Ein Ticket für verbotene Kunst
Eindrücke aus dem Musical «Shen Yun»
In unserer Redaktion flattert so manche Post durch den Briefkastenschlitz. Von Werbebroschüren für Kugelschreiber oder Verpackungsmaterial bis zu Büchern. Eine Broschüre für das Musical «Shen Yun» lag bereits auf dem Altpapierstapel. Ein Blick zurück machte mich neugierig: «Verbotene Volkskunst wird wiederbelebt.» Mit verbotenen Inhalten ist man bei mir an der richtigen Adresse: Die Broschüre schaffte es zurück auf meinen Schreibtisch. Zehn Minuten später waren zwei Karten reserviert.
Das Musical Theater Basel ist bis auf den letzten Platz besetzt. Das Publikum lauscht gebannt den ersten Klängen des Orchesters und lässt sich durch die farbenfrohe Kleiderpracht und die artistische Tanzchoreografie verzaubern und in eine andere Welt entführen.
Hier werden wir nun in die Geschichte der Unterdrückung der über 5000-jährigen Volkskunst Chinas eingeweiht. In China sind die Ausübung und die Vorführung dieses fantastischen Kulturerbes verboten. Weshalb, ist mir noch etwas schleierhaft. Ist die Kulturrevolution noch nicht überwunden? Auch wenn das kommunistische China nach wie vor repressiv geführt wird – Shows sind doch möglich …
Nebst atemberaubenden Bühnenbildern und ästhetischer Perfektion lassen mich die Inhalte der einzelnen Programmstücke aufhorchen: Dramatische Inszenierungen aus Kriegs- und Kaiserzeiten wechseln sich mit verschiedenen Volkstänzen von ethnischen Minderheiten, wie beispielsweise der Mandschuren, der Tibeter oder Mongolen ab. Nebenbei überrascht eine moderne 3D-Bühnentechnik. Figuren, die über die Leinwand schweben, stehen plötzlich auf der Bühne oder umgekehrt. Auch der Humor kommt nicht zu kurz. Ein dem Alkohol zugeneigter Mönch führt seinen Meister hinters Licht und trickst mit seiner eigensinnigen Art die halbe Stadt aus. Sein Schalk mag manchem Zuschauer ein Lachen abgewinnen. Doch nun wird es ernst: In der nächsten Szene wird der Kommunismus in seiner brutalsten Form dargestellt und das grosse Verbrechen aufgezeigt. Nun meine ich zu verstehen, warum das Musical in rund 20 Ländern, aber auf keinen Fall in China aufgeführt werden kann.
In einem Park wird ein Mädchen von ihrer Mutter mit dem Geschenk eines selbstgenähten Schals überrascht. Der Vater möchte den Moment der Glücklichen mit der Kamera festhalten. Dankbar setzen sich die beiden hin, um Meditationsübungen zu praktizieren, die auf den Werten von Wahrhaftigkeit, Barmherzigkeit und Nachsicht basieren.
Wird hier die Kulturrevolution zu Maos Zeiten inszeniert?
Doch da tauchen schwarz gekleidete Männer mit Stöcken auf. Auf ihren Rücken prangen rot Hammer und Sichel, das Parteizeichen der KPCh. Mutter und Tochter werden verhaftet. Im Gefängnis werden sie voneinander getrennt. Die Tochter wird getötet; ihre Organe werden zur Spende freigegeben.
Ich frage mich, ob zu Maos Zeiten in den 1960er-Jahren Organspende schon praktiziert wurde oder ob meine historische Einschätzung gerade durcheinandergeraten ist. Eine Recherche zum Thema lässt mich verstört zurück: Politische Gefangene in China sollen als lebende Organlager nach Bedarf hingerichtet werden, um den Transplantationsmarkt Chinas, auf dem grosse Nachfrage herrscht, pünktlich zu beliefern. Der gruselige, ja abstossende Vorwurf wird durch internationale Berichte gestützt; in der führenden medizinischen Fachzeitschrift The Lancet finden sich Publikationen zur «Organernte von exekutierten Gefangenen in China». Die chinesischen Behörden bestätigen selbst, dass «die meisten Organe von Leichen exekutierter Gefangener stammen». Zwar hat die chinesische Regierung versprochen, diese mörderische Praxis zu beenden, doch bis heute werden Berichten zufolge in China Gefangene für Organspenden systematisch hingerichtet. Opfer dieser Praxis seien insbesondere politische Gefangene und Angehörige ethnischer Minderheiten.
Der Kontext erschliesst sich mir durch die Ansage, in der betont wird, dass die Verfolgung von Menschen, die meditieren, auch heute noch an der Tagesordnung sei. Diese Szene bildet also die aktuelle Lage ab. Das Programmheft klärt auf: Bei den Meditierenden handelt es sich um Anhänger von «Falun Dafa». Hinter dem Musical-Ensemble «Shen Yun» steht Falun Gong.
Diese spirituelle Bewegung wurde 1992 in China gegründet und ist auch als Falun Dafa bekannt. Ihre Anhänger praktizieren Meditationsübungen, die aus dem Qigong abgeleitet sind. Der Gründer der Bewegung lebt heute in den USA. Nach der Gründung von Falun Gong durch Meister Li Hongzhi in China wurde die Bewegung von der chinesischen Regierung zunächst sogar gefördert. Doch Mitte der 1990er-Jahre drehte der Wind, die KPCh begann, Falun Gong aufgrund ihrer Mitgliederzahl, ihrer Unabhängigkeit vom Staat und ihrer spirituellen Lehre als Bedrohung anzusehen. Im April 1999 erreichten die Spannungen ihren Höhepunkt, als sich über 10’000 Falun-Gong-Praktizierende friedlich auf dem Gelände vor der Zentralregierung in Peking einfanden, um für rechtliche Anerkennung und Freiheit von staatlicher Einmischung zu appellieren. Dieses später als «Demonstration» bewertete Ereignis wird weitläufig als Katalysator der darauffolgenden Verfolgung angesehen. Manche meinen jedoch, dass es von der KPCh arrangiert worden sein könnte, um die Verfolgung zu rechtfertigen. Es folgten Zensur, Hetzkampagne, Verbot.
Der Vorwurf: Störung der sozialen Ordnung
Ein Ziel der KPCh war und ist es vermutlich immer noch, Falun Gong auszurotten. Falun-Gong-Praktizierende werden in China massiv verfolgt und von der chinesischen Regierung oft gezielt als Opfer der «Organernte» ausgewählt, wie Reuters berichtet. Seit Beginn der Verfolgung um 1999 begannen die Anhänger, aktiv ihre Menschenrechte in China einzufordern. So erwuchs eine weltweite Bewegung mit einer geschätzten Mitgliederzahl im zweistelligen Millionenbereich. Sie ist im Exil zu einer mächtigen Stimme gegen die kommunistische Partei geworden.
In meiner Recherche über Falun Gong stiess ich auf drei SRF-Beiträge aus den Jahren 1999 und 2005. Im ältesten wird bereits ins Feld geführt, Falun Gong sei eine Sekte. Man rate mal, wer der Experte ist, der vor gefährlichen Tendenzen warnt – es ist der altbekannte Georg Schmid, der auch Menschen, die die Corona-Politik hinterfragen, in die Nähe von Sekten, Gewalt und Pathologie rückt. Ein weiterer «Experte» betont, dass die Verfolgung einzelner Falun-Gong-Anhänger nicht nur dem repressiven Regime in China zuzuschreiben sei – während Bilder gezeigt werden, wie die Schriften von Li Hongzhi massenweise zerstört werden. Ich schlucke leer – die Diffamierung von Andersdenkenden schien auch in diesem Fall schon relativ opportun gewesen zu sein. Dann betont der Sinologe Thomas Fröhlich von der Uni Zürich doch noch: Tatsache sei, dass die Toleranz gegenüber Falun Gong in vielen Staaten grösser sei als in China. Die Vorwürfe an Falun Gong bleiben seltsam nebulös; so wird beispielsweise die Verweigerung von bestimmten medizinischen Behandlungen als eine Form von Selbstmord kritisiert.
Ja, Falung Gong ist eine spirituelle Bewegung und macht daraus auch keinen Hehl. Sie verbindet Daoismus mit buddhistischen Praktiken und ihre Anhänger glauben – wie bei den meisten Religionen – an eine grosse Erlösung. So wird im Musical «Shen Yun» ein Sologesangsstück aufgeführt, dessen Übersetzung auf der Leinwand eingeblendet wird:
«Die Welt in Aufruhr, den Menschen einer Prüfung gleich, im Chaos erlösen Gottheiten die Gutherzigen zurück ins Himmelsreich. Nicht an Gottheiten zu glauben, stellt modernes Denken dar, da Atheismus und Evolutionstheorie eine reine Täuschung ist …»
In der Pause erinnere ich mich an die Bücher von Tiziano Terzani. Er lebte ab 1975 mehrere Jahre in China und war Asiens Auslandskorrespondent für den Spiegel. Schon vor Maos Tod reiste er von Singapur aus regelmässig zur Grenze Chinas und berichtete aus erster Hand über die Gräueltaten der Kulturrevolution. Eindringlich schilderte er das unermessliche Elend und die Zerstörung des kulturellen, geistigen, menschlichen Erbes Chinas.
Ein Strohhalm aus Überlieferungen inmitten der kulturellen Verwüstung?
Alles, was kulturelle Anbindung und Verwurzelung bot, wurde damals ausgelöscht. Ist die Bewegung Falun Dafa ein Strohhalm aus Überlieferungen zerstörten Kulturguts? Ist «Shen Yun» die Frucht aus dem Samen, der in der Asche der Zerstörung überdauerte?
Jedenfalls bringt sie eine beeindruckende Vielfalt künstlerischen Ausdrucks chinesischer Traditionen auf die Bühne. 24 Jahre nachdem in der Schweiz erstmals über diese Bewegung berichtet wurde, ist sie schon fast im Mainstream angelangt. Das Musical zieht mit seinen vier Aufführungen rund 6000 Besucher nach Basel in den Theatersaal.
Die letzte Szene von «Shen Yun» zeigt deutlich die heutige Situation in China: Menschen an ihren Handys irren wie Marionetten umher. Die KP-Spitzel lauern überall. Eine Gruppe von meditierenden und tanzenden und sich umarmenden Menschen werden mit Knüppeln zu Boden geprügelt. Im gleichen Atemzug tauchen auch die Vollstrecker der Null-Covid-Strategie auf. Sie agieren Hand in Hand mit den Regimeinformanten. Von der Leinwand her rollt apokalyptisch eine Sintflut auf die Geschundenen auf der Bühne heran. Da tritt ein Mönch auf: Er strahlt das Licht der Liebe aus und hält damit den drohenden Untergang auf – das ist der Beginn des Goldenen Zeitalters.
Unterdrückung, Denunziation, Gesundheitstotalitarismus, Polizeigewalt gegen friedlichen Protest; all dies haben wir in den letzten drei Jahren auch bei uns der Schweiz erlebt. China ist heute überall und viele Politiker sehen die Kommunistische Partei als Vorbild: Justin Trudeau, Premierminister von Kanada, brachte seine Bewunderung für die Diktatur Chinas öffentlich zum Ausdruck und auch die Regierung in der Schweiz findet immer grösseren Gefallen an autokratischem Handeln, Notverordnung und der Umgehung demokratischer Prozesse. Die totalitäre Politik der Kommunistischen Partei Chinas wurde zum internationalen Exportschlager. Wir werden sie überwinden müssen, damit das «Goldene Zeitalter» anbricht. Denn ich befürchte, dass da kein Mönch kommen wird, um das für uns zu erledigen.
Die Zuschauer quittieren die Aufführung mit Standing Ovations. Ich bin mir nicht ganz schlüssig: Klatschen wir zum kommenden Neuanfang? Oder zum wachsenden Bewusstsein über die staatlichen Verbrechen? Und insgeheim frage ich mich: Wann überführen wir die westlichen Verbrechen auf der Weltbühne? ♦
von Prisca Würgler
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