkraft den Pin aus meinem Gurtzeug zieht, der meinen Fallschirm sicher verstaut hielt. Der Minifallschirm zieht weiter und holt den gefalteten Schirm aus der jetzt offenen Packung. Während sich die Kammern des Hauptschirms mit Luft füllen, werde ich unsanft von meiner Flugposition aufgerichtet und hänge schliesslich am geöffneten Schirm. Der ganze Prozess dauert etwa vier Sekunden, bei denen ich rund 200 Höhenmeter verliere. Das von Laien oft befürchtete Szenario vom sich nicht öffnenden Fallschirm gibt es eigentlich nicht. Man müsste eine ganze Reihe von Fehlern machen, damit sich weder der Hauptschirm noch die Reserve öffnet. Doch schlechte Öffnungen, die gibt es durchaus. Statistisch kommt es bei einer von Tausend Öffnungen zu einer Fehlfunktion, und die sind oft schlechter, als wenn sich der Schirm gar nicht öffnen würde. Vom einfachen Twist, bei dem sich die Leinen zwischen Gurtzeug und Fallschirm verdrehen, über den sehr unangenehmen Leinenüberwurf bis zum gefürchteten Hufeisen haben alle Fehlfunktionen etwas gemeinsam; es wird hektisch.

Alle Springer haben den Umgang mit diesen Szenarien geübt und sollten in der Lage sein, schnell zu erkennen, welches Problem vorliegt und was zu tun ist, um sicher landen zu können. Doch zwischen Himmel und Erde ist alles anders, hier ist nicht nur das Wissen entscheidend, sondern vor allem das, was wir «Kapazität» nennen: Die Fähigkeit, wohlbekanntes Wissen in einer extremen Stresssituation zu erinnern und umzusetzen. Erkenne ich das Problem mit meinem Hauptschirm? Kann ich das Problem schnell genug lösen oder greife ich auf meine letzte Option zurück und leite das Notschirmprozedere ein? Diese Entscheidungen müssen getroffen werden, während der instabil geöffnete Schirm enorme G-Kräfte entwickelt und mit atemberaubender Geschwindigkeit nach unten dreht. Wer solche Situationen aus sicherer Distanz miterleben möchte, findet unter dem Stichwort «Friday Freakouts» viele spannende YouTube-Videos solcher Situationen.

Spätestens auf 500 Metern über Grund muss die Entscheidung gefällt sein: Kann ich das Problem mit dem Hauptschirm lösen oder werfe ich ihn ab und ziehe den Reserveschirm? Wer unter 300 Metern über Grund noch zu schnell fällt, wird von einem Mini-Computer gerettet, der konstant Höhe und Fallgeschwindigkeit misst, nötigenfalls bei der eingestellten Höhe mit einer kleinen Sprengladung den Pin der Reserve löst und so den Notschirm automatisch öffnet. Selbst wer bei einem Zusammenstoss das Bewusstsein verliert, landet deshalb an einem offenen Schirm. Wie und wo ist dann natürlich eine andere Frage. Diese Öffnungsautomaten haben schon Tausenden Springern das Leben gerettet. Doch wer zu lange mit einer Fehlfunktion des Hauptschirms hadert, riskiert das Szenario, das ich am meisten fürchte: An zwei geöffneten Schirmen zu hängen, weil die Fallgeschwindigkeit am schlecht geöffneten Schirm so hoch war, dass der Öffnungsautomat die Reserve rausgeschossen hat. Zwei offene Schirme sind nicht doppelt sicher, sondern eine brandgefährliche und schwer zu kontrollierende Situation, die oft tödlich endet. Doch die meisten tödlichen Unfälle beim Fallschirmsport ereignen sich unter einem perfekt geöffneten Schirm aufgrund menschlichen Versagens; meist sind es falsche Manöver in geringer Höhe.

Statistik und Urvertrauen

In gewisser Weise sind alle dies Szenarien immer mit dabei, in jenem Moment auf 4000 Metern, wenn wir die Tür öffnen und sich die Stimmung so schlagartig ändert. Vor anderthalb Jahren machte ich die Ausbildung zum Fallschirmspringer, mittlerweile habe ich etwas über 300 Sprünge in meinem Logbuch. Bleiben theoretisch noch 700 bis zur statistischen ersten «Malfunction». Weshalb springe ich aus dem Flugzeug, trotz aller unbestrittenen Risiken? Natürlich hat das mit Vertrauen zu tun: Vertrauen in das hochentwickelte Qualitätsmaterial und Vertrauen in mich, dass ich in den entscheidenden Sekunden die richtigen Entscheidungen fällen werde. Aber es ist ein noch tieferes, noch grundlegenderes Vertrauen, nicht eines, das mich glauben lässt, dass mein Überleben garantiert ist. Sondern eines, welches mein Überleben nicht voraussetzt. ♦

von Michael Bubendorf


Hat dir der Artikel gefallen? Dann bestelle jetzt ein Abo in unserem Shop.

Deine Meinung ist uns wichtig: Teile dich mit und diskutiere im Chat mit unseren Lesern.

Teile diesen Beitrag mit deinen Freunden