Uns ist etwas aufgegeben – nur was?
Die Welt ist im Umbruch. Immer mehr Menschen spüren, dass in dieser Zeit, die so viele Irrungen und Wirrungen mit sich bringt, eine Aufgabe steckt. Aber was ist eigentlich damit gemeint?
Im Gespräch mit einer Frau, nennen wir sie Marie. Sie sagt, sie wisse, dass sie in «dieser Zeit» gebraucht werde. Sie müsse nun denen Mut machen, die Angst hätten. Als «diese Zeit» begann, als immer mehr Menschen der Corona-Panik verfielen, gab es zugleich solche, die sich nicht beirren liessen. Marie gehört dazu. Der Ausnahmezustand war sogar etwas, das, im beflügelnden Sinne, Aufbruch bedeutete. Plötzlich war da ein Sinn, den es so vorher nicht gegeben hatte.
Verlangt «diese Zeit» das vielleicht von uns allen, dass wir darin etwas erkennen, was man mit «meine Aufgabe» oder gar mit «unsere Aufgabe» übertiteln könnte? Kann es Letzteres überhaupt geben? Dass ein Einzelner sich zu etwas berufen fühlt, ist seine ureigenste Angelegenheit, nach der er sich entsprechend ausrichtet. Aber wie regelt das ein Kollektiv? Und zwar ohne dass jemand Anweisung gibt? Denn das wäre die Voraussetzung, oder etwa nicht, sich von dem einen zu befreien, der «es weiss»; sich also herauszulösen aus hierarchischen Strukturen. Ob die Ausgangsbasis, die zu schaffen wäre, um «unsere Aufgabe» anzugehen, bereits die Erfüllung derselben ist?
Uns ist etwas aufgegeben. Die Frage, die sich anschliesst: Wer will da etwas von uns? Etwa ein Gott ? Das setzt seine Existenz voraus, die nicht zu beweisen ist, und die man glauben kann – oder nicht. Leider kann einem sogenannten Gott alles Mögliche untergejubelt werden. In seinem Namen wurden auch Kriege geführt und Menschen getötet.
«Unsere Aufgabe» aber will hell ausgekleidet sein. Darum wussten freilich alle, die im Laufe der Menschheitsgeschichte zu Gräueltaten anzettelten. Wer das Propaganda-Einmaleins beherrscht, dem ist klar, dass man mit der Mission, anderen schaden zu wollen, schwerlich Massen hinter sich versammeln kann. «Unsere Aufgabe» muss also leuchten, selbst wenn sie eigentlich tief in den Abgrund führt. Die Schriftstellerin Marie von Ebner–Eschenbach erkannte daher richtig: «Es würde viel weniger Böses auf Erden getan, wenn das Böse niemals im Namen des Guten getan werden könnte.»
Wie sicherstellen, dass «unsere Aufgabe» gegen Irrtum immun ist? Wie können wir Gewissheit haben, dass das Gute, das wir meinen, nicht auch seine bösen Nebenwirkungen hat? Wer überhaupt definiert das eine wie das andere?
Es stimmt, dass der Mensch, wie es in Goethes «Faust» heisst, «irrt, solang‘ er strebt». Er wird sich, egal, wonach er sich streckt, immer auch der Anfälligkeit aussetzen, sich zu täuschen. Auch über sich selbst. Da wäre die eigene Eitelkeit, für die man gerne blind ist. «Unsere Aufgabe» schmeichelt uns; die Verführung, sich für die Retter zu halten, ist nicht unerheblich. Dass «unsere Aufgabe» mich braucht, kann schnell verwechselt werden mit: Ich brauche «unsere Aufgabe». Um mich gut zu fühlen. Besser als andere, erleuchteter.
Der lauernde Trug, die zahlreichen Fallstricke sollen uns nicht abhalten, im Gegenteil. Nun kommt es darauf an, wie viel Vertrauen wir haben. In uns. In andere. Die Welt ist im Umbruch, wir sind im Aufbruch. Gewiss ist, dass wir leben. «Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will», formulierte es der grosse Denker Albert Schweitzer. Was bedeutet das in aller Konsequenz? Und wenn das «unsere Aufgabe» wäre, was hiesse das? ♦
von Sylvie-Sophie Schindler
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Sylvie-Sophie Schindler ist philosophisch und pädagogisch ausgebildet und hat über 1500 Kinder begleitet. Als Journalistin begann sie bei der «Süddeutschen Zeitung», danach war sie als Reporterin für zig Magazine tätig. Aktuell publiziert sie unter anderem bei der «Weltwoche». Sie ist Trägerin des Walter-Kempowski-Literaturpreises. Mit ihrem YouTube-Kanal «Das Gretchen» setzt sie sich für den guten Dialog ein.
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