
Jesus war ein Anarchist
Ein entscheidender Faktor bei der Kontrolle der Gesellschaft ist die Vorstellung, dass die Herrschaft von Menschen über Menschen gerechtfertigt ist. Früher rechtfertigten Monarchen ihren Herrschaftsanspruch damit, dass sie von Gott eingesetzt worden wären und zogen die Bibel als Begründung heran. In Wirklichkeit war Jesus jedoch ein Anarchist.
Seit der französischen Revolution wird der Herrschaftsanspruch gewählter Politiker mit dem von Jean-Jacques Rousseau postulierten Gesellschaftsvertrag begründet. Dabei sollte unmittelbar einsichtig sein, dass ein Vertrag nur für denjenigen gelten kann, der ihn freiwillig unterschreibt. Die Fiktion des Gesellschaftsvertrages war nötig geworden, weil ja die Monarchie abgeschafft wurde und die Monarchen sich als von Gott eingesetzt betrachteten. Aber schon das war eine Fiktion, die aus der Bibel gar nicht zu begründen ist.
Schon das bekannteste Regelwerk in der Geschichte der Menschheit schliesst die Existenz eines Staates aus. Im siebten Gebot des Dekalog wird der Diebstahl verboten und im neunten und zehnten Gebot sogar der Neid, der die Grundlage von Diebstahl ist.
Nirgends heisst es in den zehn Geboten, dass es einer bestimmten Gruppe von Menschen — seien es Politiker, Staatsbeamte oder Kommissionen — erlaubt wäre, zu stehlen, also zu besteuern. Dem wird gerne entgegengehalten, in den zehn Geboten würde ein Staat als existent vorausgesetzt. Weit gefehlt: Moses überbrachte laut kirchlicher Darstellung die zehn Gebote nach der Befreiung des israelischen Volkes aus der ägyptischen Herrschaft (Exodus 19–23). Diese Zeit markiert den Beginn der «Richterzeit», eine staatenlose Gesellschaft, die über 250 Jahre (1250 bis 1000 vor Christus) bestand und vor deren Beendigung Gott laut Bibel explizit gewarnt hatte.
Etwa 250 Jahre nach der Übergabe der zehn Gebote warnt Gott die Israeliten eindringlich und völlig eindeutig davor, sich einen menschlichen Herrscher zu wählen, wie das Buch Samuel in Kapitel 8 berichtet. Als Samuel alt geworden war, setzte er seine Söhne als Richter ein, die aber das Recht beugten, woraufhin die Ältesten die Einsetzung eines weltlichen Herrschers verlangten. Samuel sprach mit Gott, der eindrücklich davor warnte, was ein König tun würde:
14 Eure besten Äcker und Weinberge und Ölgärten wird er nehmen und seinen Grossen geben. 15 Dazu von euren Kornfeldern und Weinbergen wird er den Zehnten nehmen und seinen Kämmerern und Grossen geben.
Selbst eine Steuer von zehn Prozent erschien Gott also zu hoch! Auch das Neue Testament ist ein einziges Plädoyer für eine staatenlose Gesellschaft. Auf Betreiben der Sadduzäer kamen die Apostel in ein staatliches Gefängnis. Nachdem die Apostel befreit wurden und weiter ihr Werk verrichteten, kamen die Apostel erneut vor den Hohen Rat und wurden von Priestern verhört. Die Apostel verteidigten sich so (Apg 5, 29):
Petrus und die Apostel antworteten: Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.
Die Stelle ist eindeutig: Gottes Gebote zählen mehr als menschliche Herrschaft! Mehr noch, die Apostel verweisen auf ein Ereignis, das die wohl deutlichste Staatskritik enthält, die je formuliert wurde (Apg, 5,30):
Der Gott unserer Väter hat Jesus auferweckt, den ihr ans Holz gehängt und ermordet habt. 31 Ihn hat Gott als Anführer und Retter an seine rechte Seite erhoben, um Israel die Umkehr und Vergebung der Sünden zu schenken.
Die Kreuzigung Jesu enthält nicht nur eine Kritik am Staat, sondern auch deutliche Kritik an demokratischen Mehrheitsentscheidungen. Pontius Pilatus liess nämlich das Volk über das Schicksal Jesu entscheiden!
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Oliver Janich ist investigativer Journalist. Er hat mit Springer (Euro am Sonntag), Burda (Focus Money), Bertelsmann (Financial Times Deutschland) und Süddeutsche Zeitung für die grössten deutschen Verlage geschrieben.
Sein neustes Buch «Das offene Geheimnis» (512 Seiten, AGE Verlag) ist 2025 erschienen.
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